Hört euch das mal an

Ideologie In Zeiten der Pandemie findet die These immer mehr Zuspruch, die politische Unterscheidung zwischen Links und Rechts sei hinfällig. Dabei ist sie jetzt wichtiger denn je
„Wer links und rechts nicht unterscheiden kann, der kann was erleben, mannomannomann!“
„Wer links und rechts nicht unterscheiden kann, der kann was erleben, mannomannomann!“

Foto: imago images / imagebroker

Im Repertoire von Rolf Zuckowski, der als Kinderliedbarde bekannt wurde, gibt es einen Song mit dem unscheinbaren Titel Links und Rechts. Er soll Orientierungshilfe bieten für die Kleinsten, denen die Unterscheidung schwerfällt: „Wer Links und Rechts nicht unterscheiden kann, der kann was erleben, hört euch das mal an!“ Der Vers hätte auch als dunkle Ahnung funktioniert, etwa zur Vorhersage der vielfältigen, diffusen und politisch schwer einzuordnenden Masse an „Querdenkern“, die sich in letzter Zeit zu den sogenannten Corona-Demonstrationen versammelt und an der sich selbst die klügsten Stimmen des Journalismus die Zähne ausbeißen. Sind diese Leute nun links oder rechts?

1994 lieferte der italienische Philosoph Norberto Bobbio in seinem Essay Rechts und Links. Gründe und Bedeutungen einer politischen Unterscheidung diese Definition: „Linke sehen Menschen eher gleich als ungleich, Rechte sehen Menschen eher ungleich als gleich.“ Wer das als Kompass nimmt, wird unter den „Corona-Demonstranten“ viele Linke und viele Rechte finden. Wem in diesem Kuddelmuddel nun nichts Originelleres einfällt als „Alles Nazis!“, der gibt sich jener Vereinfachung hin, die auch das – nennen wir es aus Kulanz einmal: Denken der Gegenseite steuert, wenn von dort „Gleichschaltung“ und „Meinungsdiktatur“ beklagt werden. Wer sagt: „Da die Leute sich nicht darum scheren, mit wem sie demonstrieren, sind sie zumindest rechtsoffen“, dem liegt wohl deutlich mehr daran, durch die Abwertung der anderen sich selbst in ein besseres Licht zu rücken als daran, ein komplexes soziales Phänomen zu verstehen.

Je mehr Rastalockenträgerinnen und Eine-Welt-Laden-Freunde kein Problem damit haben, dass direkt neben ihnen im Demo-Block die Reichsflaggen wehen, umso stärker drängt sich die entscheidende Frage auf, wie es nur so weit kommen konnte. Eine mögliche Antwort liegt in einer Gesellschaftsdiagnose, die in der aktuellen Pandemie so evident wird wie lange nicht mehr: Weil seit Jahrzehnten die herrschende Meinung besagt, die Industriestaaten hätten ein postideologisches Zeitalter erreicht, leben wir heute in einem hyperideologischen Zeitalter.

Bürgerliche Querfront

Corona ist ein Virus, bei dem es vordergründig nicht um Links und Rechts geht, nicht um Fragen nach starkem oder schwachem Staat, auch kaum um den Kampf um mehr oder weniger „Steuerlast“. Es geht der Politik in erster Linie um die scheinbar ideologiefreie Aufgabe, möglichst viele Menschen vor einer Erkrankung zu schützen und eine Überlastung des Gesundheitssystems zu verhindern. Und dennoch zeigen die vergangenen Monate, dass Links und Rechts sehr wohl eine zentrale Rolle spielen, denn es gibt mehr als einen Weg der Pandemiebekämpfung – vor allem, wenn es sich um ein Virus wie Covid-19 handelt, über das die Wissenschaft noch relativ wenig gesichertes Wissen vorweisen kann.

