Sexismus-Skandal, Führungskrise: Ist die Linkspartei noch zu retten?
Opposition Wahldebakel, Führungskrise, Sexismus-Skandal: Die Linkspartei steht am Abgrund. Ist eine Trendumkehr möglich? Und wäre diese überhaupt wünschenswert?
Seit Langem toben Kämpfe um Macht, Eitelkeiten und manchmal sogar Inhalte
Illustration: der Freitag; Material: Imago Images, Melosine1302/Adobe Stock
Für den Wandel von einer antifaschistischen Heldin zum Symbol der Dauerkrise braucht es in der Linkspartei nur zwei Jahre. Im Februar 2020 warf Susanne Hennig-Wellsow dem unter anderem mit Stimmen der AfD gewählten thüringischen Ministerpräsidenten Thomas Kemmerich den Glückwunschblumenstrauß vor die Füße. Der FDP-Mann hielt sich nur wenige Wochen im Amt, ehe der rot-rot-grüne Bodo Ramelow gemäß den parlamentarischen Gepflogenheiten doch wiedergewählt wurde. Hennig-Wellsow gilt als Mastermind hinter den Wahlsiegen des ersten Linken-Landeschefs der Bundesrepublik.
Darum übernahm sie im Februar 2021 den Vorsitz der damals schon kriselnden Bundespartei gemeinsam mit der zuvor in Hessen erfolgreichen Janine Wissler. Nun, 14 Monate
14 Monate und mehrere desaströse Wahlergebnisse später, sind beide gescheitert. Gegen Wissler steht der Vorwurf im Raum, sie sei Fällen sexualisierter Übergriffe in der eigenen Landespartei nicht entschlossen entgegengetreten. Zurückgetreten von ihrem Amt ist jedoch nicht Wissler, sondern Hennig-Wellsow, die in der schriftlichen Begründung ihre bisherige Co-Chefin hart attackiert.So weit, so normal. Innerhalb der Linken toben seit Jahren pausenlos Kämpfe um Machtblöcke, Eitelkeiten und manchmal sogar um politische Inhalte. So existenzbedrohend wie derzeit war die Lage aber noch nie. Bei der Bundestagswahl 2009 holte die Linke mit den beiden Spitzenkandidaten Oskar Lafontaine und Gregor Gysi zwölf Prozent, vier Jahre später wurde sie stärkste Oppositionsfraktion. 2021 lag sie nur noch bei 4,9 Prozent und zog lediglich dank dreier Direktmandate als Fraktion ins Parlament ein.Im März verließ der Saarländer Lafontaine die Partei. Wenige Tage danach flog die Linke im Saarland nach der Landtagswahl aus dem Parlament, obwohl das kleinste Bundesland zuvor eine sichere Bank war. In diesem Jahr folgen Landtagswahlen in Schleswig-Holstein (8. Mai), Nordrhein-Westfalen (15. Mai) und Niedersachsen (9. Oktober). Alles andere als ein dreimaliges Scheitern an der Fünf-Prozent-Hürde wäre ein kleines, ein im Vergleich zu 2021 besseres Ergebnis bei der Bundestagswahl 2025 ein noch viel größeres Wunder.Linkspartei hat Glaubwürdigkeit verlorenVielleicht wird die Linke diese Krise nicht überstehen. Ein Grund dürfte der Verlust eines Alleinstellungsmerkmals sein, das die Partei lange Zeit stark gemacht hatte: Glaubwürdigkeit. Die Linke gründete sich 2007 als Zusammenschluss aus westdeutscher WASG und ostdeutscher PDS und als Protestpartei – vor allem gegen den rot-grünen Abbau sozialstaatlicher Absicherung sowie gegen die von Rot-Grün aktiv unterstützten Angriffskriege der Nato im damaligen Jugoslawien 1999 und in Afghanistan ab 2001.Um diesen sozial- und außenpolitischen „Markenkern“ dreht sich der innerparteiliche Streit. Während einige „Reformer“ auf einen Kurswechsel fort vom Wunsch nach einer Abschaffung der Nato hin zu deutschen Waffenexporten oder Auslandseinsätzen der Bundeswehr drängen, zeigt sich im Angesicht des Ukrainekriegs, dass die Preisgabe dieses Grundsatzes auf erbitterten Widerstand der Parteibasis stößt. Um eine Eskalation zu vermeiden, hielten die Befürworter von Regierungsbeteiligungen den Konflikt lange Zeit klein. Wer noch vor Monaten den Disput um