Schaffe, Affe

Leistungswahn César Rendueles reist literarisch durch die Geschichte des freien Marktes
Ausgabe 06/2019

Lesen ist ein subversiver Akt. Es ist „Denken mit fremdem Gehirn“, wie der Schriftsteller Jorge Luis Borges einmal sagte. Wer sich mit erfundenen Geschichten befasst, versetzt sich in andere hinein und erkennt im besten Fall, dass jede Existenz wandelbar ist. Gleiches gilt für das Politische: Was von Menschen geschaffen wurde, kann von Menschen auch verändert werden. Leider lesen viele deutsche Linke fast nur Sachbücher. Ihnen ist die Belletristik fremd, weil sie immer auf der Suche sind nach Anleitungen zur Revolution.

Das neue Buch des spanischen Soziologen César Rendueles birgt das Potenzial, in manchem dieser kunstfremden Aktivisten den Appetit auf die Literatur zu wecken. In Kanaillen-Kapitalismus erkundet Rendueles, wie er schreibt, „unsichtbares Gelände, auf dem sich Geschichte, Alltag und Fiktion miteinander verschränken“. Anhand von Romanen, Lyrik und Theaterstücken aus seiner Lesebiografie entwirft der Autor eine Chronik der freien Marktwirtschaft, die verblüffende Zusammenhänge herstellt, aufschlussreiche Erkenntnisse anbietet und darüber fast schon selbst zur Literatur wird.

Robinson, neoliberales Subjekt

In der vorzüglichen Übersetzung von Raul Zelik stehen dann Notizen heraus wie diese: „Ich erinnere mich daran, dass ich in den ersten Monaten morgens immer um acht Uhr in die U-Bahn stieg, um ins Büro zu fahren, und fassungslos die anderen Fahrgäste beobachtete, die wie ich in den Tunnel starrten. Wollte wirklich niemand die Notbremse ziehen? Wollte niemand diesen Wahnsinn stoppen?“ Die Überlegung entstammt einem Kapitel, in dem Rendueles am Beispiel von Romanen wie Oliver Twist von Charles Dickens (1839), John Steinbecks Früchte des Zorns (1939) und Danny oder Die Fasanenjagd von Roald Dahl (1975) jene Ideologie auseinandernimmt, die den Lohnsklavenmarkt mit dem verniedlichenden Ausdruck „Arbeitsmarkt“ bedacht hat.

Rendueles geht anekdotisch vor, er flaniert gedanklich vom einen Buch zum nächsten, und er bleibt immer wieder stehen, wenn ihm auf dem Weg ein Aspekt des Kapitalismus besonders augenfällig erscheint. Dann geht er erst weiter, wenn deutlich geworden ist, wie dieses Wirtschaftssystem sich auf das Leben der Mehrheit auswirkt – und wie wir alle bei diesem verheerenden Spiel mitmachen.

Robinson Crusoe von Daniel Defoe (1719) liest Rendueles als Geschichte eines Mannes, „der am Ende die neue Moral akzeptiert, die mit der Durchsetzung des Handels und einer nicht auf Empathie, Tradition und Gemeinschaftsgefühl, sondern auf egoistischem Interesse beruhenden Freundlichkeit verbunden ist“. Im Roman dauert es tatsächlich nicht allzu lange, bis sich der schiffbrüchige Kaufmannssohn so komfortabel eingerichtet hat, dass er nicht mehr wird arbeiten müssen „für die ganze Dauer meines Aufenthaltes auf der Insel, und wenn er auch noch vierzig Jahre dauern sollte“.

Dennoch plagt und müht und schindet er sich weiter, teilt sich seinen Tag penibel ein in Leistung, Schlaf und Freizeit. Robinson darf, kann, will einfach nicht aufhören zu malochen, seine eng getakteten Ruhepausen dienen nur dem Krafttanken für die freudig erwartete nächste Schicht. Warum nur diese unbändige Arbeitswut, fernab der gesellschaftlichen Anerkennung und weit weg von jedweder Existenznot? Für Rendueles ist es die Idee des freien Marktes selbst, die dem Sozialleben insbesondere der Bevölkerung im sogenannten Globalen Norden „tödliche Dosen von Wahn und Irrationalität“ injiziert.

Auf die Frage nach ihrer bedeutendsten politischen Leistung antwortete Margaret Thatcher einmal: „Tony Blair und New Labour“. Der sozialdemokratische Premierminister vollendete ab 1997, was die konservative Premierministerin zuvor seit 1979 vorbereitet hatte. Großbritannien war von einer Gesellschaft zu einem Konkurrenzstaat geworden. Es zog den westlichen Kapitalismus hinein in das neue Paradigma. Jeder soll seitdem danach streben, Eigentümer zu werden. Niemand darf sich mehr auf soziale Sicherheiten verlassen. Alle müssen miteinander in Wettbewerb treten. Millionen von Menschen identifizieren sich heute weniger mit ihrem Nachbarn als mit den Wirtschaftseliten.

Also mit Leuten wie Patrick Bateman, der Hauptfigur in Bret Easton Ellis’ berühmtem Roman American Psycho (1991). Schon als 27-Jähriger ist Bateman steinreich. Tagsüber arbeitet er bei einer Investmentfirma. Nachts mordet er. Er sticht einem Obdachlosen die Augen aus, er schneidet ein Callgirl mit dem elektrischen Küchenmesser auseinander, und er häutet eine Prostituierte bei lebendigem Leib. „Man muss schon ein ziemlicher Psychopath sein, um so zu leben“, schreibt Rendueles über die Existenz dieses schwer gestörten Typen. Damit meint er nicht nur Batemans Aktivitäten nach Sonnenuntergang, sondern auch dessen beruflichen Werdegang, der ihm viel Ruhm und noch mehr Reichtum eingebracht hat.

Geburt als Glückslotterie

„Neoliberale Globalisierung“, resümiert Rendueles, „ist der historische Prozess, in dem 99 Prozent von uns freiwillig die Kontrolle über unser Leben an Fanatiker abgetreten haben. Wir haben Menschen, die eigentlich auf eine vom FBI umstellte Ranch in Waco, Texas, gehören, mit Führungspositionen in der Wirtschaft belohnt.“ Zeit, den Wahnsinn zu stoppen? Leicht wird das nicht. Denn „das Bürgertum“ ist, in den Worten des Schriftstellers Dietmar Dath formuliert, „entweder faul genug, sich betrügen zu lassen, oder vom Geburtszufall ausgelost worden, die im ganzen seltene, vorläufig aber noch ganz erträgliche Elendsgewinnlerei betreiben zu dürfen, an der dieses Ganze krankt“.

Info

Kanaillen-Kapitalismus. Eine literarische Reise durch die Geschichte der freien Marktwirtschaft César Rendueles Suhrkamp 2018, 300 S., 18 €

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