Im Kreislauf der Ausbeutung

Service Schattenarbeit macht den Kunden zum Gratis-Dienstleister an sich selbst. Freie Zeit schwindet, Stress steigt. Also werden unterbezahlte Hilfskräfte gebraucht
Ausgabe 13/2019

Nein, der fesselndste Moment in Psycho ist nicht der berühmte Mord in der Dusche. Mag Alfred Hitchcock in seinem Film für 45 Sekunden auch über 70 Kamerapositionen gewählt und die Sequenz ungeheuer gewalttätig dargestellt haben, die anschließende Abfolge banaler Verrichtungen des Motelbesitzers Norman Bates berührt einen noch mehr. Zehn Minuten dauert die Szene, und sie zeigt Bates bei nichts anderem als dem Schrubben des Badezimmers.

In schnellen Schnitten und vielen Nahaufnahmen leuchtet der Regisseur alle Details des Reinigungsaktes aus. Die Kamera zeigt die Sorgfalt, mit der Bates die Armaturen und die Wanne putzt. Sie suhlt sich in der Leidenschaft, mit der er den Dreck und die Leiche entsorgt. Der Clou besteht darin, dass sich das Publikum mit der arbeitenden Person identifiziert. Das gilt auch dann, wenn man die Handlung dieses 1960 erschienenen Films kennt und weiß, dass Bates der Mörder ist.

In François Truffauts Interviewbuch Mr. Hitchcock, wie haben Sie das gemacht? erklärt der Regisseur, es sei ihm bei Psycho weder um den Inhalt noch um eine Botschaft gegangen, sondern ausschließlich darum, „eine Massenemotion zu schaffen“. Warum ihm das mit einer extrem langen und trivial wirkenden Szene besonders gut gelungen ist, hat der Philosoph Slavoj Žižek einmal psychoanalytisch erklärt. Seine These: Viel befriedigender als der schöpferische Akt ist es, etwas fortzuschaffen, wegzuräumen, abzuliefern.

Vielleicht erklärt dieser Umstand nicht nur den derzeitigen Hype um die Netflix-Serie der Ordnungsberaterin Marie Kondō. Er könnte auch verständlich machen, warum wir in Schnellrestaurants so klaglos unser Tablett selbst wegräumen, weshalb wir uns an die Abwesenheit eines Tankwarts an der Zapfsäule gewöhnt haben, wieso wir im Bekleidungsgeschäft nach dem Anprobieren alles wieder an einen eigens errichteten Ständer hängen und wozu wir den Einkaufswagen auch dann bereitwillig über den Parkplatz vor dem Supermarkt in ein Häuschen schieben, wenn wir gar nicht allzu sehr an unserer zuvor als Pfand hineingesteckten Geldmünze hängen.

Rund-um-die-Uhr-Filiale

Es mag zur Gewohnheit geworden sein, aber selbstverständlich ist es darum noch lange nicht, dass Kunden solche Arbeiten erledigen. Soziologen sprechen bei diesem seit Jahrzehnten schleichend sich vollziehenden Prozess von „Schattenarbeit“. Unternehmen setzen sie gezielt ein, um Kosten zu sparen. Gerd-Günter Voß, emeritierter Professor für Industrie-Soziologie an der Ludwig-Maximilians-Universität München, hat das Phänomen in seinem 2005 erschienenen Buch Der arbeitende Kunde. Wenn Konsumenten zu unbezahlten Mitarbeitern werden untersucht.

Er beschreibt, wie der durch die 68er vorangetriebene Wertewandel einen Widerhall in der Wirtschaft gefunden hat. Selbst Entscheidungen treffen zu können bei der Auswahl von Produkten, das wird seither als Schritt zur Autonomie betrachtet, als Marker für Freiheit und als Akt der Emanzipation. Der Supermarkt, wie wir ihn kennen, erlebte in der Bundesrepublik damals seinen Durchbruch.

