Papst Johannes Paul II. wäre heute 100 Jahre alt geworden. In seiner Funktion als Oberhaupt der römisch-katholischen Kirche setzte er sich nicht nur für interne Reformen und interreligiösen Dialog ein, sondern nahm auch Einfluss auf das politische Geschehen in Europa und der Welt. Einer seiner prominentesten Verehrer war der deutsche Bundeskanzler Helmut Kohl.
Papst Johannes Paul II. war keiner, der sich in der Lateranbasilika von Rom verschanzte und die Augen vor politischen Problemen jenseits der Mauern des Vatikans verschloss. Schon als er noch unter dem Namen Karol Józef Wojtyła firmierte und Erzbischof von Krakau war, scheute er die öffentliche Konfrontation mit weltlicher Obrigkeit, also dem kommunistischen Regime in Polen, nicht. Sein Beharren auf dem Bau der „Kirche der Mutter Gottes, der Königin von Polen“ in der eigentlich als religionsfrei geplanten Arbeiterstadt Nowa Huta und seine Predigten, in denen er die freie Ausübung der Religion für alle Polen forderte, manifestierten das Bild des mutigen Antikommunisten.
Nachdem Wojtyła im Jahr 1978 ins höchste Amt der römisch-katholischen Kirche berufen wurde, setzte er seinen Kurs der politischen Einmischung fort. In seinen zahlreichen Reisen um die Welt etablierte er sich als „Medienpapst“ und als jemand, der gewillt war den Mächtigen entweder die Hand zu reichen oder die Stirn zu bieten. Einige Treffen – etwa mit Palästinenserführer Yāsir ʿArafāt 1982 und mit Michail Gorbačёv kurz nach dem Fall der Berliner Mauer 1989 – wurden zu historischen Wegmarken während seines Pontifikats.
Eine für einen Polen außergewöhnliche Zuneigung hegte Johannes Paul II. gegenüber den Deutschen. Er wollte eine Brücke zwischen seinem Heimatland und den einstigen Invasoren bauen. Mitte der 1960er beteiligte er sich deshalb maßgeblich an einem Aufruf der polnischen Bischöfe an ihre deutschen Amtsbrüder zur Versöhnung, was ihm scharfe Attacken der kommunistischen Machthaber in Warschau einbrachte. Im Zuge der kirchlichen Bemühungen um eine deutsch-polnische Aussöhnung besuchte Wojtyła 1974, dann als Kardinal, West-Deutschland und zelebrierte mit Julius Kardinal Döpfner eine heilige Messe im Karmel Heilig Blut am Rande der KZ-Gedenkstätte Dachau.
Ein deutscher Verbündeter
Aussöhnung war allerdings nicht sein einziges Ansinnen. Als Pole wusste er um den Schmerz, den nationale Teilung und Zwangsherrschaft verursachen. Und er wusste um die Wichtigkeit der deutschen Einheit auf dem Weg zur politischen Umwälzung in Osteuropa, die sich zu einem seiner wichtigsten weltlichen Anliegen entwickelte. „Er hat ganz wesentlichen Anteil daran, dass der Fall der Berliner Mauer und die friedliche Überwindung der Teilung Deutschlands und Europas 1989/90 möglich wurden.“ Diese Worte stammen von Helmut Kohl.
Im deutschen Bundeskanzler hatte er einen engagierten Verbündeten gefunden, der seinerseits den Papst verehrte. Kohl suchte ähnlich wie Johannes Paul II. regelmäßig den Kontakt zu Größen des Weltgeschehens, war aber von nahezu keinem so fasziniert wie vom Pontifex Maximus. „Selten war ich von einem Menschen derart angetan und so voller Bewunderung für jemanden wie für diesen Papst aus Polen“, schrieb Kohl etwa in seinen Memoiren über die Treffen mit dem Papst während und nach dessen zweiten Deutschland-Besuch im Frühjahr 1987.
Gewiss muss man Kohls oftmals überschwängliche Lobpreisung von zeitgenössischen und historischen Persönlichkeiten mit Vorsicht betrachten, weil sich der langjährige Kanzler der Bundesrepublik gerne als in jeder Hinsicht ebenbürtig inszenierte. In seinen Augen war er der politische Enkel Konrad Adenauers, ein Konservativer vom Schlage Margaret Thatcher und Ronald Reagan und ein Europäer wie François Mitterrand. Aber aus den Aufzeichnungen Kohls geht hervor, dass es ihm fern lag, Ebenbürtigkeit mit diesem Papst für sich einzufordern.
