Was Precht und Welzer von Chomsky lernen könnten – ein Nachtrag zur Debatte
Medienkritik Niemand schreibt uns vor, was wir publizieren! So verteidigen sich Journalisten gegen Kritik. Was aber, wenn solche Diktate gar nicht nötig sind?
Unter Journalisten kursiert ein Witz, dessen wahrer Kern ziemlich traurig ist: Wir schreiben mal dies und mal das, vor allem aber schreiben wir – für die Kollegen. Nun würde wohl in keiner Redaktion irgendwer ernsthaft behaupten, die eigene Arbeit solle zuvorderst die Menschen in den anderen Redaktionen beeindrucken, beeinflussen oder verärgern. Doch schon bei der Frage der Themenauswahl erinnert sich so mancher an diesen alten Witz, der schon einmal an einer Redaktionskonferenz teilgenommen hat. Viel Zeit nimmt dort fast immer die Debatte darüber ein, was denn „die anderen“ über dieses oder jenes Ereignis geschrieben oder gesendet haben und was man selbst dem noch halbwegs Originelles hinzufügen könne oder müsse. Wenn „dort d
t draußen“ scheinbar alle über ein angeblich von den „Woken“ gefordertes Verbot der Bücher von Karl May sprechen, dürfen wir das doch nicht ignorieren! Wenn ein politisch verfolgter Journalist wie Julian Assange mit Vergewaltigungsvorwürfen konfrontiert ist, dann dürfen wir doch dazu nicht schweigen!Höchst selten erfolgt die Auswahl dann aufgrund empirisch belegter Informationsbedürfnisse des Publikums (deren tagesaktuelle Ermittlung ohnehin mit einem nicht stemmbaren Aufwand verbunden wäre), sondern auf der Basis dessen, was die jeweilige Redaktion im eigenen sozialen Umfeld als wichtig identifiziert. Weil Journalisten, wie die meisten anderen auch, sich gern mit Menschen aus dem gleichen oder einem ähnlichen Berufsfeld umgeben, schreibt man am Ende also doch oft für die Kollegen. Das gilt sogar für das Rezensions-Feuilleton. Aus Spanien, dem diesjährigen Gastland der Frankfurter Buchmesse, wurden aktuell Hunderte Romane und Sachbücher ins Deutsche übersetzt. In den Kulturressorts wurden aber nur ein paar angesagte Titel herumgereicht. Die Devise scheint zu lauten: Zu Leeres Spanien von Sergio Del Molino und Mitten im Sommer von Ana Iris Simón mag ja alles gesagt sein, nur eben noch nicht von allen.Womit wir schon bei dem hierzulande wohl meistdiskutierten Sachbuch der Saison wären: Die Vierte Gewalt von Richard David Precht und Harald Welzer (siehe der Freitag 40/2022), zu dem auch schon alles gesagt ist – und in diesem Fall sogar von fast allen. Viele Medienmacher wuschen die Kritik an ihrer Arbeit beiseite mit dem Hinweis, es diktiere ihnen schließlich niemand, was sie zu publizieren haben. Sie können demnach schreiben, was sie wollen, und nie setze eine Verlegerin oder ein Politiker sie unter Druck. Obwohl Precht und Welzer derlei in ihrem Buch an keiner Stelle behaupten, wehren sich viele Leitmedienschaffende gegen genau diesen gefühlten Vorwurf. Das ist interessant. Wie kann das sein?Die politische Ökonomie der MassenmedienEin Indiz liefert der Blick auf eine tatsächliche Leerstelle des Buches. Auffällig ist im Lärm um den Nummer-eins-Bestseller nämlich, welcher Aspekt in der Debatte bislang fast komplett ausgeklammert bleibt. Es ist die naheliegende Frage: Wem gehören die Medien? Im Buch zumindest fehlen die Namen zweier Herren, deren Arbeit hier viel Erhellendes hätte beitragen können: Edward S. Herman und Noam Chomsky. In ihrem Buch Manufacturing Consent (1988) untersuchten sie die politische Ökonomie der Massenmedien und warfen die für liberaldemokratische Gesellschaften wichtige Frage auf: Was, wenn die Journalisten ihre berufliche Position nicht innehätten, wenn sie nicht vorher unter Beweis gestellt hätten, dass niemand ihnen sagen muss, was sie schreiben sollen?Das von Herman und Chomsky entwickelte Propagandamodell besagt, dass Medien in kapitalistischen Demokratien einen