Zuvor waren Tante-Emma-Läden üblich, in denen die Kunden an der Theke all ihre Konsumbedürfnisse kundtaten, bevor die Ladeninhaber die Waren aushändigten. Das war vor dem Siegeszug der Do-it-yourself-Kultur der 1970er Jahre, in der handwerkliche Tätigkeiten auch für Laien attraktiv wurden. Ikea hat das als erster Großkonzern für die eigenen Interessen genutzt. Die Ikea-Legende lautet: Wir verkaufen Möbel billiger und „schenken“ den Kunden obendrein das Erlebnis, die Waren anschließend zu Hause selbst aufbauen zu dürfen.

Im Vergleich dazu wirkt heute das Konzept des Tante-Emma-Ladens, als entstamme es einer Zeit, in der die Postkutschen die Briefe brachten und man Karies noch ohne Betäubung behandelte. Dabei widmete Udo Jürgens dem kleinen Einzelhandelsgeschäft noch im Jahr 1976 ein Lied, in dem das lyrische Ich gegen die Supermarktisierung der Gesellschaft ansingt: „Im Einkaufscenter und Discount / da bin ich immer schlecht gelaunt. / Im endlos großen Supermarkt, / da droht mir gleich der Herzinfarkt. / Da liegen die Regale voll, / ich weiß nicht, was ich nehmen soll. / Da wird das Kaufen zur Tortur, / ich geh zu Tante Emma nur.“

Letztlich sind die Entscheidung am und das Herausnehmen aus dem Regal im Supermarkt bereits Teile jenes Konzepts, das Gerd-Günter Voß den „arbeitenden Kunden“ nennt. Er wird aktiv am Erbringen von Dienstleistungen beteiligt und avanciert für Unternehmen damit zur externen Produktionseinheit. „Der ökonomische Akt des Kaufs von Arbeitskraft“, schreibt Voß, „garantiert noch nicht die gewünschte Arbeit, schon gar nicht in der erhofften Quantität und Qualität.“

Um die Arbeitskraft in die aus betriebswirtschaftlicher Sicht erforderliche Leistung zu überführen, brauche es mehr als Entlohnung, nämlich „organisatorische Vorkehrungen zur aktiven Steuerung und Überwachung von Arbeitstätigkeiten“. Dafür hat sich in jüngerer Zeit der Begriff „Nudging“ etabliert. Wörtlich aus dem Englischen übersetzt, bedeutet das Wort „sanft schubsen“. 2008 veröffentlichten die Ökonomen Richard H. Thaler und Cass R. Sunstein ihren Bestseller Nudge. Wie man kluge Entscheidungen anstößt.

Darin thematisieren sie eine Frage, die auf dem schmalen Grat zwischen Ermutigung und Manipulation wandelt: „Menschen verhalten sich von Natur aus nicht rational. Nur mit einer Portion List können sie dazu gebracht werden, vernünftig zu handeln. Aber wie schafft man das, ohne sie zu bevormunden?“ Lange bevor es den Begriff oder das Konzept gab, fand das „Nudging“ schon Eingang in die Literatur. In Mark Twains 1876 veröffentlichtem Roman Die Abenteuer des Tom Sawyer erhält die Hauptfigur von Tante Polly den Auftrag, den Zaun zu streichen.

Darauf hat Tom überhaupt keine Lust, zumal an diesem Samstag die Sonne scheint. Widerwillig macht er sich ans Werk, bis ihm die rettende Idee kommt. Als ein Freund ihn beobachtet, sagt Tom: „Kriegt unsereins jeden Tag einen Zaun zu pinseln?“ Der Freund ist verblüfft über diese Wendung, die die ganze Sache in ein neues Licht rückt. Er vergisst, seinen Apfel zu essen, und beobachtet Tom, der den Pinsel auf und ab schwingt, zurücktritt, sein Werk begutachtet wie ein Künstler – und damit den Wunsch in seinem Freund weckt, diesen verdammten Zaun zu streichen, anstatt unterm schattigen Baum liegend in einen saftigen Apfel zu beißen.

