Was sind das für verrückte Zeiten: Da fiebern die Linken mit Angela Merkel, auf dass sie Bundeskanzlerin bleiben möge, damit kein klassischer Bösewicht an die Macht gelangt. Und ausgerechnet die Rechten fordern das, was noch vor wenigen Jahren jeder Linke sich auf die Fahnen geschrieben hätte: „Merkel muss weg!“ Ursächlich für diese verkehrte Welt ist eine durch Linke und Rechte längst zum Mythos verklärte Episode aus dem Sommer 2015, als Merkel sich angesichts eines Ansturms auf die EU-Außengrenzen entschied, den vielen Flüchtenden die Möglichkeit zur Einreise nach Deutschland nicht zu verweigern.
Seitdem hat die CDU-Vorsitzende mehrmals das Asylrecht verschärft und einen Deal zur Flüchtlingsabwehr mit dem türkischen Autokraten Erdogan ausgehandelt. Von wachsenden ökonomischen Unterschieden zwischen Arm und Reich, von ihrer Lobbyarbeit für die Konzerne und von der Verschärfung ökologischer Probleme muss gar nicht erst die Rede sein, um zu erkennen, dass keine tagespolitische Forderung aus deutscher Sicht so dringend erscheint wie: Merkel muss weg! Doch um die Rechten zurückzudrängen, versammelt sich die staatstragend-liberale Schicksalsgemeinschaft geschlossen hinter Merkel. Von tonangebenden Teilen der Linkspartei über die Grünen bis zur SPD wehren alle die Kritik an der Kanzlerin als verkürzt und populistisch ab.
Was geschieht, wenn jemand diesen befremdlichen Merkel-Konsens in Frage stellt, das erfährt der YouTuber Rezo in diesen Tagen. In seinem Video „Die Zerstörung der CDU“, das bis Freitagabend mehr als acht Millionen Mal aufgerufen wurde, springt der bislang nicht als Politaktivist aufgefallene Influencer eine knappe Stunde lang von Politikfeld zu Politikfeld. Unter Aufbietung zahlreicher Quellen kommt er zu dem Ergebnis: Wer CDU, CSU, SPD, AfD oder FDP wählt, der entscheidet sich aktiv und bewusst für die Klimakatastrophe, für die Drangsalierung der Armen, für die Brutalisierung der Lebensverhältnisse, für das Ende der Demokratie.
Konstruktiv war gestern
Man mag kritisieren, dass Rezo unterschwellig zur Wahl der Grünen aufruft – und damit für eine Partei wirbt, die Kriege und Sozialabbau zu verantworten hat, ohne dass sie glaubwürdig den Eindruck erweckt, es im Falle einer Regierungsbeteiligung anders machen zu wollen. Dennoch sind es erstaunlich ernste Worte von einem 26-Jährigen mit lustigen blauen Haaren. Im Internet lassen sich viele zustimmende Kommentare finden. Natürlich schlugen auch die herrschenden Eliten aus Medien und Politik zu. Verkürzt und populistisch sei das alles, schrieben die erzürnten Alpha-Journalisten. Jasper von Altenbockum, leitender Redakteur der F.A.Z., nennt das Video eine „Hetzkampagne“. Zeit-Online-Kolumnistin Lisa Nienhaus teilte mit, das Anschauen des Videos bereite jedem körperliche Schmerzen, „der Wert auf differenzierte Argumente legt“.
Und die CDU? Die kündigte vollmundig ein Antwort-Video durch ihre große Nachwuchshoffnung Philipp Amthor an, machte dann aber einen Rückzieher. CDU-Chefin Annegret Kramp-Karrenbauer ließ twittern: „Ich habe mich gefragt, warum wir nicht eigentlich auch noch verantwortlich sind für die sieben Plagen, die es damals in Ägypten gab.“ Die CDU-Bundestagsabgeordnete Jana Schimke wiederum verbreitete bei Twitter: „Dieser Generation stehen alle Türen offen, weil sie im Wohlstand aufwächst. Krieg, Diktatur und Unterdrückung musste sie NIE am eigenen Leib erfahren – und das ist auch ein Verdienst der CDU“. CDU-Generalsekretär Paul Ziemiak bot Rezo ein persönliches Treffen an, denn die Stärke der CDU sei ja nicht die polemische Verkürzung, sondern das konstruktive Gespräch.
