Sozialproteste: Die Gelbwesten haben es vorgemacht

Aufstand Ob Rechte die kommenden Sozialproteste vereinnahmen können, entscheidet auch die Linke. Sie wird lernen müssen, Widersprüche auszuhalten. Sören Pellmann geht voran
Exklusiv für Abonnent:innen | Ausgabe 33/2022

Joy Fleming schrie sich Ende der 1970er im für sie typischen kurpfälzischen Dialekt den Frust von der Seele. Ich sing fer’s Finanzamt heißt einer ihrer erfolgreichsten Titel. Als Selbstständige bleibe ihr zu wenig Netto vom Brutto, beklagte sie in ihrem Bluesrock-Song: „Mer werd jo schun beinah g’strooft, wenn mer schafft, statt dass mer schlooft!“ Im Standarddeutschen heißt das: Wer arbeite, statt auf der faulen Haut zu liegen, sei der Dumme.

Damit traf Joy Fleming in Zeiten einer SPD/FDP-Bundesregierung das Selbstbild des deutschen „Mittelständlers“, wie es bis heute vorherrscht. Man sieht sich als Melkkuh, die Steuern zahlt und im Vergleich zur „Unterschicht“ keine Sozialleistungen bezieht. Deshalb verwundert es kaum, dass der aktuellen SPD/FDP/Grüne-Bundesregierung zur Bewältigung der Inflations- und Energiekrise bislang nicht mehr einfällt, als um steuerliche Entlastungen zu ringen (lesen Sie hierzu den Text auf Seite 4). Dabei geböte es die Vernunft, sich in Zeiten wie diesen eine Pointe des Kabarettisten Volker Pispers zu Herzen zu nehmen: „Die Steuern müssen nicht gesenkt werden. Die Steuern müssen bezahlt werden!“

Dahingehend aufschlussreich ist ein in der Süddeutschen Zeitung erschienenes Interview mit dem grünen Wirtschaftsminister Robert Habeck. Darin sprach er auch über die Gasumlage von rund 2,4 Cent pro Kilowattstunde, die ab Herbst alle Verbraucher zusätzlich zu den explodierten Preisen zahlen müssen und die den Energiekonzernen zugutekommen soll: „Die Alternative wäre gewesen, dass Gasimporteure insolvent gehen und damit die Gasversorgung zusammenzubrechen droht.“ Dabei wäre kaum Fantasie nötig, um auf andere Ideen zu kommen. Zum Beispiel darauf, dass die Wiedereinführung der 1996 suspendierten Vermögenssteuer gerade jetzt ein sozial befriedendes Signal senden könnte. Doch davon ist nichts zu hören aus den Reihen der Regierung.

In besagtem Gespräch verspricht Robert Habeck, Geringverdiener würden „von den Mehrkosten für Energie durchschnittlich voll entlastet“ werden, nur um genau das kurz darauf zu verwerfen, indem er auf die FDP verweist: „Unter den politischen Rahmenbedingungen, unter denen diese Koalition arbeitet – keine Steuererhöhungen, nächstes Jahr ein ausgeglichener Haushalt –, ist die Umlage die logische Konsequenz.“ Wenn Habeck so tut, als gäbe es keinen Spielraum dafür, unter neuen Rahmenbedingungen neu zu verhandeln, dann stiehlt er sich aus der Verantwortung. Mit fatalen Folgen: Weil nun viele deutsche „Mittelständler“ nach unten treten, blicken sie nicht nach oben. Wer davon profitiert? Nun ja.

Der sozialpolitische Sprecher der AfD-Bundestagsfraktion teilte kürzlich mit, „Familien und Normalverdiener“ könnten „ihre laufenden Ausgaben nicht mehr bezahlen“. Dann knüpfte er die beim deutschen „Mittelständler“ verfangende Kausalkette, die Regierung verteile aktuell lieber „alle möglichen Milliardenhilfen in alle Welt“. Solch skurrile Aussagen bleiben stehen, wenn eine Bundesregierung die Alternativlosigkeit predigt und eine linke Bewegung nicht in Sicht ist. Ein Sprecher des Bundesinnenministeriums sagte der Berliner Zeitung, dass „Kreise, die schon die Corona-Proteste geprägt haben, auf der Suche nach neuen Themen mit Protestpotenzial“ seien. Es fällt schwer, die klammheimliche Freude zwischen den Zeilen zu überhören. Die Sozialproteste, vor denen sich die Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne) nach eigenem Bekunden fürchtet, könnten von rechts vereinnahmt werden.