Die Vorschläge von Thaler und Sunstein laufen darauf hinaus, das Verhalten von Menschen auf diese Weise zu steuern – genau das versteht man klassischerweise unter Manipulation. Wenn die Autoren etwa anregen, in Kantinen das Obst auf Augenhöhe zu platzieren, um dessen Konsum zu erhöhen, oder wenn sie für Warnhinweise auf Zigarettenschachteln plädieren, dann findet unabhängig von der guten Absicht eine gezielte Beeinflussung statt, die Unternehmen immer stärker für sich zu nutzen wissen. Mit der zunehmenden Technisierung fällt ihnen das leichter.

In seinem Buch Zeitfresser (2015) beschreibt der Soziologe Craig Lambert, wie ein Automatenheer in vielen Branchen die Regie übernommen hat. In Portugal eröffnete beispielsweise die Post im Jahr 2012 eine Rund-um-die-Uhr-Filiale. Darin stehen ausschließlich Automaten, die pausenlos sämtliche Dienstleistungen erbringen, für die zuvor der Gang an einen Schalter und die Kommunikation mit einem Menschen nötig waren. Ähnliches berichtet Lambert von Apotheken, Zollkontrollen, Banken.

Neue Lust am Bedientwerden

Diese Rationalisierung reicht sogar bis hinein ins älteste Gewerbe der Welt. Die Stadt Bonn forderte 2011 Straßenprostituierte auf, an Automaten eine Steuer von sechs Euro pro Nacht zu entrichten, wofür ihnen das Gerät einen Berechtigungsschein ausspuckte zum Anbieten ihrer Dienste bis sechs Uhr in der Früh.

Aber nicht nur am potenziellen Entstehen von Leben verdienen Wirtschaft und Verwaltung. Lambert beschreibt in seinem Buch auch einen Friedhof in Nebraska (USA), auf dem das Personal durch einen Touchscreen ersetzt wurde, der Karten ausdruckt, aus denen die Lage der Gräber hervorgeht. Hinterbliebene können durch eigene Arbeit dort ein Foto oder einen Nachruf einspeisen – natürlich gegen eine Gebühr.

In der Intensität und in den Methoden liegt also das Neue am Trend zur Selbstbedienung in der Dienstleistungsgesellschaft. Und der beschleunigt sich erst recht, seit das Internet seinen Siegeszug angetreten hat. Reisebüros sterben aus, seit immer mehr Menschen ihren Urlaub online planen, buchen und bezahlen. Lambert sieht darin zunächst Vorteile für Kunden. Sie können Preise vergleichen und aus einer breiten Palette an Fluggesellschaften und Routen eigenständig und ohne Kompetenzgefälle zu den Mitarbeitern eines Reisebüros wählen. Neben diese Demokratisierung sei aber eine Flut an Schattenarbeit für die Reisenden getreten, für die Kunden immer mehr Zeit aufwenden.

Der Check-in am Flughafen erfolgt übers Internet, und auch die Tickets drucken sich immer mehr Reisende zu Hause selbst aus – eine Kostenverlagerung vom Anbieter zum Kunden. Die Bordkarte kontrolliert in 75 Prozent aller Fälle weltweit am Flughafen kein Mensch mehr, sondern ein Scanner. Sogar die Gepäckabfertigung findet an immer mehr Orten ohne menschliches Personal statt.

Zwischen 1996 und 2010 sank die Zahl der Reisebüros in den USA laut Craig Lambert um die Hälfte. In Deutschland gab es im Jahr 2004 noch 13.700 stationäre Reisebüros. 2013 waren nur noch knapp 10.000 übrig – ein Rückgang von gut 30 Prozent. Ein interessanter Wandel vollzieht sich seitdem, denn die Zahl der Reisebüros steigt hierzulande wieder leicht an. Der Deutsche Reiseverband führt das vor allem auf eine Überforderung der Verbraucher zurück. Ist qualifiziertes Fachpersonal also wieder gefragt?

Systematische Studien zu diesem Thema gibt es noch nicht. Ein Blick in andere Branchen aber lässt zumindest für Deutschland die Vermutung zu, dass das Reisen eine Sonderstellung einnimmt. Weiterhin tanken die Autofahrer selbst, immer mehr Kunden erledigen ihre Bankgeschäfte ausschließlich online oder über Geldautomaten, und der Boom der Eigenscan-Kassen auch in kleineren Supermärkten oder der Selbstbedienungsbäckereien mit eigenhändiger Entnahme der Backwaren scheint seinen Höhepunkt noch lange nicht erreicht zu haben.