außenpolitische Positionen final klären wollte, erhielt von manchem Pragmatiker zur Antwort, „den Leuten“ sei die Nato doch völlig egal.In der Öffentlichkeit hat sich dadurch das Bild der Partei von einer radikal friedenspolitischen hin zu einer zaudernden Gruppe gewandelt, von der man nicht weiß, wofür sie steht. Das gilt nicht mehr nur für die Außenpolitik. In Berlin trat die Linke nach der Abgeordnetenhauswahl 2021 erneut in eine Landesregierung mit SPD und Grünen ein. Die Linke war zuvor im Wahlkampf die einzige parlamentarische Kraft, die sich für eine Umsetzung der in einem Volksentscheid mit knapp 60 Prozent der Stimmen befürworteten Vergesellschaftung großer Wohnungskonzerne aussprach. SPD und Grüne wollen das Votum nicht umsetzen.Linke als opportunistischer HaufenAnstatt mit dem Ende der Koalition zu drohen, hilft die Berliner Linke den anderen Parteien nun dabei, den Volksentscheid durch bürokratische Zermürbung ins Leere laufen zu lassen. Kein soziales Problem ist in der Hauptstadt so groß wie das der ungebremst steigenden Mieten bei zugleich sinkenden Reallöhnen. Eine Überführung von Teilen des Wohnungsmarktes in öffentliches Eigentum wird es jedoch ziemlich sicher nicht geben, auch wegen der Linkspartei. Damit dürfte sich in der Bevölkerung das Bild verfestigen von einer Linken als opportunistischem Haufen, dem es vor allem um lukrative Posten geht.Im Juni will man beim Parteitag den gesamten Bundesvorstand neu wählen. Sollte es gelingen, die verfeindeten Lager irgendwie zu einen, bestünde eine letzte Chance für die Linkspartei, wieder zu einer relevanten linkssozialdemokratischen Kraft zu werden. Die Frage allerdings lautet aus linker Perspektive: Wäre eine solche Trendumkehr überhaupt wünschenswert?Placeholder infobox-1In den vergangenen Jahren haben sich bei den Linken zahlreiche Programmkonflikte aufgetan mit unvereinbaren Gegensätzen: Ist man für ein bedingungsloses Grundeinkommen oder für mehr Sozialstaat? Für offene Grenzen für alle oder für begrenzte Migration? Bekämpft man eine Pandemie mit harter Regierungskritik oder durch blinde Staatstreue? Soll die Klimakatastrophe im grünen Kapitalismus abgewendet werden oder indem man die Macht der Konzerne bricht? Sahra Wagenknecht, Fabio De Masi und weitere Finanz- und Wirtschaftsexperten haben die aktive Parteiarbeit beendet wegen des Eindrucks, man konzentriere sich in der Außendarstellung zu sehr auf feministische und antirassistische Anliegen unter Ausklammerung der sozialen Frage. Dem Tagesspiegel sagte De Masi in Bezug auf eine mögliche Kandidatur für den Parteivorsitz: „Der politische Betrieb ist hochgradig krank, und ich habe nicht vor, meine Lebenszeit wieder mit Leuten zu verbringen, die jeden Kontakt zur Realität normaler Leute verloren haben.“Innerhalb der Partei haben jene, die De Masi kritisiert haben, seit einiger Zeit das Sagen. Ihr Mantra lautet: „Nicht gegeneinander ausspielen, sondern die Kämpfe zusammendenken.“ Das ist ein ehrenwertes Ziel, das in der Realität aber vorerst gescheitert ist. Den Mitglieder- und Stimmenzugewinnen unter potenziellen Grünen-Wählern stehen Verluste bei der einstigen Stammklientel gegenüber. 2009 errang die Linke laut ARD-Wahltagsbefragung 17 Prozent der Stimmen von Gewerkschaftsmitgliedern, 2021 waren es 6,6 Prozent. 