Douglas Stuarts Roman „Young Mungo“: Liebe in den Trümmern des Sozialstaats
Thatcherjahre Brutal-schöne Liebesgeschichte: In seinem neuen Roman „Young Mungo“ erzählt Douglas Stuart von einem vernachlässigten Teenager, der im Glasgow der 1990er Jahre seine homosexuelle Emanzipation erlebt
In Glasgow, in den Arbeitervierteln des East End, wächst der 15-jährige Mungo Hamilton in den 1990er-Jahren auf
Foto: Raymon Depardon/Magnum Photos/Agentur Focus
Oft empfinden Liebende jene als außergewöhnlich, von denen sie am meisten verletzt werden. Die Faszination beruht in solchen Fällen gerade darauf, dass sie nicht erwidert wird. Das klingt verrückt: Auf der Suche nach einer Resonanzerfahrung projizieren manche ihr platonisches oder romantisches Bedürfnis auf jemanden, der es nicht erfüllen kann oder will. So als gäbe es eine richtige Liebe im falschen Menschen. Das trifft umso mehr zu, je stärker es Ökonomie und gesellschaftliche Konventionen sind, die einer Erfüllung der Liebe im Weg stehen. Lange hat kein Roman mehr diesen Gedanken so kraftvoll erkundet wie Young Mungo von Douglas Stuart.
Da ist der 15-jährige Mungo Hamilton, der in den 1990er-Jahren in den Arbeitervierteln des Glasgow
ierteln des Glasgower East End aufwächst. Seine ältere Schwester Jodie muss jene junge Mutter ersetzen, die sich von ihren Kindern „Mo-Maw“ nennen lässt, an der Flasche hängt und ansonsten durch körperliche wie geistige Abwesenheit glänzt. Sein älterer Bruder Hamish ist verbandelt mit Gangs, die sich regelmäßig zu Prügeleien treffen zwischen Protestanten und Katholiken. Wenn der kleine Bruder nicht mitmacht dabei, wird zuerst zugeschlagen und – manchmal – danach diskutiert.Homosexuelle EmanzipationEs ist eine Lebenswelt, in der die negativen Seiten des Männlichen zur Norm gefroren sind und es für den warmherzigen Mungo keinen Ausweg zu geben scheint. Bis er auf James trifft, der in ähnlichen Verhältnissen lebt und der dennoch seine Empfindsamkeit zeigen kann. Mit ihm lernt Mungo ein Begehren kennen, das offen auszuleben möglicherweise nicht nur ein soziales Todesurteil nach sich zöge. Bis zur Annäherung der beiden dauert es brennend lange.Warum sind homosexuelle Emanzipationsgeschichten „von unten“ meist so derb? In dem kürzlich erschienenen Buch Gespräch über Kunst und Politik äußert sich der französische Schriftsteller Édouard Louis im Dialog mit dem britischen Filmregisseur Ken Loach zu dem bisweilen geäußerten Vorwurf, er stigmatisiere in seinen autofiktionalen Texten die Arbeiterklasse, weil er auch über deren Homophobie schreibe. Louis entgegnet, er zeige damit nur, „wie die Beherrschten doppelt zu Opfern der Gewalt werden: Erst, wenn sie sie erleiden, und dann, wenn sie gezwungen sind, sie zu reproduzieren“. Homophobe Gewalt gebe es selbstverständlich in allen sozialen Klassen, aber in einem perspektivlosen Umfeld wie dem seiner Herkunft habe sie besondere Ursachen.Young Mungo spielt zu einer Zeit, als die Regierungen mit der Abrissbirne in Großbritannien unter Margaret Thatcher und John Major vom Sozialstaat bereits nur noch Trümmer übrig gelassen hatten. Die Entsolidarisierung war Staatsräson, und sie präsentierte sich dort von ihrer brutalsten Seite, wo viele Menschen um wenige Ressourcen konkurrieren mussten. In einem Disput mit dem Nachbarn Mr. Campbell sagt Mungo, sein Bruder habe leider noch immer keinen Job gefunden. Darauf antwortet der Mann: „Richte ihm aus, er soll zur Navy gehen. Und dann soll er sich in Faslane stationieren lassen und eins von diesen Atom-U-Booten mit Volldampf in Margaret Thatchers Möse fahren lassen.“ Was war wohl zuerst da: die Misogynie der finanziell abgehängten Männer oder deren Demütigung durch das Kapital?Vor drei Jahren ist Douglas Stuart weltberühmt geworden, nachdem sein Debüt Shuggie Bain nicht nur ein internationaler Verkaufserfolg, sondern auch mit dem Booker Prize ausgezeichnet worden war. In dem autobiografisch fundierten Text beschrieb der 1976 in Glasgow geborene Autor das Leben einer lumpenproletarischen Familie im Schottland der 1980er-Jahre aus der Sicht des jugendlichen Titelhelden. Die Story liest sich wie eine große Liebeserklärung an die eigene Mutter.Der neue Roman ist zugleich härter und zärtlicher – und dadurch noch besser als der Erstling. Das liegt nicht nur an der Sprache, sondern auch an der besonders raffinierten Dramaturgie des Romans. Im Prolog skizziert Stuart eine Rahmenhandlung, deren grausame Bedeutung erst am Schluss klar wird. Mungo ist mit