Linksliberale denken: Lieber noch ein Lockdown und noch eine Waffenlieferung, als sie länger im Scheinwerferlicht zu sehen
Foto: Dominik Butzmann/LAIF
Dieses eine Motiv darf nie fehlen, wo auch immer es im Fernsehen derzeit um die Partei geht, die sich „Die Linke“ nennt: ein Marktplatz, vorzugsweise im Osten. Ein aktives Parteimitglied, vorzugsweise jung, weiblich und Standarddeutsch sprechend. Eine Diskussion zum Thema Ukrainekrieg, vorzugsweise mit einem älteren, empörten und sächselnden Herrn. Da wäre etwa Carolin Juler. In Chemnitz sitzt sie für die Linkspartei im Stadtrat. Ein aktueller Beitrag des ARD-Politmagazins Monitor zeigt sie auf der Straße, an einem Stand ihrer Partei, im Gespräch mit einem Mann, der ein Schild hochhält mit der Aufschrift: „NATO auflösen! Ami Go Home! Schluss mit den Sanktionen!“ Juler sagt zu ihm: „Das ist ja schon ’ne krasse
7;ne krasse Botschaft, oder? Und wollen Sie vielleicht das mal runternehmen?“ Kurz darauf verkündet Juler in die Kamera: „Wir sind dann diejenigen, die erklären müssen, dass Sahra Wagenknechts Meinung nicht die Parteimeinung ist. Und dagegen anzukommen, ist natürlich unfassbar schwer.“Da ist er also schon wieder gefallen, dieser Name, der in Deutschland aktuell polarisiert wie kaum ein zweiter. Sahra Wagenknecht, das behauptet nicht nur die linke Chemnitzer Stadträtin, vertrete insbesondere in der Außenpolitik eine Haltung, die nicht die „Parteimeinung“ sei. Wer einen Blick in das Grundsatzprogramm der „Linken“ wirft, findet darin jedoch diesen Satz: „Wir fordern die Auflösung der NATO und ihre Ersetzung durch ein kollektives Sicherheitssystem unter Beteiligung Russlands, das Abrüstung als ein zentrales Ziel hat.“ Krasse Botschaft. Und durchaus „Parteimeinung“. Weshalb also möchte die junge Linke einem älteren Mann verbieten, an ihrem Stand ein Schild zu präsentieren, das einen Programmpunkt ihrer Partei formuliert? Wieso wird Sahra Wagenknecht in der eigenen Partei dafür attackiert, dass sie diesen Punkt vertritt? Und überhaupt: Warum grassiert unter Linken der Hass auf Sahra Wagenknecht?Erklärungsansätze gibt es schon lange. Etwa der Neid: Obwohl Wagenknecht derzeit nur Hinterbänklerin ist, gibt es keine linke Person im Land, die auch nur annähernd so beliebt ist in der Bevölkerung wie sie. Oder die Karriere: Wagenknecht besetzt außen- und sozialpolitisch sehr linke Positionen, die eine Regierungskoalition im Bund mit Grünen und SPD ausschließen. Wer nach Jahren anstrengender Parteigremienschufterei die Früchte seiner Arbeit darin sieht, eine lukrative Funktion in einer rot-rot-grünen Bundesregierung zu erlangen, dem steht Wagenknechts fundamentaloppositionelle Strategie im Weg. Doch erklärt das wirklich diesen unbändigen Hass der Linksliberalen, der sich gegen Deutschlands berühmteste Linke entlädt? Eine plausiblere Erklärung lautet: Der Hass richtet sich nicht in erster Linie gegen Wagenknecht, sondern gegen jene, als deren Repräsentantin sie gilt.Logik des „Empörialismus“Um das zu verstehen, lohnt der Umweg über eine grundlegende Frage: Warum wählen in Zeiten sozialer Not so wenige Leute linke Parteien? Das Rätsel ist gewiss uralt, doch bleibt es immer neu. Im Marxismus hat sich der Kniff bewährt, zwischen objektivem und subjektivem Klassenbewusstsein zu unterscheiden. Analytisch betrachtet, mag es demnach im Interesse der meisten Menschen liegen, die Macht des Kapitals zu brechen. Doch verhindere vom Prinzip „Teile und herrsche“ bis zur