Ein Vorschlag, so typisch wie bezeichnend: Hat das Establishment wirklich keinen Schimmer davon, wie erdrückend schlecht es sich als Beschäftigter im Niedriglohnsektor leben lässt? Wie es ist, als Flüchtling in ständiger Angst vor der Abschiebung in einer nach Urin und Kot stinkenden Turnhalle hausen zu müssen? Wie es sich anfühlt, in einem „Frieden“ zu leben, der durch Waffenexporte an Schurkenstaaten wie Saudi-Arabien erkauft ist und im Jemen eine humanitäre Katastrophe ausgelöst hat? Solche und weitere Zusammenhänge, die Rezo offengelegt hat, verschleiert eine liberal-populistische Front, die mit blauen EU-Hoodies vor der Europawahl einen kontinentalen Hurra-Patriotismus zelebriert, der jeden vernunftbegabten Menschen schaudern lässt.
Weiß das Establishment wirklich nicht, wie es brodelt und gärt im Land? Das „konstruktive Gespräch“, das Ziemiak ebenso großmütig wie hochmütig anbietet, ist genau die Art politischer Auseinandersetzung, die seit vielen Jahrzehnten alles nur noch schlimmer gemacht hat, als es im Kapitalismus ohnehin schon immer war. Was insbesondere die politisierte Jugend heute verlangt, sind radikale Veränderungen. Nicht schrittweise bis zum Jahr 2050, nicht im Laufe irgendeiner Legislaturperiode, sondern sofort.
Klassischer Fall von Fake News
Sie jubeln, schreien, feiern, brüllen – und nutzen den Regelübertritt des Schulschwänzens für ihre Sache. Ein Jugendlicher deklamierte kürzlich bei der Klimarettungsdemonstration „Fridays for Future“ in Berlin: „Tut etwas. Nicht morgen, nicht heute. Jetzt!“ Auf den Transparenten prangten Sprüche wie: „Warum lernen, wenn wir keine Zukunft haben?“ Plötzlich stand da mitten unter den Teenagern – der amtierende Bundeswirtschaftsminister. Der Mann wollte nach oben, aufs Podium, das Wort ergreifen, sich mit diesen Teenagern verbünden.
Er suchte die Kameras, lächelte, winkte. Auf die Bühne durfte er trotzdem nicht. Der dort schon stand, fauchte ihm durch das Mikrofon entgegen: „Herr Minister Altmaier, gehen Sie zurück in Ihr Büro und erledigen Sie die Sachen, die zu tun sind.“ Jubel brandete auf, Altmaier lächelte und winkte noch immer. Beim Abgang stauchte er im scheinbaren Schutz vor den Kameras seine Mitarbeiter zusammen. Kurz darauf veröffentlichte sein Ministerium bei Twitter einige Fotos, die den Eindruck erweckten, er sei von den Jugendlichen freundlich empfangen worden.
Ein klassischer Fall von Fake News jener Sorte, die schon viele Menschen entweder in die Arme der Rechtspopulisten oder in die politische Apathie geführt hat. Aber diese Jugendlichen wählen weder die AfD, noch wenden sie sich im berechtigten Weltekel komplett von der Politik ab. Anstatt das als Bereicherung der durch Eliten fragil gemachten Demokratie zu bejubeln, stürzte sich die Medienmeute auf die angeblich unreifen und undifferenzierten Kinder.