Zwischen Home-Office-Elite mit Eigenheim-Garten und alleinerziehenden Müttern in Zwangskurzzeit mit Zweizimmermietwohnung, zwischen materiell begünstigten und ökonomisch benachteiligten Schulkindern, zwischen mies entlohnten „Systemrelevanten“ und reich belohnten „Bullshit-Jobbern“ vergrößern sich derzeit soziale Ungleichheiten, die zuvor im Palaver um „unsere soziale Marktwirtschaft“ kaum beachtenswert erschienen. Die Proteste richten sich zum Teil gegen die solche Ungleichheiten vertiefende Corona-Politik. Wenn dort ausgerechnet die Linke fehlt, dann ist die logische Folge, dass immer mehr Menschen das Gerede von der postideologischen Zeit glauben und keinen Unterschied mehr erkennen zwischen Links und Rechts.

Schon länger gewinnt die These immer mehr Anhänger, diese in früheren Zeiten zentrale politische Unterscheidung sei nicht mehr zeitgemäß. Spätestens seit Anfang der neunziger Jahre gehört es im politischen Mainstream zum guten Ton, eine Perspektive Jenseits von Links und Rechts (so der Titel einer Programmschrift des britischen Soziologen Anthony Giddens, der sich als Vordenker der britischen Sozialdemokratie einen Namen gemacht hat) einzunehmen und gegen sämtliche Stimmen rhetorisch hart zu Felde zu ziehen, die nicht bereit sind, die Gegenwart als Ära einer „Klassengesellschaft ohne Klassen“ zu bezeichnen.

Diesem Spin haben die linken Kräfte seit dem Ende der Sowjetunion so wenig entgegengesetzt, dass sie seit Jahren nur noch damit beschäftigt sind, das herrschende Falsche als „im Grunde gut“ zu verteidigen im Angesicht der drohenden Regression von Rechtsaußen. Wenn sich – wie spätestens seit der sogenannten Flüchtlingskrise 2015 – bis weit in die Linkspartei hinein hochrangige Leute als Angela-Merkel-Fans outen zu müssen meinten, dann kann niemanden verwundern, wenn jene ohne größere Probleme neben Verschwörungsideologen und Rechten demonstrieren, die eine Querfront der bürgerlichen Mitte rechts liegen lässt.

Twitter-Planierraupe

Als 2004 vor allem in Ostdeutschland sich Massenproteste gegen die Agenda 2010 erhoben, spotteten Neoliberale gemeinsam mit Sozialdemokraten und Grünen, die Kritik am Umbau des Sozialstaats sei nichts als konservative Besitzstandswahrung. Mittlerweile stauen sich alle in der politischen „Mitte“, kaum jemand will an den Rändern verweilen. Die auf Vertiefung der sozialen Ungleichheit zielende (und damit nach Bobbio eindeutig rechte) Politik der vergangenen Jahrzehnte wurde unter dem Label „Modernisierung“ vor allem von der SPD verantwortet; Grüne und die Piratenpartei schrieben sich bereits den Slogan „Nicht rechts, nicht links, sondern vorne!“ auf die Fahnen; Emmanuel Macron führte den Präsidentschaftswahlkampf 2017 in Frankreich gegen seine rechte Kontrahentin Marine Le Pen vor allem mit der Ansage, er sei weder links noch rechts. Seine nach dem Wahlsieg durchgesetzte Sozialpolitik lässt sich nach Bobbio klar als rechts deklarieren.

Heute, da der Kampf gegen ökonomische Ungleichheit im Parlament und auf der Straße kaum mehr durchdringt, entdecken die Rechten diesen Umstand als strategischen Vorteil. Zum einen stimmen sie in den „Wir sind alle Mitte“-Chor ein. Der langjährige SPD-Politiker Thilo Sarrazin (Deutschland schafft sich ab) etwa wehrt sich gegen Rassismus- und Klassismus-Vorwürfe so: „Die meisten Themen lassen sich nicht mehr im herkömmlichen Links/Rechts-Schema einordnen.“ Die vorwiegend aus Neonazi-Hipstern bestehende Identitäre Bewegung bedient sich bei den Grünen und ruft: „Nicht rechts, nicht links, sondern identitär!“ Zum anderen vermischen Rassemblement National in Frankreich, die AfD in Deutschland oder US-Präsident Donald Trump linke und rechte Positionen – um dann freudig in bürgerlichen Medien gegen Linke gerichtete Kommentare lesen zu können, wonach Rechte linke Codes verwenden und das Ende jeder Differenz zwischen den Lagern damit ja wohl bewiesen sei.