gesellschaftlichen Konsens im Sinne der wirtschaftlichen und politischen Eliten herstellen. Chomsky aktualisierte die Ergebnisse später in seinem Buch Media Control, das erst vor wenigen Jahren im Nomos-Verlag auf Deutsch neu aufgelegt wurde. Das Werk ist nicht tagesaktuell, und der Autor bezieht sich natürlich vor allem auf US-amerikanische Medienlandschaft. Das Propagandamodell aber identifiziert fünf Filter der Konsensproduktion, die noch immer wirksam sind – und die sich durchaus auf jenes zeitgenössische Mediendeutschland übertragen lassen, das Precht und Welzer kritisieren.Der erste Filter ist das Eigentumsverhältnis. Es gibt deutschlandweit noch etwa 100 Vollredaktionen, die ihren überregionalen Teil zumindest partiell selbst herstellen. Für Tageszeitungen gibt es den pressestatistischen Zählbegriff der „Publizistischen Einheit“. Der benennt Zeitungen, die ihre überregionale Berichterstattung – den sogenannten Mantelteil – von einer Zentralredaktion erhalten. Und demnach sind von über 300 Tageszeitungen mehr als 200 praktisch identisch. Einzig der Name der jeweiligen Zeitung ist geblieben – wegen der emotionalen Bindung der Leserschaft an den Titel ihres Blatts. Fünf Verlage kontrollieren die Hälfte des Zeitungsmarktes. 70 Prozent der Bevölkerung können nur auf eine einzige Lokalzeitung zurückgreifen. Vielfalt sieht anders aus.Die Themensetzung ist interessengeleitetDie Leitmedien befinden sich überwiegend im Eigentum von Konzernen. Und die stellen kaum Mitarbeiter ein, die das bestehende Wirtschaftssystem fundamental infrage stellen. Dass ein Schriftsteller wie Dietmar Dath kommunistisch fundierte Feuilletonstücke in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung publiziert, ist da eher eine exotische Ausnahme, welche die schnöde Regel bestätigt. Viele weitere DKP-nahe Redaktionsmitglieder gibt es weder dort noch bei der Süddeutschen Zeitung oder dem Spiegel. In der als liberal geltenden Zeit schien 2018 der Gipfel der Meinungsfreiheit erreicht, als in einem „Pro und Contra“ unter der Überschrift „Oder soll man es lassen?“ darüber gestritten wurde, ob private Seenotrettung von Flüchtlingen legitim sei. Noch nie hat diese Wochenzeitung dagegen eine nachhaltige Debatte geführt zum Beispiel zu der Frage, ob Banken enteignet gehören oder eine Wirtschaftsdemokratie eine gute Idee wäre.Mit den Auflagen sinken auch die Einnahmen über Anzeigen und damit die Renditen – das Propagandamodell nennt dies den zweiten Filter. Die Verleger setzen darum gerne vergleichsweise „kostenintensive“ Journalisten auf die Straße und arbeiten stattdessen mit entsprechend finanzierten PR-Agenturen zusammen, die regierungs- und wirtschaftsfreundliche Positionen im redaktionellen Teil der Medien platzieren. Die Medienwissenschaft nennt dieses Vorgehen „Framing“ – Debatteneinfluss durch inhaltliche Rahmung – und „Agenda Setting“, also interessengeleitete Themensetzung.Ein Zustand, der wiederum zum Faktor der Quellenabhängigkeit führt, dem dritten Filter nach Herman und Chomsky. Dieser wirkt nicht nur in privatwirtschaftlich betriebenen Medien, sondern auch auf den öffentlich-rechtlichen Rundfunk. Massenmedien müssen offiziellen Quellen vertrauen, sich also auf Materialien beziehen, die meist durch Behörden, Verbände und Konzerne bereitgestellt werden. In den personell ausgedünnten Redaktionen wird die eigenhändige Recherche immer schwerer, weshalb für viele Zeitungen, Online-Medien und Sender die auf dem freien Markt befindlichen Nachrichtenagenturen wie hierzulande vor allem die Deutsche Presse-Agentur (dpa) zu Primärquellen aufgestiegen sind – ein merkwürdig strukturierter Apparat: Die 185 Gesellschafter der dpa sind Medienunternehmen wie Verlage und Rundfunkanstalten. Damit sind also Gesellschafter und Kunden der Agentur im Grunde identisch. Die Aufnahme