zwei Männern unterwegs, die seine Mutter bei den Anonymen Alkoholikern kennengelernt hat und die ihm beibringen sollen, was es heißt, ein Mann zu sein. Er nennt sie „St. Christopher“ und „Gallowgate“. Beide umweht eine Schmiersuff-Aura und sie verströmen permanent lächelnd eine beunruhigende Kälte.Immer wieder kehrt der auktoriale Erzähler zu diesem Setting zurück, bis hin zu einem entsetzlichen Höhepunkt, ehe es wieder zurückgeht zum Hauptstrang. Der spielt überwiegend im zweiten Stock eines dreistöckigen Sandsteinhauses in Glasgow, der Wohnung der Hamiltons, also einer Baracke der Elenden. Mungo leidet unter Ticks, verursacht durch Stress und Vitaminmangel. Die drei Kinder sind inmitten tiefster Armut über weite Strecken auf sich allein gestellt. Immer wieder verlässt die Mutter ohne erkennbaren Grund die Wohnung und taucht wochenlang nicht mehr auf.Allgegenwärtige GewaltEs kann einen beim Lesen fast wahnsinnig machen, wie Mungo diese Frau immerzu verteidigt. Doch ist das nun einmal seine Rolle in diesem Familiendrama. Er liebt sie, die ihn vernachlässigt, abwehrt, verletzt, weil er am Bild von ihr festhalten will, das sie in seltenen Momenten dann tatsächlich zeigt. Er weiß, dass sie auch anders kann – und träumt von diesem Anderssein als Dauerzustand. Bis dahin liebt er sie trotz – oder gerade wegen? – ihrer permanenten Zurückweisung. „Sie war wie ein Kind in seinen Armen, ein betrunkenes, aus dem Mund stinkendes, von Nikotin umhülltes Kind“, heißt es an einer Stelle, und an diesem innigen Verhältnis zur Mutter hält Mungo auch dann noch fest, da sie ihn zum zigsten Mal für ihr eigenes Unglück verantwortlich gemacht hat. Es ist nicht zuletzt die Abwesenheit eines Vaters, die in dieser Familie die Gewalt so allgegenwärtig hält.Das ödipale Motiv mag eines der ältesten der Historie sein, doch es bleibt immer neu. Mungo akzeptiert die Promiskuität seiner Mutter nicht, gegen Ende zerrt er einen ihrer potenziellen Liebhaber sogar gewaltsam aus der Wohnung. Solche Sequenzen stehen neben atemberaubend schön beschriebenen Momenten der Liebe, die für Mungo zu Oasen des Glücks werden in einer verwüsteten Jugend. Zuflucht findet er nämlich zeitweise bei besagtem James, der einen prügelnden und wegen der Lohnarbeit kaum greifbaren Vater hat. Als Überlebensstrategie hält James sich einen Taubenschlag, in dem er Mungo trifft. Die Sätze, mit denen Stuart das vorsichtige gegenseitige Abtasten, das anfangs aggressive Überspielen ihrer Zuneigung und die spätere Zurückweisung durch James beschreibt, zählen zu den schönsten in diesem an schönen Sätzen reichen Roman. Dass Douglas Stuart ein wirklich großer Schriftsteller ist, beweist er in den Sexszenen. Sie sind explizit, ohne ins Pornografische zu kippen; sie sind poetisch, ohne kitschig zu wirken; und sie sind erotisch, ohne voyeuristisch zu sein.Der Roman scheint auf den ersten Blick konventionell erzählt zu sein, denn er hat einen spannenden Plot mit entsprechender Sogwirkung. Einige Kapitel sind dann aber so brillant gebaut, dass man sie besser gleich noch einmal liest, um irgendwie herauszubekommen, wie dieser Kerl das gemacht hat. Ein Geheimnis dürfte in den Perspektivwechseln liegen, die kaum auffallen, weil Stuart sie sehr elegant vollzieht. So gelingt es ihm, Mungo beispielsweise auch aus der Sicht seiner Schwester zu sehen, die sich einfach keinen Reim machen kann auf diesen Teenager.Douglas Stuarts Sprache glänzt auch im Deutschen, weil Sophie Zeitz den teilweise stark im Slang gehaltenen Text strahlend schön übertragen hat. Das beginnt bei der Umgangssprache und reicht bis zum Schriftbild. Darin zeigt sich etwa, wie sehr literarische Dialoge in einem bücherfernen Milieu an Glaubwürdigkeit gewinnen können, wenn bei Abkürzungen („geht’s“ oder „bleibt’s“) die Apostrophe fehlen. Welch ein genauer Beobachter in Stuart steckt, blitzt auf, wenn er in den Zahnabdrücken im Fensterbrett „perfekte kleine Halbmonde der Angst“ erkennt oder im Gesicht seines Geliebten bemerkt, dass im Gespräch mit Mungo dort die Muskeln vor Aufregung „pulsieren und sich bewegen, als wären sie lebendig“.Vor solchen sprachlichen Glanzlichtern wimmelt dieses Buch, das nichts anderes ist als ein Meilenstein des Sozialrealismus im jungen 21. Jahrhundert. Spätestens, wenn sich die Handlung in diesem Roman auf ihr ambivalentes Ende zubewegt, beginnt die Geschichte endgültig diesen existenziellen Schmerz zu entfalten, dessen seltsame Schönheit noch lange nachhallt.Placeholder infobox-1