Beim Essen gibt es kaum eine größere Provokation als einen Menschen, der auf Fleisch verzichtet. Sitzt jemand am Tisch, auf dessen Teller kein totes Tier liegt, dann fangen binnen weniger Minuten die Sticheleien an. Soso, man ernähre sich also pflanzlich! Da sei wirklich nur wenig Sahne drin. Wie, auch keine Eier? Aber Fisch gehe noch, oder? Selbst wer sich ruhig verhält, kein Wort sagt, das Thema gar nicht erst aufkommen lassen will, muss mit Kommentaren rechnen. Manchmal wandert der Blick auf die Schuhe des fleischfrei Speisenden. Die bestehen doch nicht etwa aus Leder?! Und welche Kosmetik verwende man eigentlich? Man brauche doch auch manchmal Medikamente? Ohne Tierversuche gäbe es das alles gar nicht!
Wer einem Vegetarier oder einer Veganerin gegenübersitzt, betreibt häufig viel Aufwand, um ihm oder ihr Inkonsequenz nachzuweisen, Moralismus zu unterstellen, Heuchelei vorzuwerfen. Wer dagegen alle Fragen kontert, gilt als Rechthaber. Die bloße Existenz eines Veganers sorgt für Unruhe, weil sie der Beweis dafür ist, dass der Mensch auch gesund und glücklich leben kann, ohne Tiere zu töten oder zu quälen. Warum verhätscheln, streicheln, lieben wir Hunde und Pferde, lassen aber zu, dass Ferkel ohne Narkose kastriert und Küken geschreddert werden? Wieso beklagen wir in zoologischen Gärten unwürdige Gehege, schieben uns aber gleich darauf an der Imbissbude eine Bratwurst rein?
Im Alltag fällt diese Verdrängungsleistung kaum auf, weil insbesondere die westliche Kultur auf die Ausplünderung leidfähiger Wesen ausgerichtet ist: Make-up, Wein, Chips, Gummibärchen – fast überall ist irgendwas vom Tier enthalten. Wir wollen nicht wissen, wie viele Rinder unter Schmerzen sterben. Wie viele Hühner auf engstem Raum zusammengepfercht sind. Wie häufig der Schlachtschussapparat den Dienst versagt. Wie die Schreie der Schweine in Todesangst klingen. Das essbare Tier muss fremd bleiben, was sich schon an der Sprache zeigt: Wir sagen „saufen“ statt „trinken“, „fressen“ statt „essen“, „Maul“ statt „Mund“.
Noch fehlt das leckere Fett
Immer mehr Leute hinterfragen diese angeblichen Selbstverständlichkeiten. Darum ist eine bestimmte Behauptung längst zum Ritual geworden: „Ich esse auch nur noch ganz wenig Fleisch.“ Das passt nun nicht mit dem empirischen Befund zusammen, wonach der Fleischkonsum in Deutschland seit 1991 ziemlich konstant bei jährlichen 60 Kilogramm pro Kopf liegt, zumal die Vegetarier und Veganer hier schon mitgezählt sind. Und von denen gibt es immer mehr. In Deutschland sind etwa acht Millionen Menschen Vegetarier, etwa eine Million lebt vegan. Fleischfreie Ernährung ist also weit davon entfernt, Mainstream zu sein. Allerdings kommen Schätzungen zufolge täglich etwa 2.000 Vegetarier und 200 Veganer hinzu. Das spricht für einen Trend. Und es erzeugt sozialen Druck.
Der äußert sich bislang nicht nur in Schutzbehauptungen, sondern auch in sozialchauvinistischen Vorschlägen, vor allem von Teilen der politischen Linken. Besonders beliebt sind Forderungen nach höheren Fleischpreisen oder nach einer gesetzlichen Einschränkung des Fleischkonsums. Weil parallel nicht von Einkommens- und Vermögensumverteilung die Rede ist, wäre das ein Rückschritt in feudale Zeiten, in denen die Armen ihren Kanten Brot hatten, derweil die oberen Zehntausend ihre Spanferkelfeste feierten.
Es müsste also möglich sein, bezahlbar Fleisch zu essen, ohne das Klima zu zerstören und Tiere zu töten. Was vor wenigen Jahren noch nach Hirngespinst klang, wird aktuell unter kapitalistischen Spielregeln zur Realität. 2013 präsentierte der niederländische Physiologe Mark Post der Öffentlichkeit das erste Steak, für das kein Tier gestorben war. Das Problem: Posts Fleischpatty soll circa 300.000 Euro gekostet haben. Hängen geblieben ist aber erst mal das Versprechen vom schlachtfreien Genuss.
