Lass uns über Kohle sprechen

Debatte Der Fernsehauftritt des AfD-Politikers Guido Reil im ZDF ist ein Lehrstück zur Frage, ob und wie mit Rechten zu reden wäre

Welch ein vielversprechendes Duell in der ZDF-Talkshow Markus Lanz: Kevin Kühnert, Lichtgestalt der wenigen noch verbliebenen Menschen mit Hoffnung auf die Wiederlinkswerdung der SPD, traf in der vergangenen Woche auf Guido Reil, der die SPD nach 26 Jahren verlassen hat und jetzt auf Listenplatz zwei für die AfD zur Europawahl kandidiert. Ein Hartz-IV-Kritiker als Vertreter der Hartz-IV-Partei und ein Gewerkschafter als Vertreter einer arbeiterfeindlichen Partei saßen am vergangenen Dienstag also nebeneinander. Es konnte losgehen.

Fast eine Woche lang blieb der denkwürdige Auftritt im Blickfeld des Internets – bis am vergangenen Wochenende der Höhepunkt folgte. Guido Reil äußerte sich beim AfD-Wahlkampfauftakt im nordrhein-westfälischen Ennepetal zur Sache. Er sei schlecht vorbereitet und gesundheitlich angeschlagen gewesen, sagte er. In einem redaktionellen Vorgespräch, das bei solchen Sendungen üblich ist, sei er reingelegt worden: Die haben mich analysiert, wo ich meine Schwächen habe. Und mit Kühnert haben die sich vorher abgesprochen. Alle seine Antworten kamen wie aus der Pistole geschossen. Das war eine ganz miese Tour.“ Aus seiner Sicht hatte das ZDF nur ein Ziel: „Wir sollen fertig gemacht werden. Das Regime will uns fertig machen.“

Kevin Kühnert schrieb anschließend bei Twitter: „Vor der Sendung hatte ich mit dem @ZDF-Programmdirektor diskutiert, ob wir @GuidoReil auch noch ein Pupskissen auf den Stuhl legen. Haben jedoch entschieden, dass die Verschwörung dann zu offensichtlich wäre.“ Auf Facebook legte er nach und bezeichnete Reil als „armes, weinerliches Würstchen“. Das wiederum animierte Kühnerts Parteifreund Johannes Kahrs dazu, Reil via Twitter einen „rechtsradikalen Loser“ zu nennen. Wer bei Twitter nach „Guido Reil“ sucht, findet schadenfrohe Statements, die Reil als Musterbeispiel einer angeblich unter Rechten dominanten geistigen Schlichtheit betrachten.

Was geschah in der Sendung? Moderator Markus Lanz fragte Reil zu Beginn nach seiner Meinung zum Klimawandel. Reil teilte mit, das sei nicht sein Spezialgebiet, denn: „Ich bin Bergmann, ich kann Ihnen was über Kohle erzählen.“ Auf das Thema ging er trotzdem ausführlich ein – und redete sich um Kopf und Kragen. Ohne Argumente nennen zu können, referierte Reil die wissenschaftlich indiskutable Position derer in seiner Partei, die den Klimawandel allen Ernstes für ein Hirngespinst halten. Seine peinlichen Äußerungen gipfelten in der flehenden Frage an Lanz: „Wie viel wärmer ist es denn geworden seit 1850? Sie haben dazu doch bestimmt Zahlen?“

Ursache und Wirkung

Wer die Debatte um diesen Auftritt bei Twitter verfolgt, dem fällt eines schnell auf: Die Beiträge behandeln fast ausschließlich diese ersten acht Minuten der Sendung, in denen es um das Thema Klimawandel ging. Für einen Europapolitiker, der Reil sein will, mag dieses Sujet zweifellos wichtig sein. Nach diesem Thema sprachen Lanz, Kühnert und Reil aber noch mehr als eine halbe Stunde lang über den Wohnungsmarkt, den Mindestlohn, die Arbeitsmigration und die Europäische Union. Mit jeder Minute wurde der Schlagabtausch unterhaltsamer, und mit jeder Minute kristallisierten sich große weltanschauliche Unterschiede heraus, etwa zur Frage der Sozialisierung von Wohneigentum oder zur Einschätzung, ob die EU ein gutes oder ein schlechtes Projekt ist. Es zeigten sich aber auch Gründe, warum es der Politik derzeit so schwer fällt, Menschen aus und in unterschiedlichen Lebenslagen zu vereinen.

