Zuneigung und Missachtung liegen manchmal nah beieinander. In kaum einem Bereich des Lebens ist das offensichtlicher als bei der Beziehung zwischen Mensch und Tier. Wenn etwas aus langer Gewohnheit als Norm gerechtfertigt ist, erkennt man das Problem dahinter meist nicht mehr. Ein Kind hält ein vor Angst steifes Kaninchen im Arm und ist dennoch erfüllt von Liebe zu diesem Wesen. Viele Leute mögen jene Hunderassen besonders, die aufgrund einer Überzüchtung nur schwer atmen können. Es gibt Menschen, die im Labor grausame Tierversuche an Katzen praktizieren und der „eigenen“ Katze zu Hause ein delikates Menü zubereiten. Was Tiere angeht, sind wir noch immer eine Sklavenhaltergesellschaft. Das sagt die Schriftstellerin Hilal Sezgin, die kürzl
Martha Nussbaums Tierethik: Jeder nach seinen Fähigkeiten
Ausbeutung Das Verhältnis zwischen Mensch und Tier wandelt sich rasant. Die Philosophin Martha Nussbaum plädiert in ihrem Buch „Gerechtigkeit für Tiere“ dafür, auch Rinder und Kaninchen wie politische Subjekte zu behandeln. Wie könnte das aussehen?

Dürfen wir Tiere töten?
Foto: Roberto Schmidt/AFP via Getty Images
rzlich das auf Kinder ab zwölf Jahren als Lesepublikum zielende Sachbuch Tiere wollen leben! veröffentlicht hat.Es ist ein Versuch, die selbstverständlich erscheinende Ausbeutung nicht-menschlicher Tiere als das zu zeigen, was sie ist: ein großes Unrecht. Das beginnt schon damit, dass Sezgin die Unterscheidung zwischen „Haustier“ und „Nutztier“ hinterfragt. In einer der vielen Grafiken zeigt sie die Diskrepanz zwischen natürlicher Lebensdauer und üblichem Schlachtalter. Ein Hausschwein kann bis zu 20 Jahre alt werden, in der Fleischproduktion wird es aber meist im Alter von sieben Monaten getötet. Eine Gans kann in freier Wildbahn zwischen 30 und 50 Jahre lang leben, stirbt als „Nutztier“ aber meist schon 16 Wochen nach der Geburt. Wer legt fest, welche Tiere gegessen werden und welche nicht? Diese Frage ist eines der Kernanliegen des zugänglich geschriebenen Buches Streicheln oder Schlachten des Soziologen Marcel Sebastian. Wenn eine Gesellschaft sich darauf einigt, dass Hundefleisch nicht auf dem Teller landen soll, dann hat das laut Sebastian nichts mit dem Nährwert oder den Naturgesetzen zu tun. Es ist reine Willkür.Gewerkschaft der GorillasIn Südkorea standen beispielsweise über Generationen hinweg Hunde auf den Speisekarten der Restaurants. Als die Fußball-Weltmeisterschaft 2002 im Land ausgetragen wurde, geriet diese Tradition aufgrund der vielen Touristen aus westlichen Staaten in die Kritik. Viele Südkoreaner empfanden das als Kulturimperialismus, doch hatte schon zuvor ein Bewusstseinswandel unter Jüngeren eingesetzt. Ganz ohne das Eingreifen der Behörden ist heute in Südkorea der Verzehr von Hundefleisch nicht mehr überall geduldet. Die gute Nachricht aus Sicht der Tiere lautet also, dass sich gesellschaftliche Regeln verändern.Selbst unter Tierrechtlern wandeln sich Perspektiven. Galt es jahrzehntelang als üblich, sich für den Schutz „leidfähiger Wesen“ zu engagieren, weitet sich nun der Blick hin zu positiven Eigenschaften. Einen Meilenstein in diese Richtung hat die Philosophin Martha Nussbaum vorgelegt. In ihrem neuen Buch Gerechtigkeit für Tiere wendet sie den gemeinsam mit dem Wirtschaftswissenschaftler Amartya Sen entwickelten „Fähigkeitenansatz“ auf die Tierwelt an. Er besagt, „dass eine Gesellschaft nur dann auch nur annähernd gerecht ist, wenn sie jedem einzelnen Bürger einen Mindestumfang zentraler Fähigkeiten garantiert, die als wesentliche Freiheiten oder Wahl- und Handlungsmöglichkeiten in von Menschen im Allgemeinen sinnvollerweise wertgeschätzten Lebensbereichen definiert sind“.Die meisten Lebewesen verfolgen eigene Ziele. Sie handeln also zukunftsgerichtet oder, in Nussbaums Worten: „Sie haben einen Sinn für Bedeutsamkeit.