Dabei ist es erst drei Jahre her, dass die alle vier Jahre erstellte Jugendstudie des SINUS-Instituts zu dem Ergebnis kam: Noch nie seit Gründung der Bundesrepublik ist die Jugend in Deutschland so wenig rebellisch gewesen wie heute. Im Gegensatz zur ebenfalls alle vier Jahre erscheinenden Shell-Jugendstudie ist diese soziologische Untersuchung im Sinne der Statistik nicht repräsentativ, weil nur 72 Jugendliche zwischen 14 und 17 Jahren dafür befragt werden. Die langen und persönlichen Interviews erlauben Forschern aber einen guten Einblick, wie Teenager „ticken“.
Strebsam, pragmatisch und fast schon überangepasst erscheinen demnach die jungen Leute. Die Sehnsucht nach Geborgenheit und Orientierung in einer zunehmend unübersichtlichen Welt lasse Jugendliche eine ungewöhnlich große Nähe zur Elterngeneration suchen, lautet eine Erklärung der Forscher. Junge Deutsche fühlen sich demnach kaum mehr Jugendsubkulturen zugehörig, die auf Abgrenzung und Provokation setzen. „Der Begriff des Mainstreams ist bei den meisten Jugendlichen kein Schimpfwort mehr“, heißt es in der Studie. Also alles nur ein Missverständnis?
Willy Brandt würde heute rausfliegen
Ganz so einfach ist es nicht. Schon zur Zeit der Tütenlampen und Nierentische beschrieb der Soziologe Helmut Schelsky die Jugend der Bundesrepublik in den 50er Jahren als „skeptische Generation“, die konservative Werte hochhalte und politischen Ideologien gegenüber zurückhaltend agiere. Es dauerte bekanntlich nur wenige Jahre, bis der Vietnam-Krieg begann und ein relevanter Teil ebendieser und der folgenden Generation sich links der Mitte politisierte und eine Liberalisierung der Gesellschaft ebenso anstieß wie sie die Aufarbeitung der Nazi-Zeit entscheidend vorantrieb. 1969 war es schließlich vor allem den Jüngeren zu verdanken, dass mit Willy Brandt ein Sozialdemokrat zum Bundeskanzler gewählt wurde, dem in der heutigen SPD wegen Linksabweichung ein Parteiausschlussverfahren blühen würde.
Für die heutigen Teenager stellte der Sozialwissenschaftler Hans Bertram 2014 in einem Interview mit dem Deutschlandfunk fest, dass im flexiblen Kapitalismus unserer Tage auf Jugendliche ganz andere Erwartungen zukommen als noch vor Jahrzehnten: „Das Eine ist, dass man von ihnen erwartet, dass sie relativ hohe Qualifikationen in die Berufswelt einbringen. Und gleichzeitig erwartet man von ihnen aber auch, dass sie für die ältere Generation eine stabile Basis darstellen, damit die ältere Generation in relativem Wohlstand alt werden kann.“
Während zur Zeit der westdeutschen Bildungsexpansion ab den 60er Jahren noch kein Bachelor-Master-Studium existierte und der soziale Aufstieg für Arbeiterkinder für eine sehr kurze und in der Geschichte des Kapitalismus einzigartige Phase möglich wurde, sind die sozialen Klassenschranken heute wieder unten. Der medial-politische Deutungszirkus dreht gerade darum derzeit so frei, weil die Politisierung der Jugend sich so überraschend und eruptiv entlädt.
Eine unfrohe Botschaft der Bologna-Bildungsreform lautete: Durch die Arbeitsverdichtung und Verschulung des Studiums nehmen wir diesen jungen Leuten den Freiraum zur Entfaltung ihrer Persönlichkeit, damit sie nur an ihre Karriere denken und sich umso bereitwilliger zur wirtschaftlichen Verwertbarkeit abrichten lassen. Die frohe Botschaft der Gegenwart lautet: Diese Rechnung ist bislang nicht aufgegangen .
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