Kulturindustrie allerlei Ablenkung eine sozialistische Revolution.Das wurde im 19. und 20. Jahrhundert ersonnen und klingt auch so, doch muss es darum heute nicht zwingend falsch sein. In der aktuellen politischen Lage kommt etwas hinzu, das der liberale Kapitalismus als Diskurswaffe vereinnahmt hat: die ursprünglich religiöse Idee von Gut und Böse, die sich im Zeitalter des „Empörialismus“ (Michael Schmidt-Salomon) verselbstständigt hat und nunmehr omnipräsent ist. Die „Guten“ sollen belohnt, die „Bösen“ bestraft werden. Der Schmierstoff solcher Sehnsüchte ist die Moral, die stärker als die Ethik emotionale Heilungsfantasien bedienen kann.„Ist das Hirn zu kurz gekommen, wird sehr gern Moral genommen“, dichtete der leider verstorbene Schriftsteller Wiglaf Droste einmal. Das lässt sich anhand aller großen Debatten der vergangenen Jahre zeigen. Während der Finanzkrise ab 2007 interpretierten „gute“ Linksliberale den „bösen“ Protest gegen Großbanken als „verkürzte Kapitalismuskritik“, die „strukturell antisemitisch“ sei. Während der „Flüchtlingskrise“ 2015 sahen sich jene als „rassistisch“ diffamiert, die darauf hinwiesen, dass es nicht nur eine „Willkommenskultur“ für Geflüchtete brauche, sondern im gleichen Maße auch für Einheimische, die Angst vor dem sozialen Abstieg verspüren, weil sonst die demokratische Legitimation der Flüchtlingshilfe gefährdet sei. Diese Rassismusvorwürfe formulierten meist Anhänger der Grünen und der SPD – jener Parteien also, die Jahre zuvor als Regierungskoalition einen Niedriglohnsektor errichtet haben, der Millionen Menschen in Armut gestürzt hat.Als 2020 während des ersten Lockdowns klar wurde, dass die Maßnahmen gegen die Coronapandemie die Einkommensschwachen, die untere Mittelklasse und Inhaber kleiner Betriebe empfindlich treffen, gab es von links keine Forderung nach einem Ende aller weiteren Lockdownpläne und auch keine ernsthafte Debatte um die ökonomische Entlastung der Armen. Stattdessen entstanden lustvoll-moralische Wortneuschöpfungen wie „Covidioten“ oder „Schwurbler“, mit denen die Twitter-Linken pauschal all jene bedachten, die gegen die Maßnahmenpolitik der ganz großen Koalition von Linkspartei bis FDP demonstrierten. Ein halbes Jahr nach Beginn des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine gilt vielen Linken nun jeder Sozialprotest gegen die Politik der angeblich „wertegeleiteten“ Bundesregierung im Zusammenhang mit den Wirtschaftssanktionen gegen Russland als bösartige Kungelei mit Rechtsextremen und Putin.Die wahre „Querfront“Bei all diesen Themen trat eine Politikerin als Repräsentantin dieser von Linksliberalen als „antisemitisch“, „rassistisch“, „verschwörungsideologisch“ und „lumpenpazifistisch“ diffamierten Positionen in Erscheinung: Sahra Wagenknecht. Besonders große Ablehnung innerhalb der eigenen Partei hat zuletzt ihre Aussage hervorgerufen, Deutschland habe „einen beispiellosen Wirtschaftskrieg gegen unseren wichtigsten Energielieferanten vom Zaun gebrochen“. Bei Twitter verbreiteten zahlreiche regierungsfreundliche Linke wie Bernd Riexinger oder Caren Lay wörtlich den Satz: „Es gibt keinen Wirtschaftskrieg gegen Russland.