An Tiere stellen wir oft die falschen Fragen. Haben sie einen freien Willen? Wie viel Natur steckt in ihnen, und wie viel Kultur haben sie sich angeeignet? Das sind Gedanken von Menschen, auf die Tiere niemals eingehen können. Also stehen die Tiere wie die Dummen da. Besser wäre es, in ihrer Logik zu denken, ihnen mit Neugier und Respekt zu begegnen, auch mit Solidarität und Staunen. Schon der Versuch reicht aus, um zur Empathie anzuregen. Was wäre dafür als Übung besser geeignet als die Literatur, in der es darum geht, für die Dauer der Lektüre ein anderes Leben zu leben? Und wer hätte das besser verstanden als der kirgisische Schriftsteller Tschingis Aitmatow (1928 – 2008)?
Er ist mit Tieren aufgewachsen. Die Kirgisen waren lange vor allem Nomaden, sie lebten von und mit der Viehzucht. Sie nutzten die Tiere, sorgten aber auch für sie. Und sie kannten nicht die Entfremdung des Menschen von den Tieren, wie sie im westlichen Kapitalismus mit Massentierhaltung und Warenästhetik verbreitet ist. In den Märchen und Legenden der Kirgisen spielen die Geschöpfe der Natur eine zentrale Rolle. Je älter Aitmatow wurde, umso stärker beeinflussten sie sein Werk. Da wurde es höchste Zeit, dass ein Band die entsprechenden Passagen seiner Bücher versammelt. Irmtraud Gutschke, langjährige Redakteurin beim Neuen Deutschland und inzwischen auch regelmäßige Freitag-Autorin, benennt in ihrem kenntnisreichen Nachwort zu diesen Tiergeschichten die Gabe des Autors: „Im ,Verstehen‘ des Tiers gründet die poetische Aura seiner Texte.“
Eindrucksvoll zeigt sich das im ersten Beitrag, einem Ausschnitt der Erzählung Abschied von Gülsary (1967). Es geht um einen Passgänger und sein Rennpferd. Archaische Gefühle von Spiel und Rausch verbinden Mensch und Pferd, die Zivilisation umzäunt die Gefährten mit den Regeln des Wettkampfs. Die Sprache dieser Texte ist so rasant wie ihre Handlung: „Augen flammten auf und erloschen wie die Steine auf dem Grund einer mondbeschienenen Tränke.“ Ja, dieser Duktus mutet altertümlich an; er ist im guten Sinn aus der Zeit gefallen, denn im Reich der Mythen und Sagen ist kein Platz für die ironische Abgeklärtheit unserer Tage. Tschinigs Aitmatow betrachtet Mensch und Tier konsequent aus der Innensicht. Das reicht von den Amphibien bis zu den Landbewohnern, von wild lebenden Tieren bis zu Haustieren, von den nahen Verwandten bis zum fern scheinenden Federvolk.
Tierliebe ohne Menschenhass
Die Natur ist kein ethisch handelndes Subjekt, deshalb kann es ein Dasein in friedlichem Einvernehmen für den Menschen nicht geben. Naturkatastrophen sind keine „gerechten“ Strafen, sie geschehen einfach. Aitmatow, der dem Transzendentalen nicht abgeneigt ist, schrammt in seinen Texten immer wieder haarscharf an der Idealisierung der Natur vorbei, seine Fabulierlust gerät aber nie in Kitschgefahr. Vielleicht hat Aitmatow die marxistische Grundbildung ebenso wie eine intime Kenntnis des Lebens dort draußen in der Natur davor bewahrt, jemals in die Esoterik abzugleiten. Ebenso dürfte seine sozialistische Überzeugung verhindert haben, dass er um den Preis der Aufwertung der Tiere die Menschen abgewertet hätte. Darin besteht ja eines der Probleme der heutigen Tierrechtsbewegung, die bisweilen aus der menschlichen Schuld an unermesslichem Leid der Tiere die Konsequenz zieht, dem Menschen sei ein baldiger Untergang zu wünschen.
Als Junge erlebte Aitmatow den „Großen Terror“ unter Stalin. Sein Vater war einer der ersten kirgisischen Kommunisten, brachte es zu einem leitenden Posten und wurde später getötet. Nach dem Zweiten Weltkrieg arbeitete Tschingis Aitmatow als Tierzüchter, ab den sechziger Jahren war er Korrespondent der sowjetischen Zeitung Prawda in Mittelasien und Kasachstan, 1990 ging er als Botschafter der UdSSR nach Luxemburg, ab 1995 war er Botschafter der Republik Kyrgiyzstan in Brüssel. Seiner Grundüberzeugung blieb er als Literat über all die Jahre treu, er hat sie einmal bildhaft geschildert: „Wenn mehrere Menschen ins Meer gestürzt sind, und jeder klammert sich nur an seinen Balken, dann sind sie zum Tode verurteilt. Sie müssen sich vereinen und die Balken zum Floß verbinden.“
Darum kommen in diesem Buch die Tierliebe und die Gesellschaftskritik ohne Menschenhass aus. All diese Texte laufen auf die Erkenntnis hinaus, dass die Erdbewohner aller Arten nur überleben können, wenn die Menschen das Dilemma zwischen Fressfeindschaft und Symbiose durch gegenseitigen Respekt auflösen. In einem Märchen bezieht sich Aitmatow auf eine Legende, nach der vor ewigen Zeiten ein Schnabelwesen das Leben auf dem Festland ermöglicht hat: Die Ente Luwr soll sich die Federn ausgerissen haben, damit ein Nest für ihr Ei entsteht. In Die Träume der Wölfin, ein Auszug aus dem Roman Der Richtplatz von 1986, führt die Wölfin Akbara ihr Rudel durch die Steppe und beschreibt die zerstörerische Lebensart der Hirten – leidvoll und sich der Konkurrenzsituation um die Schafe bewusst, aber nicht ausformuliert als Anklage, sondern eher mit dem milden Blick auf und für das Unausweichliche. Aitmatow vermenschlicht in diesem Abschnitt die Wölfin, und dieser Kniff konfrontiert uns Menschen mit dem Blick von außen, der uns generell häufiger guttäte.
Es sind hier also trotz des possierlichen Buchtitels keine Geschichten zu finden, die sich einem Kind zum Einschlafen vorlesen lassen. Nein, Aitmatow wirft die existenzielle Frage auf, wie wir mit Tieren verfahren sollen, mit denen wir zum eigenen Nutzen oder unabsichtlich in Interaktion treten. Wen wir einfangen, züchten und nutzen, für den tragen wir Verantwortung. Es sind nicht unsere Leben, über die wir hier verfügen, und kein Mensch hat das Recht, ohne jedes ethische Abwägen über das Schicksal eines Tieres zu entscheiden.
Info
Tiergeschichten Tschingis Aitmatow Aus dem Russischen von Friedrich Hitzer, Leo Hornung und Charlotte Kossuth, Unionsverlag 2020, 192 S., 18 €
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