Es scheint so, als sei ein Zusammenstoß unvermeidlich. Tausende drängen sich in Barcelona vor dem Hauptquartier der Policía Nacional an der Via Laietana. Sie stehen direkt vor den Einsatzwagen, die das Gebäude wie Prellböcke gegen eine anbrandende Woge schützen. Unzählige Arme strecken sich in die Höhe. Wutverzerrte Gesichter starren in Richtung des Stein gewordenen Objekts ihres Hasses. Es wird geschrien: „Policía, Tortudadora, Asesina!“, Polizisten, Folterknechte, Mörder. Schritt für Schritt wird der Belagerungsring fester und enger. Es scheint so, als sollte dieses Symbol des spanischen Staates stranguliert werden. Hinter den Polizeiwagen stehen Polizisten, die Maschinenpistole im Anschlag.
Doch dann schiebt sich ein Pulk
h ein Pulk mit orangenen Westen und Helmen nach vorn. Respekt teilt die Menschenmenge wie einst Moses das Meer. Aus Pfiffen wird Jubel. Es sind die uniformierten Helden der Feuerwehr. Für sie macht jeder Platz, haben sie doch beim Referendum am 1. Oktober vor Wahlbüros menschliche Korridore gebildet, um Wähler vor der Guardia Civil abzuschirmen. Ein Feuerwehrmann klettert auf eine Leiter und bittet wie ein Dirigent um Ruhe. Von der gegenüberliegenden Seite ist keines seiner Worte zu verstehen, doch etwas ändert sich. Die Masse drängt von den Einsatzwagen weg und lockert ihren Würgegriff um das Polizeihauptquartier. Viele Demonstranten setzen sich in Bewegung, aus der Blockade wird wieder ein Marsch. Während der Feuerwehrmann von der Leiter herunter steigt, ziehen schon andere Protestler vorbei.Über der Plaça Catalunya hängt ein Helikopter der Policía Nacional am Himmel, als hätte ihn dort jemand festgeklebt. Das Knattern der Rotoren übertönt das Treiben am Boden. Demonstranten werfen über den vergitterten Belüftungsschächten der Metro weiße Wahlscheine des Referendums in den Himmel. Die warme Luft bläst sie davon. Finden sie es lustig, dass die Zeichen ihres Aufruhrs als wertlose Schnipsel vom Winde verweht werden?Gefühl der UnsicherheitVier Independistas sitzen auf einer Mauer und schauen um einiges ernster als die Anhänger des Schneeflockenspiels. Wie es ihr derzeit gehe, könne sie schwer beschreiben, sagt die 27-jährige Laura Masnou. „Enttäuschung ist es nicht, Angst ist nicht, Euphorie auch nicht.“ Sie nimmt einen Zug von ihrer Selbstgedrehten. „Unsicherheit, ja, so würde ich mein Gefühl beschreiben.“ Die drei Freunde um sie herum nicken. Carles Ruiz und David Sola leben wie Laura in Barcelona, Aleix Freixas kommt aus Girona. Alle vier nennen einen Grund, warum sie die Unabhängigkeit unbedingt wollen. Es sei nicht so, dass die Katalanen etwas gegen Spanien hätten. Vielmehr sei es umgekehrt, Spanien lehne die Katalanen ab. „Wenn eine Familie ein Kind adoptiert und dieses Kind stets schlecht behandelt, ist es logisch, dass es irgendwann von der Familie nichts mehr wissen will“, meint der 29-jährige David. Wie äußert sich die schlechte Behandlung? Zum Beispiel wolle Spanien nicht akzeptieren, dass an katalanischen Schulen fast nur noch auf Katalanisch unterrichtet werde, meint Carles Ruiz. Madrid unternehme seit Jahren nichts, um die versprochene Bahnlinie entlang der Mittelmeerküste zu bauen. Natürlich aus der Absicht heraus, Barcelona zu schwächen, ärgert sich David Sola. Auf das Argument, die katalanische Nationalbewegung wirke auf viele Europäer wie der reiche Onkel, den der Geiz packe, reagieren die vier jungen Katalanen mit hilflosem Schulterzucken. Um Geld gehe es gar nicht, sagt Laura. Immerhin seien viele Independistas Linke, die mit Kapitalismus wenig anfangen können. Carles Ruiz, der während der Finanzkrise in Deutschland gearbeitet hat, scheint zu spüren, dass die Argumente der Unabhängigkeitsbewegung einem Nicht-Katalanen schwer zu vermitteln sind. „Ich glaube, um das zu kapieren, muss man hier leben und die Geschichte kennen.