Es war eine Mischung aus religiöser und persönlicher Zuneigung, die den getauften Katholiken ins Schwärmen brachte und ihm die Nähe zu Johannes Paul II. suchen ließ. Wenn sich überhaupt ein Schimmer von politischem Kalkül in alldem verbarg, dann aufgrund Kohls immer zu offen zur Schau gestellten Loyalität dem Vatikan gegenüber, die Teil seiner Selbstrepräsentation und Verkörperung der neuen „deutschen Normalität“ war. Sein Verhältnis zum Papst selbst ging allerdings über institutionelle Loyalität wesentlich hinaus.
Einmalige Allianz
„Weitsichtig entwarf er ein Szenario, das der Entwicklung der folgenden Jahre sehr nahe kam“, schrieb Kohl über die Begegnung mit Johannes Paul II. 1987. „Wieder einmal spürte ich, dass dieser so oft kritisierte und nicht selten verteufelte Nachfolger Petri in anderen Zeiträumen dachte als die meisten Politiker.“ In diesem letzten Satz versteckt sich womöglich sogar eine Sehnsucht Kohls nach eben einer solchen Auffassungsgabe, die über das politische Tagesgeschäft hinausging. Der deutsche Kanzler war vor allem ein Machtpolitiker, der von Parteitag zu Parteitag, von Landtagswahl zu Landtagswahl dachte, der aber in seinen Reden regelmäßig den Versuch unternahm, die politischen Entwicklungen und Zusammenhänge in großen Umrissen zu skizzieren. Nur hielten viele Deutsche diese Versuche für wenig authentisch, weil sie in Kohl keinen Intellektuellen sahen.
Sein Antikommunismus etwa wirkte vielfach plump und nicht wie das Resultat einer tiefverwurzelten moralischen Überzeugung. Papst Johannes Paul II. hingegen konnte seine Positionen mit dem Scharfsinn eines habilitierten Philosophen und viel beachteten Theologen herleiten. Er argumentierte, dass es die „Evangelisierung war, die Europa und ihre Zivilisation formte“. Die christlichen Ideen bereiteten demnach den Weg für ein besseres Verständnis von Menschenrechten in den Kulturen des Kontinents. Laut Johannes Paul II. resultierte aus der Aufklärung und Französischen Revolution das „Existenzrecht der Nationen, das Recht auf den Erhalt ihrer Kulturen und politische Souveränität“ und als negative Begleiterscheinung der Aufstieg des Marxismus.
Diese Art der Argumentation prägte Kohl stark in dessen Denken, wie beispielsweise der deutsche Historiker Christian Wicke in seinen Erläuterung zum katholischen Nationalismus des Kanzlers ausführt. Kohl konnte allerdings diese großen Verknüpfungen nur schwerlich selbst herstellen und war bei weitem nicht derart theologisch sattelfest, als dass es ihm gelungen wäre, sich energisch und gleichzeitig fundiert gegen Marxismus und Kommunismus zu wenden, wie es Papst Johannes Paul II. beispielsweise in seiner Sozialenzyklika „Laborem exercens“ 1981 tat.
Die Bewunderung des deutschen Staatsoberhaupts dem katholischen Kirchenoberhaupt gegenüber war insofern von tiefgreifender Natur. Dass beide zudem in den 1980er Jahren sehr ähnliche weltliche Motive verfolgten und dabei oft in Übereinstimmung über notwendige politische Transformationen in Europa waren, trug zu einer ungewöhnlichen Nähe zwischen diesen Persönlichkeiten und damit auch deren Ämtern bei, wie sie in der aktuellen Zeit unvorstellbar scheint.
Kommentare 5
"Papst Johannes Paul II. hingegen konnte seine Positionen mit dem Scharfsinn eines habilitierten Philosophen und viel beachteten Theologen herleiten. Er argumentierte, dass es die "Evangelisierung war, die Europa und ihre Zivilisation formte. Die christlichen Ideen bereiteten demnach den Weg für ein besseres Verständnis von Menschenrechten in den Kulturen des Kontinents."