Zumal Markus Lanz zwei sehr unterschiedliche Politiker zusammengeführt hatte: Kevin Kühnert (Jahrgang 1989) ist in einer Beamtenfamilie aufgewachsen. Sein Studium der Politikwissenschaft ruht derzeit, weil er sich auf das Amt des Juso-Bundesvorsitzenden konzentrieren will. Er wohnt in Berlin. Bei Markus Lanz artikulierte er sich rhetorisch geschult in akzentfreiem Hochdeutsch und wählte einen anspruchsvollen Satzbau. Guido Reil (Jahrgang 1970) arbeitet seit seinem Hauptschulabschluss im Bergbau. Er ist Steiger in einem Bergwerk und Betriebsratsmitglied. Reil lebt im armen Norden von Essen. An seinem Akzent ist leicht zu erkennen, dass er aus dem Ruhrgebiet stammt. Bei Markus Lanz folgten seine Sätze einer klaren, einfachen Struktur.

In der Analyse dessen, was falsch läuft, sind sich beide jenseits des Klimawandels in manchen Punkten sogar einig. Kühnert beklagte den zu geringen Mindestlohn, Reil stimmte ihm zu. Reil beklagte die niedrigen Renten, Kühnert stimmte ihm zu. Blitzsauber nahm Kühnert in der Sendung seinen Kontrahenten auseinander, als der gegen weiteren Zuzug von Migranten anredete, weil sie mit den Einheimischen in „abgehängten“ Gegenden um Wohnraum und schlecht bezahlte Arbeitsplätze konkurrieren müssten. Das sei, sagte Kühnert, eine Verkehrung von Ursache und Wirkung. In Wahrheit haben demnach nicht Migranten und Flüchtlinge die Armut nach Deutschland gebracht. Die sei vielmehr das Resultat politischer Entscheidungen.

„Der SPD glaubt kein Schwein mehr“

Was Kühnert nicht sagte: Die Armut ist das Resultat der Entscheidungen von Politikern und Politikerinnen auch und vor allem aus der SPD, die seit 1998 in 17 von 21 möglichen Jahren auf der Regierungsbank saß. Sie ist das Resultat der Entscheidungen von Leuten wie Andrea Nahles, die Kühnert selbst erst im vergangenen Jahr voller Überzeugung zu seiner Parteivorsitzenden gewählt hat. Darum berührte Guido Reil mit seiner Antwort auf Kühnerts bestechende Argumentation auch den eigentlichen Kern der Debatte: „Der SPD glaubt kein Schwein mehr irgendwas.“

Kevin Kühnert – das zeigt vor allem sein Glaube an eine Veränderbarkeit der SPD „von innen“ – repräsentiert eine politische Klasse, die kein Verständnis mehr aufbringt für Menschen, denen der Kapitalismus längst jede Hoffnung auf ein besseres Leben geraubt hat. Guido Reil – das zeigt insbesondere sein politischer Realitätsverlust – repräsentiert einen Teil der Bevölkerung, der kein geschlossen rechtsextremes Weltbild hat, sich aber auf der Suche nach einer Alternative zum Bestehenden ausgerechnet in einer rechten Denkweise verirrt hat.

Bevor Guido Reil die erste Frage von Markus Lanz zur Klimapolitik beantwortete, sagte er in der Sendung ungefragt einige offenbar auswendig gelernte, aber aufschlussreiche Sätze. Reil lobte Kühnert als „größtes politisches Talent der SPD“ und gestand, dass er „vieles von dem, was Herr Kühnert sagt, eins zu eins teile“. Leider sah der Moderator das nicht als Chance, nachzuhaken – und die Wirtschafts- und Sozialpolitik der AfD so als das herauszuarbeiten, was sie ist: rassistisch und neoliberal.

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