Für einen Tiefpunkt sorgte kürzlich die Twitter-Planierraupe Ulf Poschardt. In einem Tweet stellte der Chefredakteur der konservativen Welt seine neue Mitarbeiterin Stefanie Unsleber vor (richtig, das ist die Journalistin, die 2019 in der linksliberalen taz in der Debatte um den Mietendeckel über ihre bettelarmen Freunde mit Eigentumswohnungen in Berlin schrieb), mit diesen Worten: „Unsere neue Reporterin hat sich im Grunewald angesehen, wie linke Aktivisten dort weitermachen, wo die Nationalsozialisten arisiert haben.“

Hier setzt also ein mächtiger Journalist den Terror der Nazis mit dem Wunsch nach grundgesetzkonformer Vergemeinschaftung von Wohnraum gleich, um seine Ideologie kapitalistischen Eigentums zu rechtfertigen. Das ist nicht einfach nur die Strategie eines Berufsprovokateurs. Sie reicht bis in den Staatsapparat. Wer sich davon ein Bild machen möchte, muss nur einen Blick in die jährlichen Verfassungsschutzberichte werfen, in denen „Linksextremismus“ und „Rechtsextremismus“ als zwei Seiten derselben Medaille behandelt werden, obwohl die dort aufgeführten Zahlen belegen, dass Deutschland zwar ein Problem mit dem Rechtsterrorismus hat, ganz sicher aber keines mit ausufernder „linker Gewalt“.

Unsere Demokratie!

Weil das Bürgertum aus strategischen Gründen „die Linken“ und „die Rechten“ für so ziemlich gleich gefährlich für „unsere Demokratie“ zu halten vorgibt, können Rechte die Ungleichheitsfrage für sich beanspruchen und Bobbios Definition konterkarieren. Natürlich nicht im klassenpolitischen Sinn eines Oben und Unten, denn – so wird es jedem Schulkind seit vielen Jahren eingetrichtert – es gibt ja in „unserer sozialen Marktwirtschaft“ angeblich kein eindeutiges Oben und Unten mehr. Also stürzen sich die Rechten auf Wir/Sie-Ungleichheiten, die sich auf die Frage nach Drinnen und Draußen kaprizieren.

In einem sozialen Klima, das kein Rechts und kein Links mehr kennt, muss in Fragen von Klimakatastrophe, Flucht und Krieg niemand mehr einen Zusammenhang herstellen zu globalen Vermögens- und Eigentumsverhältnissen. Neoliberale Thinktanks haben den Menschen über Dekaden hinweg die Illusion eingehämmert, „wir“ seien eine Wirtschaftsgemeinschaft, die nach streng leistungsgerechten Kriterien funktioniere und im harten, aber fairen Wettbewerb gegen die Konkurrenz von außen verteidigt werden müsse. Daraus entwickelten sich Standortnationalismus und Egoismus, die in der breiten Bevölkerung angekommen sind und sich in den derzeit ratlos machenden Protesten niederschlagen.

Die Arbeiterklasse ist zerstückelt in eine noch halbwegs abgesicherte Fraktion der sich vor dem sozialen Absturz retten Wollenden sowie wild nach unten Tretenden einerseits und einer verachteten Unterklasse andererseits. Die „Corona-Demonstrationen“ sind ebenso wie Brexit, Trump oder AfD ein Problem, das der gesellschaftlichen „Mitte“ entsprungen ist. Sie lassen sich nicht mit Spott und Hass lösen, sondern mit Empathie und ebenso konkreten wie glaubwürdigen Politikangeboten. Wenn unter den Kritikerinnen der Corona-Maßnahmen weiterhin die linken Stimmen fehlen, die die Debatte auf die ökonomischen Folgen der Krise und die Etablierung einer sozial gerechteren Normalität nach der Pandemie lenken, dann wird Rolf Zuckowski recht behalten, wenn er in seinem Kinderlied singt: „Wer links und rechts nicht unterscheiden kann, der kann was erleben, mannomannomann!“

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