50 Jahre Verspätung

Integrationspolitik Ex-Bundespräsident Joachim Gauck verurteilt Menschen, die seit Jahrzehnten hier leben und trotzdem kein Deutsch sprechen. Das ist scheinheilig
Ob Joachim Gauck hier gerade einer nach rechts driftenden Gesellschaft aufs Maul schaut?
Ob Joachim Gauck hier gerade einer nach rechts driftenden Gesellschaft aufs Maul schaut?

Foto: Alexander Scheuber/Getty Images

Vor sechs Jahren sprach der damalige Bundespräsident Joachim Gauck in der Frankfurter Paulskirche zum zehnjährigen Bestehen einer Stiftung, die Stipendien an Jugendliche aus Einwandererfamilien vergibt. In seiner Rede sagte er, die Jugendlichen seien Bürger des Landes und hätten sich Bürgertugenden angeeignet. Er wies auf die Chancenungleichheit hin, welcher junge Migranten ausgesetzt sind. Er sprach davon, dass die Jugendlichen ermutigt werden sollten, weil ihre Lebensgeschichten „uns alle“ reicher machten. Tosender Applaus im Publikum, das zum größten Teil aus Jugendlichen mit Einwanderungsgeschichte bestand. Sie haben sich tatsächlich ermutigt gefühlt.

Heute driftet der „Präsident der klaren Worte“ mit seinen Aussagen in eine andere Richtung. In einem Interview sagt Joachim Gauck, er finde es „nicht hinnehmbar“, dass Menschen sich nicht auf Deutsch unterhalten könnten, obwohl sie hier seit Jahrzehnten lebten. Sie würden nicht an Elternabenden in der Schule teilnehmen und ihre Kinder vom Sportunterricht befreien wollen. Generell würden manche Menschen in diesem Land das Gefühl kriegen, sich nicht mehr zu Hause, sondern „überfremdet“ zu fühlen. Aus welcher politischen Ecke diese Aussagen gefeiert und reproduziert werden, das muss man hier nicht erwähnen. Generell erinnert dieser Jargon an so manche Politiker, die in letzter Zeit durch eher fremdenfeindliche Aussagen aufgefallen sind.

Joachim Gauck hätte auch über den 25-jährigen Gedenktag des Brandanschlags in Solingen sprechen können. Er hätte ein Statement zum NSU-Prozess abgeben können. Es wäre vermutlich besser gewesen, hätte er einfach nichts gesagt. Denn Migranten mangelnde Deutschkenntnisse vorzuwerfen, ohne die gescheiterte Integrationspolitik Deutschlands seit den 1950ern zu benennen, ist einseitig. Wenn Joachim Gauck von Menschen redet, die seit Jahrzehnten in Deutschland leben, aber sich nicht auf Deutsch unterhalten können, meint er vor allem die Eltern und Großeltern der Jugendlichen, die er in der Frankfurter Paulskirche vor sechs Jahren noch ermutigt hatte.

„Ausländerklassen“ und fehlende Sprachkurse

Vor drei Jahren sprach die damalige Staatsministerin für Migration, Flüchtlinge und Integration Aydan Özoğuz bei ihrer Rede zum 60-jährigen Anwerbeabkommen über die fehlenden Integrationsbemühungen gegenüber den Menschen aus den Anwerbeländern. Damals gab es noch keine Sprachkurse. Zugewanderte kamen in „Ausländerklassen“, die Deutsch lernen quasi unmöglich machten. Die Politik ignorierte, dass Deutschland ein Einwanderungsland geworden war. Es entwickelten sich Parallelgesellschaften in Bezirken, die heute als „Problemviertel“ gebrandmarkt werden. Erst am 1. Januar 2005 trat das erste Zuwanderungsgesetz in Kraft, das Integration als staatliche Aufgabe vorsah. 50 Jahre, nachdem in Deutschland bereits die ersten Gastarbeiter lebten. 50 Jahre, in denen Nachfolgegenerationen gezeugt und fremdenfeindliche Straftaten begangen wurden. Mit 50 Jahren Verspätung kam das Zuwanderungsgesetz.

Unter der Verspätung leiden vor allem die ewig als „Menschen mit Migrationshintergrund“ stigmatisierten Nachfolgegenerationen. Obwohl sie in Deutschland geboren sind, bezeichnet man sie in der Öffentlichkeit als „Beispiel gelungener Integration“. Ihnen wird gesagt, „man habe noch nie einen so gut integrierten Ausländer“ gesehen oder lobt sie für ihre „sehr guten Deutschkenntnisse“. Bei Özil und Gündoğan sei „die Integration gescheitert“, weil sie sich mit dem türkischen Präsidenten trafen. Sie sind Menschen, die in Deutschland aufgewachsen und zur Schule gegangen sind. Da stellt sich die Frage, von welcher Integration wir reden.

Der Altbundespräsident wurde jetzt mit dem Reinhard Mohn Preis zum Thema „Vielfalt leben – Gesellschaft gestalten“ ausgezeichnet. Genauso wie vor sechs Jahren in der Frankfurter Paulskirche lobt er nun anlässlich der Preisverleihung wieder die Vielfalt der Gesellschaft. Vor dem Hintergrund seiner jüngsten Aussagen aber bekommt seine Rede ein heuchlerisches Geschmäckle. Denn der nach rechts driftenden Angstgesellschaft aufs Maul zu schauen und gleichzeitig Vielfalt zu preisen – das bekommt nicht einmal der Wanderprediger Gauck hin.

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