“ Bislang herrsche die Auffassung vor, dass wir Tiere aus Güte oder Mitgefühl artgerecht behandeln sollten. Nussbaum plädiert hingegen dafür, Tiere als politische Subjekte in das Rechtssystem einzugliedern. Nicht jedes Grundrecht für Menschen lässt sich auf Affen oder Elefanten übertragen. Das Recht auf Gründung einer Gewerkschaft werden Gorillas nicht benötigen, weil ihnen der menschengemachte Widerspruch von Kapital und Arbeit fremd ist. Doch, so fragt Nussbaum, warum sollten sich Gesellschaften nicht auf rechtsverbindliche, bedarfsgerechte Verfassungen für die verschiedenen Tierarten einigen? Als Repräsentanten ließen sich Experten einsetzen, sodass am Ende eine Liste von zu schützenden Fähigkeiten jeder Art stünde.Das klingt naiv? Nun ja, irgendwer muss ja anfangen, das vermeintlich Unmögliche zu denken. Menschen können bekanntlich auch ohne Fleischkonsum ein gesundes und langes Leben führen. Die Zahl der Vegetarier und Veganer steigt in den westlichen Ländern seit Jahren. Auffallend viele von ihnen sind zwischen 20 und 40 Jahre alt, weiblich und formal hoch gebildet. Sie haben einen Einfluss auf die öffentlichen Debatten. Die aktuell gängige Begründung für ein fleischfreies Leben ist neben den Auswirkungen auf das Klima jenes ethische Argument, das Nussbaum so formuliert: „Wir Menschen glauben, dass wir, weil wir uns hier vorgefunden haben, das Recht besitzen, den Planeten zu nutzen und Teile davon als unser Eigentum zu betrachten. Doch wir sprechen anderen Tieren das gleiche Recht ab, obwohl ihre Situation dieselbe ist.“ Sie verbindet den existenzialistischen Gedanken des Geworfenseins mit der Verantwortung des Menschen, der sich zur mächtigsten Kreatur der Welt entwickelt hat.Dieses Machtgefälle wird sich mittelfristig nicht komplett beseitigen lassen. Wenn Tiere laut einer Verfassung das Recht auf bestmögliche medizinische Versorgung erhielten, dann bräuchte es auch weiterhin Zwang, wenn Impfungen, Entwurmungen, Medikamentengaben oder Operationen nötig würden. Auch weniger eindeutige Fragen blieben noch lange Zeit in der Entscheidungsgewalt des Menschen. Zum Beispiel die Frage der Kastration: Steht nicht jedem Lebewesen das Recht auf ein erfülltes Sexualleben zu? Der Fortpflanzungstrieb ist schließlich angeboren. Hier käme die Überlegung ins Spiel, dass die Nachkommen vieler unter Menschen sozialisierter Tierarten bei unkontrollierter Vermehrung in Freiheit ein leiderfülltes Leben hätten. Straßenhunde und -katzen in Süd- oder Osteuropa liefern davon ein trauriges Bild. Diese Zustände hat der Mensch verschuldet, und darum läge es in seiner Verantwortung, entsprechende Kastrationsprogramme zu finanzieren.Die über Jahrhunderte gewachsene Nähe zum Menschen hält einige Tierarten in Unfreiheit. Das gilt unter anderem für Kaninchen, denen vom Menschen eine weiße Fellfarbe angezüchtet wurde und die darum in Freiheit leicht von Fressfeinden erspäht würden. Hausgänse sind wegen der Profitbedürfnisse der Fleischindustrie inzwischen so schwergewichtig, dass sie nicht fliegen können. Auch Katzen und Hunde sind ohne Menschen kaum lebensfähig. Diese Tiere können sich nur in unserer Obhut im Sinne des Fähigkeitenansatzes entwickeln. Sollte sich im Laufe der Zeit eine Rasse herausbilden, die ohne Menschen ein gutes Leben führen kann, ändert sich auch diese Einschätzung. Exempel dafür sind Wildpferde, deren Entwicklung jedoch lange Evolutionszeiträume gebraucht hat.Kabeljau und KarotteMarcel Sebastian erinnert in seinem Buch an die kleinen Fortschritte. Binnen weniger Jahrzehnte habe sich beispielsweise der Standpunkt durchgesetzt, nach dem es nicht mehr egal ist, wie Tiere in der Fleischproduktion sterben. Noch gebe es leider die Massentierhaltung, doch werden Grenzen derzeit neu gezogen. Dabei haben jene Tierarten einen Nachteil, deren Empfindungen und Fähigkeiten noch relativ wenig erforscht sind. Noch immer gibt es „Vegetarier“, die Fisch essen, so als bestünde ethisch gesehen kein Unterschied zwischen einem Kabeljau und einer Karotte. Und auch wenn der Fleischkonsum der Deutschen nicht ansteigt, so nimmt der Fleischexport aus Deutschland doch zu. Aber: Vegane Fleischalternativen seien noch vor Kurzem hämisch verlacht worden, die hohe Nachfrage habe diese Produkte dennoch in den Supermärkten etabliert. Einen Aufschwung erlebe auch das Konzept der Lebenshöfe, auf denen aus Schlachtereien gerettete Tiere ein erfülltes Leben führen können. Zuletzt erhielten Tierrechtsaktivisten vor Gericht sogar einen Freispruch, nachdem sie in Fleischbetriebe eingebrochen waren und systematische Tierquälerei dokumentiert hatten. Wenn sogar im Kapitalismus bisweilen das Recht auf Privateigentum nicht mehr schwerer wiegt als das Recht der Tiere auf eine halbwegs würdige Haltung, dann kann ja nicht alles schlecht sein.Placeholder infobox-1