“ Was Ökonomen wie Adam Tooze seit Monaten sagen und was vor allem die sich vor der Überschuldung fürchtende deutsche Bevölkerung am eigenen Leib spürt, das negieren ausgerechnet Vertreterinnen und Vertreter jener Partei, die vorgibt, die Armut bekämpfen zu wollen. Die Ignoranz belegter Fakten, die den eigenen Vorurteilen oder Karriereplänen im Wege stehen, ist also nicht den Trumpisten und Putinisten vorbehalten. Linksliberale können das ebenso gut.Wenn sie nun darauf hoffen, dass Wagenknecht der Partei den Rücken kehrt, dann wollen sie sich tatsächlich vor allem jener Klientel entledigen, die Wagenknecht anspricht. Bei diesen Menschen handelt es sich selten um akademisch gebildete Vorzeigelinke. Vielmehr sind es meist Persönlichkeiten ohne festes Weltbild, manchmal sogar Menschen mit AfD-Affinität, denen die Alltagserfahrung im neoliberalen Kapitalismus ein gesundes Misstrauen beschert hat gegen jene, die sie als Teil des Establishments ausgemacht haben.Der neurechte Vordenker Götz Kubitschek rief kürzlich die Strategie aus, „die Grenzen zwischen den politischen Lagern wenigstens zu verwischen“. Indem sie friedens- und sozialpolitische Versatzstücke der klassischen Linken zum Schein annehmen, treiben die Rechten die Linksliberalen in die Arme der Neoliberalen. Erstere durchschauen das Spiel offenbar nicht und gefallen sich in einer Allianz gegen den angeblich rechten „Pöbel“. Auch das ist eine „Querfront“. Oder wie ist es sonst zu verstehen, dass in linksliberalen Twitter-Blasen das inhaltsleere Schlagwort von den „berechtigten sozialen Interessen der Bevölkerung“ in Widerspruch gestellt wird zur „notwendigen Solidarität mit den Menschen in der Ukraine“ oder der „notwendigen Solidarität mit vulnerablen Gruppen in der Coronapandemie“?Als 2018 die von Wagenknecht mitinitiierte Sammlungsbewegung „Aufstehen“ trotz zahlreicher Sympathisanten ins Stocken geriet, entlud sich bei linken Gegnern ein erstaunlich freimütiger Sozialchauvinismus. Die Bewegung, die vor allem Menschen ohne akademische Bildung anzog, wurde zum Rohrkrepierer, weil es an Organisationstalent und Verwaltungskompetenz fehlte. Der linke Spott über das Scheitern war das Hohnlachen derer, die mit sozialem und kulturellem Kapital aufgewachsen sind und es sich dank ökonomischer Elternhausabsicherung hatten leisten können, in der Jugend gefahrlos Erfahrungen mit Aktivismus, Strippenziehen, Demonstrieren und Organisieren zu machen. Die Schadenfreude der Linken war also vor allem ein Treten nach unten.Wagenknecht versucht, diejenigen im Wahrnehmungshorizont linker Politik zu halten, die als nahezu Einzige für die „Bankenrettung“, die „Willkommenskultur“, die „Solidarität“ in der Pandemie und das „Frieren für die Freiheit“ bezahlen müssen. Das führt Wagenknecht manchmal in rhetorisch gefährliche Fahrwasser, doch vertritt sie die marginalisierte Perspektive vieler Menschen, denen gefühlt jede Repräsentation in diesem politischen System abhandengekommen ist. Dabei ist es so lange nicht her, da war das Misstrauen gegenüber der herrschenden Meinung ein linker Grundsatz. Dass ausgerechnet die Linken heute mehr damit beschäftigt sind, die unsoziale Politik von Robert Habeck oder Karl Lauterbach gegen die angeblich rechte oder „rechtsoffene“ Sahra Wagenknecht zu verteidigen, als die reale Faschisierung der Gesellschaft durch linke Oppositionsarbeit zu verhindern – das zählt zu den besonders tragischen Pointen der ominösen „Zeitenwende“.
×
Artikel verschenken
Mit einem Digital-Abo des Freitag können Sie pro Monat fünf Artikel verschenken.
Die Texte sind für die Beschenkten kostenlos.
Mehr Infos erhalten Sie
hier.
Aktuell sind Sie nicht eingeloggt.
Wenn Sie diesen Artikel verschenken wollen, müssen Sie sich entweder einloggen oder ein Digital-Abo abschließen.