und Reproduktion dieser Quellen durch die Journalisten geschieht wegen des Zeitdrucks oft automatisiert und unreflektiert, was bis zur Verwendung von Propagandabegriffen wie „Flüchtlingskrise“ oder „Griechenlandhilfen“ gehen kann – sogar in manchen konzernunabhängigen Medien. Dabei waren 2015 nicht die Flüchtlinge das Problem, sondern die Behörden und die Politik – und haben die als „Hilfe“ titulierten Maßnahmen die Situation der griechischen Bevölkerung weiter verschlechtert.Parteipolitischer Einfluss gegen kritische BerichterstattungWerden die Grenzen des Sagbaren überschritten, so greift laut Herman und Chomsky der vierte Filter, den sie die „Flak“ nennen. Es wird dann laut und hässlich. Negative Reaktionen auf kritische Berichte in den Medien sind umso wirkungsvoller, je finanziell oder politisch stärker die Eingreifenden sind. Dazu gehören dann durchaus auch Versuche direkter Einflussnahme. Im Jahr 2009 etwa kündigte die Mehrheit der Unionsparteien im ZDF-Verwaltungsrat an, den Vertrag des ihnen politisch nicht genehmen Chefredakteurs Nikolaus Brender nicht zu verlängern. Das führte zu einer Debatte um die Staatsferne des öffentlich-rechtlichen Rundfunks. CDU und CSU setzten sich damals gegen alle Kritik durch – in seiner Unverblümtheit ein allerdings eher seltener Fall.Indirekte und subtilere Maßnahmen haben in Demokratien mehr Aussicht auf Erfolg. Da wäre etwa die durch den Arbeitgeberverband Gesamtmetall im Jahr 2000 gegründete „Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft“. Sie flankierte die Durchsetzung der Agenda 2010, die in manchen Medien anfangs kritisch bewertet wurde (ein Spiegel-Titel vom Mai 2005 lautete: „Die total verrückte Reform: Milliardengrab Hartz IV“). Unter anderem durch gezielte Kampagnen, die Begriffe wie „Reform“ oder „Eigenverantwortung“ im Sinne der Unternehmerverbände umdefinierten, änderte sich auch das massenmediale Urteil zur rot-grünen Sozialpolitik.Mit dem allgegenwärtigen Schlagwort der „sozialen Marktwirtschaft“ spricht diese „Initiative“ einen Gründungsmythos der Bundesrepublik an. Niemand – so halten es auch Herman und Chomsky in der Erläuterug ihres fünften Filters fest – ist frei von Ideologie. Das ist ein Aspekt, den auch Precht und Welzer in ihrem Buch herausstellen. In den USA ist der ideologische Kitt der Antikommunismus, hier in Deutschland ist es der Glaube an eine Versöhnbarkeit von Kapitalismus und Demokratie. Letzterer äußert sich oft so, dass freiheitliche Werte mit dem Wettbewerbsgedanken verknüpft werden. Kein Beispiel passt hier besser als der aktuelle Großkonflikt um den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine – der auch das polarisierende Kernbeispiel des Buches von Precht und Welzer ist. Meist wurde bereits lange vor dem 24. Februar 2022 vorausgesetzt, dass „der Westen“ die kriegerische Politik des Autokraten Waldimir Putin eindämmen müsse und die Ukraine sich im Wettbewerb der Ideen nun einmal dafür entschieden habe, der EU und der NATO beitreten zu wollen. Das ist eine Setzung, die legitim sein kann, aber eben nicht ideologiefrei ist in dem Sinne, wie die deutschen Medien stets zu sein behaupten.Der größte Vorteil des Propagandamodells von Herman und Chomsky jedenfalls liegt auch heute noch darin, dass es die ökonomischen Bedingungen der massenmedialen Produktion in den Mittelpunkt rückt – und emotionale Aspekte weitgehend ausklammert. Wer sich diesen Aspekten der Medienkritik zuwendet, erkennt die fatale Entwicklung und kommt gar nicht erst auf den Verschwörungsmythos, dunkle Mächte würden im Geheimen die Inhalte der westlichen Presse steuern. Und Precht und Welzer, die so etwas gar nicht behaupten, könnten die von ihnen angestoßene Diskussion leichter vom Moralismus zum Materialismus überführen.
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