Der Journalist Hendrik Hassel beschreibt dieses Versprechen in seinem gerade erschienenen Buch Neues Fleisch. Essen ohne Tierleid – Berichte aus der Zukunft unserer Ernährung. In zwölf kurzen Kapiteln bietet Hassel eine faktengesättigte und trotzdem zugänglich geschriebene Reportage mit lauter guten Nachrichten. Er hat etwa den Unternehmer Stephan Hansen in Niedersachsen besucht, der früher Tierhalter mit 60.000 Hühnern war und dann zum „Fleischbrauer“ geworden ist. Zwölf runde Kessel stehen in seiner Halle, die Hansen als „Fleischkultivatoren“ bezeichnet.
Aus der Wand ragen kleine Rohre. Darin fließen Aminosäuren, Vitamine und Glukose. In den Tanks liegen Muskelfasern in rosa Flüssigkeit. Binnen weniger Wochen wächst hier das Fleisch. Ein Problem besteht bislang darin, dass dieses Fleisch nur aus Muskelzellen besteht. Das Fett als Geschmacksträger fehlt. Und die große Frage lautet: Wie kriegt man all das nicht nur besser hin, sondern auch billiger?
Um das herauszubekommen, ist Hassel nach Israel gereist. Dort arbeiten mehrere Start-ups daran, das tierleidfreie Fleisch mit dem Konsumkapitalismus in Einklang zu bringen. Sie nennen es „Clean Meat“, also sauberes Fleisch. Sie verwenden neben Muskelzellen auch Blutgefäße, Zwischengewebe und Fettzellen. Entscheidend sei, eine kostengünstige Lösung für das Nährmedium zu finden. Laut Berechnungen mache diese Flüssigkeit 80 Prozent des Preises von Kulturfleisch aus.
FGF-2 beispielsweise ist ein Wachstumsfaktor, der im Nährmedium zum Einsatz kommen kann. Es wird aus den Zellen lebender Tiere gewonnen. Das Protein muss jedoch für jeden Zelltyp optimiert werden, was den Herstellungsprozess sehr aufwendig macht. Ein Gramm davon kostet derzeit zwei Millionen US-Dollar. Mark Post vergleicht die Substanz mit Insulin, das für 300 US-Dollar verkauft werde, obwohl es strukturell komplexer sei als FGF-2. Der medizinische Markt sei eben „verrückt“, aber das könne sich ändern.
Hendrik Hassel zitiert in seinem Buch den ambitionierten Zeitplan von Ido Savir, dem Mitgründer des israelischen Start-ups „SuperMeat“. Er wolle die ersten Produkte im Jahr 2022 an Restaurants verkaufen. Dieser Weg sei attraktiv, weil das neue Fleisch zu Beginn nicht günstig genug sei für den Supermarkt. Außerdem werde es im Restaurant von Profis zubereitet. 2024 könne es bereits Mischprodukte aus „Clean Meat“ und pflanzlichem Ersatz im Einzelhandel geben.
Bleibt die Frage: Würden die Leute so etwas überhaupt essen? Hassel bezieht sich auf mehrere Studien, die ein differenziertes Bild zeichnen. So seien jüngere Menschen offener für das neue Fleisch als ältere, und Männer seien viel offener als Frauen. Außerdem zeigen Menschen, die kein Fleisch essen, weniger Interesse am „Clean Meat“ als Vielfleischesser. Ethik und Klimaschutz seien nicht die wichtigen Triebfedern bei der Bewertung dieses Fleisches.
Wichtiger erscheint der gesundheitliche Aspekt. Denn das „Clean Meat“ ist gesünder, wenn Fette wie etwa Omega-3 eingesetzt werden. Aus Sicht des Tierschutzes wäre es ein Meilenstein, wenn sich das neue Fleisch durchsetzt. Die Gesellschaft wäre weiterhin abhängig von Tieren. Allerdings würde sie nur noch die Zellen benötigen und müsste nicht mehr 50 Millionen Schweine töten, wie es allein in Deutschland jedes Jahr geschieht. In der Logik des Systems gedacht, standen die Chancen also nie besser, die Massentierhaltung zu überwinden. Das neue Fleisch könnte dafür sorgen, dass sie sich nicht mehr rechnet.
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