Schattenarbeit, schreibt Lambert, verdränge Arbeitsstellen an der Schnittstelle zum Kunden. Sie vernichte Jobs auf der Einstiegsebene, in der zahlreiche Berufslaufbahnen begonnen haben. In einer Gesellschaft, die sich in erster Linie über Erwerbsarbeit definiert, sind solche Jobs wichtig für die Teilhabe der sogenannten Geringqualifizierten. Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung hat errechnet, dass in Deutschland zwischen 2000 und 2013 der Anteil der Jobs, für die keine Berufsausbildung nötig ist, von 28 auf 21 Prozent gesunken ist.

Ein Problem ist das vor allem, weil der Sozialstaat noch immer auf eine Erwerbsarbeitspflicht ausgerichtet ist und die Politik keine Mechanismen, Programme und Strukturen entwickeln will, die Geringqualifizierten auch dann noch eine würdige Existenz ermöglichen, wenn sie durch Maschinen ersetzt worden sind.

Der Germanist Christoph Bartmann zeigt in seinem 2016 erschienenen Buch Die Rückkehr der Diener. Das neue Bürgertum und sein Personal, wie parallel zur Digitalisierung eine neue Klasse schlecht bezahlter Helfer und Boten entstanden ist (der Freitag 32/2016). Nach sozialdemokratisch geprägten Jahrzehnten sei in diesen Bereichen ein Neofeudalismus im Gange. Häusliche Dienstleistungen und Botengänge werden nicht mehr nur von besonders wohlhabenden Menschen in Anspruch genommen, sondern auch von der prekären Mitte, die überarbeitet ist, sich unsicher fühlt und trotzdem Familie und Beruf unter einen Hut bekommen muss.

Mägde und Butler mögen nur mehr in Fernsehserien wie Downton Abbey auftreten. Es kehren also laut Bartmann nicht die herkömmlichen Dienerfiguren zurück, obwohl auch die in den Haushalten der Superreichen nach wie vor gefragt sind. In Bezug auf die Mittelklasse sei es eher das häusliche Servicepersonal, wozu er auch die haushaltsnahen Lieferdienste zählt.

Nicht das im Haus lebende und den Bewohnern in mehreren Lebenslagen gleichermaßen zur Verfügung stehende Personal stützt also Bartmanns These vom Neofeudalismus, sondern die flexiblen Dienste rund um die eigene Wohnung. Durch die neuen Serviceplattformen werden solche Dienste für Kunden wie für Dienstleister flexibel gemanagt.

Es gibt, so Bartmann, eine aus Alltagslast resultierende Lust am Bedientwerden, die als angemessene Entlastung im harten Alltag empfunden wird. Und dieser Alltag ist nicht nur dominiert von Erwerbsarbeit, Kindererziehung und Freizeitstress, sondern auch von der durch „Nudging“ und andere Manipulationsstrategien erzeugten Schattenarbeit, die Kunden zusätzlich an den Rand der Belastbarkeit treibt. Sie treibt die Menschen an den Rand jener Belastbarkeit, die dem Markt der einfachen Dienstleistungen eine erhöhte Nachfrage beschert. Darauf beruht das Geschäftsprinzip von Deliveroo oder Amazon.

Diese Unternehmen können geschickt die zeitliche und finanzielle Not vieler gering qualifizierter Arbeitskräfte für ihren eigenen Profit nutzen, um all den Pizzalieferanten, Reinigungskräften oder Paketboten schlechte Arbeitsbedingungen zu bieten und ihnen niedrige Löhne zu zahlen. Öffentliche Institutionen und Verwaltungen, die zu unternehmerischem Denken verleitet werden, tun ihr Übriges. Gemeinsam mit Konzernen schaffen sie sich eine neue Reservearmee und lagern Kosten auf Kunden aus. Unsere Zeit ist ihr Geld.

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