Ja, die katholische Kirche und die Menschenrechte. Ein anderer Habilitierter, der Historiker Professor Stefan Rinke gewährt eine realitätsnähere Sicht auf die christlichen Ideen als der "habilitierte Philosoph und viel beachtete Theologe" Wojtyła. Nämlich anhand von Gottes Werk und Cortes Beitrag zur genozidalen Evangelisierung Lateinamerikas:
"Als sich Cortés und sein Häuflein Conquistadoren im Februar 1519 aufmachten, das Reich der Azteken zu unterwerfen, lebten dort etwa 25 Millionen Menschen. 80 Jahre später waren es nur noch eine Million. Ähnlich massiv dürfte der Bevölkerungsrückgang in anderen Regionen Mittel- und Südamerikas gewesen sein. In der Karibik wurden die Ureinwohner fast ganz ausgelöscht. Kurz: Die Conquista ist die größte demografische Katastrophe der Neuzeit. Kein Krieg, keine Pestepidemie ist damit vergleichbar.
Frage: War sie ein Völkermord im Namen Jesu Christi?
Rinke: Nicht ganz. Die Spanier kamen nicht in die für sie neue Welt, um die Indigenen zu vernichten. Sie wollten sie bekehren und versklaven. Durch die Kriege und vor allem durch die mitgebrachten Krankheiten entstand jedoch ein genozidaler Effekt: Keiner wollte den Völkermord. Er passierte dennoch.
Frage: Einer der wichtigsten Profiteure war die Kirche.
Rinke: Natürlich erlebte die katholische Kirche durch die Entdeckung und Eroberung der Neuen Welt sowie durch die Errichtung der nachfolgenden Kolonialgesellschaft einen erheblichen Machtzuwachs. Man kann sogar sagen, dass das Christentum durch die Annektierung Lateinamerikas überhaupt erst zur Weltreligion wurde."
Wer will kann auch Ähnlichkeiten zu Wojtyła und Kohl finden: "Cortés etwa war ein frömmelnder Mensch. Er betete und beichtete – "unter vielen Tränen", wie die Quellen behaupten – regelmäßig und hoffte sein Handeln, das christlichen Werten hohnsprach, so vor dem Herrn zu legitimieren."
Zu den christlichen Ideen, die angeblich "den Weg für ein besseres Verständnis von Menschenrechten in den Kulturen des Kontinents" Europa bereiteten und den Beitrag der katholischen Kirche dazu, hat Karl-Heinz Deschner in seiner Kriminalgeschichte des Christentums ein enzyklopädisches Gegenbeispiel verfasst, das bis heute der Widerlegung harrt.
Deschner: "Ich schreibe die Geschichte der unentwegten Verschränkung von sogenannter weltlicher und geistlicher Politik samt den säkularisierten Folgen dieser Religion: der Kriminalität in der Außenpolitik, in der Agrar-, Handels- und Finanzpolitik, in der Bildungspolitik, in der Kultur, der Zensur, bei der fortgesetzten Verbreitung von Unwissenheit und Aberglauben ..."
Neben all seinem positiven und dankenswerten Einfluss auf das Weltgeschehen hat Papst Johannes Paul II. aber auch den bis heute fundamentalen Spalter, Joseph Aloisius Ratzinger, aus dem bayrischen Marktl am Inn, später auch bekannt als Bennedikt XVI., nicht nur in Amt und Würde gebracht, weil er dessen rigoroser theologischer Sicht (aufgrund Ratzingers persönlich erlebten und professionell nie aufgearbeiteten 68er-Trauma) ganz offensichtlich aus erzkonservativer, für polnische Verhältnisse seinerzeit völlig normaler Sicht unkritisch anhing und diese so exorbitant groß werden ließ. Lateinamerikas Katholiken leiden noch heute darunter bzw. sind in Scharen weggelaufen.