“Die von Laura Masnous Urgroßvater etwa, der von den Faschisten erschossen wurde. Er war in Sant Quirze de Besora nicht das einzige Opfer des Spanischen Bürgerkrieges zwischen 1936 und 1939. Der kleine Ort in der katalanischen Provinz muss in den 1930er Jahren bitterarm gewesen sein. Die Anarchisten erstarkten hier schon vor dem Bürgerkrieg. Nach 1936 übernahmen sie in Teilen Kataloniens die Macht und begannen zum ersten und einzigen Mal überhaupt, ihre Utopie umzusetzen. Viele von ihnen endeten in Straflagern oder Massengräbern des Franco-Regimes. Was damals geschah, hat sich tief in die Seele der Katalanen eingegraben. In ihrer Region wie im Baskenland war der republikanische Widerstand gegen Franco besonders stark, gepaart mit dem Gefühl nationaler Selbstbehauptung.Wenn Laura Masnou von ihrem ermordeten Urgroßvater spricht, redet sie im nächsten Satz von der Brutalität, mit der die Guardia Civil und die nationale Polizei am 1. Oktober gegen Demonstranten vorgegangen sind. Als handele es sich um nichts sonst als die Fortsetzung des Gewesenen. Für die Aktivisten wie sie ist Spanien eine Fassadendemokratie und Mariano Rajoys Volkspartei ein Aufguss des Franquismus. Warum heiße denn die Guardia Civil noch immer genauso wie unter Franco, als sie Regimegegner folterte und tötete, fragt Laura, während erneut Demonstranten an der Via Laietana rufen: „Policía, Tortudadora, Asesina!“ Sie scheint überzeugt, dass alle weiter die gleiche Rolle spielen: die Täter auf der einen, die Opfer auf der anderen Seite. Dass sie ihre Meinung in der angespannten Lage dieser Tage frei äußern kann, ist für Laura kein Argument. Das sei eine Scheindemokratie, die zum Knüppel greife, sobald es ernst werde. Für sie und ihre Freunde ist klar, dass Kataloniens Ministerpräsident Puigdemont den Weg in die Unabhängigkeit zu Ende gehen muss. „Wir hoffen immer noch auf eine Verhandlungslösung und Hilfe Europas. Leider haben uns die Spanier ja kein demokratisch einwandfreies Referendum ermöglicht“, sagt Carles Ruiz. Sollte es keinen Dialog mit Madrid geben, seien die demokratischen Defizite des Votums auch kein Problem. Ebenso wenig wie ein Rausschmiss Kataloniens aus der EU oder die von Madrid angedeutete militärische Intervention. „Wir sind bereit, das alles zu ertragen“, sagt Laura Masnou. Es klingt wie ein Schwur, den sie ihrem ermordeten Großvater leistet.María Juher Layret meidet die Innenstadt, wenn Anhänger der Unabhängigkeit durch die Straße ziehen. Sie hat dann das Gefühl, den Boden unter den Füßen zu verlieren, und der ist ihr heilig. Die 50-jährige Rechtsanwältin ist Vorsitzende der Resistencia Civil, eines katalanischen Verbandes, der gegen den Separatismus kämpft.Mafiosi am Werk?Schließlich ist Juher Layret doch unterwegs, um bei einem Café con leche zu erklären, warum sie die Panzer der spanischen Armee gern vor den Starbucks-Filialen in Barcelona sehen würde, um Recht und Ordnung wiederherzustellen. Wieder zieht ein Polizeihubschrauber seine Kreise. Das Dröhnen der Rotoren übertönt den Verkehrslärm, und Juher sieht erleichtert gen Himmel. „Gut, dass sie alles beobachten. Bürger wie ich haben auch ein Recht, sich sicher zu fühlen.“ Und dann reiht sie Argumente aneinander, die Leitartikeln überregionaler Medien entnommen sein könnten. Die Separatisten seien fanatisch und gewalttätig, sie entstammten einer vom katalanischen Bildungswesen fehlgeleiteten Jugend. Die korrupten Politiker in Barcelona wollten die Justiz unter ihre Kontrolle bringen, um sich vor Verfolgung zu schützen. Das Spiel mit der EU-Mitgliedschaft, vielleicht mit Krieg und Frieden, sei nichts weiter als ein Manöver von Mafiosi.Juher Layret will keinen falschen Eindruck erwecken. „Ich bin Katalanin und komme aus einer urkatalanischen Familie.“ Doch sei ihr Großvater überzeugter Anhänger der spanischen Krone gewesen und als solcher während des Bürgerkrieges in einem Folterzentrum der Republikaner gequält worden. „Es gab nicht nur Republikaner unter den Katalanen. Auch sind die nicht so schwarz oder so weiß, wie es die Separatisten gern hätten.“ Sie könne sich des Urteils nicht verwehren, dass die Nachkommen der Bürgerkriegsverlierer die eifrigsten Verfechter der Unabhängigkeit seien. Die Klagen über mangelnde Aufrichtigkeit im Umgang mit den Opfern des Franco-Regimes und die Kontinuität zur einstigen Diktatur hält die Anwältin für geschichtsfern. Allerdings verunsichere sie der hitzige Zorn, den sie derzeit erlebe. „Ich frage mich schon, warum ich von wildfremden Menschen als Faschistin bezeichnet und bedroht werde. Vielleicht war das mit dem friedlichen Wandel nach der Diktatur keine so gute Idee. Jetzt holt uns das ein. Fast scheint es so, als müssten wir alles noch einmal durchmachen.“Placeholder link-1
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