2009 wählten noch 25 Prozent der Erwerbslosen die Linkspartei, 2021 waren es elf Prozent.Die Trennlinie innerhalb der Arbeiterklasse verläuft zwischen einander kaum versöhnlich gegenüberstehenden Milieus. Dafür haben die liberalen Verheerungen der jüngeren Vergangenheit gesorgt. Diese Klassenspaltung ist nun ausgerechnet für die Linke zum existenziellen Problem geworden. Wahrscheinlich hätte die Partei sich frühzeitig entscheiden müssen, was sie sein will: Arbeiter- oder Aktivistenpartei. Die Grünen haben diese Entscheidung längst getroffen. Sie sprechen die besserverdienende, formal hochgebildete, linksliberale Klassenfraktion an. Den Wettbewerb um diese Gruppe kann die Linke nicht mehr gewinnen. Wegen der tief erschütterten Glaubwürdigkeit – sie gilt als Teil des Establishments – wird die Linkspartei kaum mehr erfolgreich umschwenken können zum Branding einer linkspopulären Arbeiterpartei. Eine besonders schlechte Nachricht gibt es zudem für Fans von Rot-Rot-Grün: SPD und Grüne stehen inhaltlich mittlerweile CDU und FDP näher als den Linken.Mehr als 20 Prozent für Linkspartei möglichWarum sollte sich auch bei den Linken nicht die Erkenntnis durchsetzen, dass eine Partei kein Selbstzweck ist? Wer sich den Grünen verbunden fühlt, möge dort Mitglied werden. Alle anderen könnten einen Teil der Linksparteistruktur retten, um etwas Neues aufzubauen. Tatsächlich gibt es in anderen Staaten einige Akteure, denen mit der Konzentration auf eine sozialistische Politik große Wahlerfolge gelangen. Ob Bernie Sanders in den USA (den die Eliten seiner Partei taktisch ausbremsten), Podemos in Spanien, Labour in Großbritannien unter Jeremy Corbyn oder Jean-Luc Mélenchon in Frankreich – in verschiedenen Wahlsystemen und mit unterschiedlichen Akzenten eint diese Projekte ein kompromisslos linkes Profil.Im ersten Wahlgang der französischen Präsidentschaftswahl 2022 erhielt Mélenchon mehr Stimmen von unter 30-Jährigen als Macron und Le Pen. 2019 galt dasselbe für Corbyns Labour-Partei im Vergleich zu den Mitbewerbern. Sanders vereinte die jungen Aktivisten mit den traditionellen Linken.In westlichen Demokratien schwindet das Vertrauen in die Vereinbarkeit von Demokratie und Kapitalismus seit Jahren. Je ärmer ein Mensch ist, umso größer ist zudem die Wahrscheinlichkeit, dass er nicht wählt. Bei der Bundestagswahl 2021 lag der Anteil der Nichtwähler bei 23,4 Prozent. In gehobenen Stadtvierteln verharrt die Wahlbeteiligung seit Jahrzehnten auf hohem Niveau, wie die Hans-Böckler-Stiftung herausfand. Ganz anders ist es in sogenannten sozialen Brennpunkten. In Köln-Chorweiler oder Berlin-Marzahn wählt selbst bei Bundestagswahlen nur noch jeder zweite. Diese Leute sind politisch schwerer zu mobilisieren als junge Klima-Aktivisten aus Hamburg-Blankenese. Doch könnte es sich lohnen, ihnen ein linkes Politikangebot zu unterbreiten, dieses Angebot vor allem aber auch nach einer Wahl glaubwürdig zu vertreten.Heute hat das Proletariat mehr zu verlieren als seine Ketten. Es hat aber noch immer eine Welt zu gewinnen. Die Linken wissen ziemlich gut, wogegen sie sind. Doch wofür genau stehen sie ein? Was ihnen fehlt, ist ein positiver Identifikationspol. In Deutschland könnte eine Zuspitzung auf einen solchen Pol eine neue Partei gebären. Die wäre zwar weniger koalitionsfähig als die derzeitige Linke. Dafür müsste sie nicht dauerhaft unter zehn Prozent landen, sondern könnte bei entsprechender Konsequenz und kluger Personalauswahl im besten Fall mit mehr als 20 Prozent der Zweitstimmen stärkste Kraft werden. Aus dieser demokratisch legitimierten Stärke heraus ließen sich die etablierten Parteien vor sich hertreiben.Ist das naiv, gutgläubig, eine Illusion? Wer das meint, sollte in den Archiven nachlesen, mit welcher Häme sich vor dem Jahr 2007 Menschen konfrontiert sahen, die einer Partei links der SPD das Potenzial attestierten, nach einer Bundestagswahl die stärkste Oppositionsfraktion zu stellen.