Bei allem inspirierendem Liebevollen, dass Johannes Paul II. bei persönlichen Begegnungen zweifelsfrei versprühte, stellte er als Verantwortlicher direkt oder indirekt die Befeuerung all dieser selbstherrlichen Kirchenoberen (z. B. Meisner, heute Wölki, Müller, Gänswein, Burke, Vigano und so viele mehr) dar, die teilweise bis heute ihr dogmatisches Unwesen treiben und die in geradezu widerlicher Opposition zu Papst Franziskus stehen, allerdings im geistigen Einklang mit dem heutigen deutschen Garten- und Gegenpapst Benedikt, und für die krudesten Verlautbarungen, letztens noch im Zusammenhang mit der Corona-Katastrophe, verantwortlich sind.
Ja, 100 Jahre Papst Johannes Paul II., verdienen aus politischer Sicht, eine ehrlich ambitionierte Würdigung; aus theologischer, innerkirchlicher Sicht aber war dieser Papst dann doch schon eine Katastrophe, ohne die die heutige Kirche theologisch sehr viel weiter sein könnte. Das sollte in einer Würdigung dann doch nicht auf der Strecke bleiben.
Ja, die Philosophie wollte er mit seiner Enzyklika „Fides et Ratio“ (Glaube und Vernunft, 1998) aus der Knechtschaft der Theologie „befreien“, aber bitteschön nur dann, wenn sie nicht der offiziellen Lehrmeinung widersprach, vertreten natürlich durch seinen obersten Glaubenswächter Ratzinger. Als Tiger gebrüllt, als Ratzingers Bettvorleger gelandet, so könnte man es überdeutlich auch formulieren. Johannes Paul II. war eben nicht der theologisch-philosophische Denker, für den ihn viele hinzustellen versuchen. Das wäre dann eine unvorstellbare katholische Kirchen-Revolution gewesen, wenn er Glaube und Vernunft tatsächlich in einem neuem komplementären Geiste – weit weg vom gehuldigten Aristoteles - gleichberechtigt nebeneinander gestellt hätte. Spätestens bei der Präsentation dieser Enzyklika durch eben diesen Ratzinger ward dann jedwede Hoffnung hinweggenommen. Auch der derzeitige Papst Franziskus ist von solch einem so vieles befriedenden Denken um Lichtjahre entfernt, das am Ende der Grund für die unaufhaltsame Entwicklung zu Aufspaltungen und Sektierertum der katholischen Kirche sein wird.
Und was Kohl und seine Partei anbetrifft, so haben sie zuvor noch in der Opposition mit allen Mitteln der Anstandslosigkeit diejenigen gnadenlos diskreditiert, die im Rahmen der Bonner Republik durch ihre äußerst kluge Ostpolitik das tragfähige Fundament geschaffen haben, ohne das es die Wiedervereinigung niemals gegeben hätte. Ja, Kohl bedurfte ganz offensichtlich sogar eines päpstlichen Beichtvaters.
Das nennt meinersich intelligent sezierende Kommentare; bravo!
Statt wohlfeil oberflächlich aufbügelnder Ode von Historikern, wäre Würdigung von innerer Güte und ziviler Courage Angetriebener wie des Bartholomeus eine Arbeit, die Zeitgeist inspirierend und konstruktiv zu sein vermochte.
Pilger wie Wojtyła und Kohl aufzupolieren, bringt hingegen in ungefähr so viel Verstand und Menschlichkeit in die Welt, wie ein Prospekt des BDI.
Objekte für philanthropische Zeithistoriker:
Das außerordentliche Wirken des Rudolf Augstein und seiner Rechten Hand (die mit dazu beitrug, daß Reporter breiten Spektrums arbeiten durften. Asche auf mein Haupt, das mir der Name nicht gegenwärtig ist) als Wächter der Republik.
Der philanthropische Journalismus des Werner Baecker.
-Und kontrastierend dazu gern das ekelhaft eifersüchtige Sabotieren souverän und gelassen bleibenden Beckers im Interview durch Erich Böhme, als diametral entgegengesetzten Vertreter der aalglatt pseudosachlichen Majorität seiner Branche. (Was für ein allein schon psychologisches Anschauungssbeispiel!)
Das sind mal neuzeitliche Protagonisten von Format, deren Beleuchtung Nährwert hat!
Mögen große Köpfe und Seelen in Frieden Ruhen
Eurozentrismus ist kein brauchbares Mittel gegen Werterelativismus.