Daraus lässt sich der Schluss ziehen, jede Demonstration zu verlassen, sobald im Block die erste Reichsflagge weht. Dann hätte Baerbock keinen Grund mehr zur Sorge; und in den Bundesministerien dürften Sektkorken knallen, weil deren mutmaßliche Kalkulation mit den Rechten als nützlichen Idioten des Kapitals aufgegangen wäre. Wenn die Proteste dagegen die Bundesregierung zu mehr sozialer Gerechtigkeit zwingen sollen, darf es bei Demos diesmal keine Reinheitsgebote geben. Solange keine rechten oder verschwörungsideologischen Kräfte als Mitveranstalter oder Redner bei Kundgebungen auftreten, werden die Linken über ihren Schatten springen und Widersprüche aushalten müssen, wenn sie etwas bewegen wollen. So, wie es vor ein paar Jahren in Frankreich die Gelbwesten mit ihren Protesten vorgemacht haben.

Sören Pellmanns Aufruf

Im kollektiven Kurzzeitgedächtnis ist diese Bewegung als „rechts“ gespeichert, weil es antisemitische Vorfälle gab und der Arc de Triomphe in Paris beschädigt wurde. Dass mehr als 20 Menschen durch Polizeigewalt ein Auge verloren haben, geht dabei unter. Ebenso, dass in einem demokratischen Land mit staatlichem Gewaltmonopol die Anforderungen an Verhältnismäßigkeit bei den Ordnungskräften immer höher anzusetzen sind als bei der Zivilbevölkerung. Erst recht ging unter, dass die Gelbwesten einige Erfolge vorzuweisen haben. Frankreichs Präsident Emmanuel Macron musste manche seiner umstrittenen Reformideen fallen lassen.

In der Geschichte verliefen Proteste fast nie nach linkem Morallehrbuch. Nach den neoliberalen Verheerungen der vergangenen Jahrzehnte ist auch nicht mit durchgehend friedlichem Protest zu rechnen. Darum ist es herablassend, wenn besserverdienende SPD- und Grünen-Wähler ausgerechnet von jenen eine differenzierte Kapitalismuskritik verlangen, die durch die Politik ebenjener Parteien erst aus dem Bildungssystem eliminiert wurden und seither im Niedriglohnsektor um ihre Existenz kämpfen müssen.

Wo also bleibt die linke Mobilisierung? Immerhin hat der Leipziger Bundestagsabgeordnete Sören Pellmann bereits zum Widerstand aufgerufen: „Die Menschen sollten sich wehren. Wir brauchen neue Montagsdemos im Osten wie damals gegen Hartz IV.“ Der neue Bundesvorsitzende der Linkspartei, Martin Schirdewan, hatte zuvor einen „heißen Herbst“ angekündigt. Doch wie glaubwürdig sind solche Aussagen aus einer Partei, die in der Corona-Krise bisher jeden Lockdown mitgetragen hat? Sollte es tatsächlich zu Massenprotesten kommen, wäre die Demonstrationsschar kaum weniger heterogen und zornerfüllt als die französischen Gelbwesten. Dann würde sich zeigen, wie gut die gesellschaftliche Linke darauf vorbereitet ist. Zumindest von der Partei, die sich „Die Linke“ nennt, ist derzeit keine Unterstützung zu erwarten. Im Dezember 2018 sagte der damalige Linkspartei-Chef Bernd Riexinger dem Redaktionsnetzwerk Deutschland in Bezug auf die Gelbwesten: „In Deutschland wäre eine solche Verbrüderung linker und rechter Gesinnung nicht denkbar.“

Die französische Schriftstellerin Annie Ernaux sprach sich damals im Interview mit der Zeit für die Unterstützung aus: „Ich finde es sehr einleuchtend, wenn die Gelbwesten sagen, ihr kümmert euch ums Ende der Welt, aber nicht ums Ende des Monats, an dem uns das Geld ausgeht.“ Zu militanten Aktionen auf den Champs-Élysées sagte sie, dort werde kein Pullover unter 500 Euro angeboten: „Wenn man so lange nicht gehört wird, ist offensichtliche Gewalt vielleicht nicht gerade gerechtfertigt, aber verständlich. Ich habe wegen dieser Boutiquen und Banken nicht allzu viele Tränen vergossen.“ Wenn es den deutschen Linken und Linksliberalen in allen und außerhalb aller Parteien ernst sein sollte mit dem Ziel einer Abwehr eines sozialen Rückschritts, sollten sie weniger Joy Fleming hören und mehr Annie Ernaux lesen.

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