Octavian Jurma, früherer Berater des Gesundheitsministeriums in Bukarest, erlebt gerade, wie schrecklich es sein kann, mit einer Prognose recht zu behalten. Der auf Pandemien spezialisierte Mediziner warnte im Juli vor einer neuen Infektionswelle, da sprach die Regierung noch vom Ende der Corona-Krise. Als im Hochsommer verschobene Hochzeiten gefeiert und Restaurants ohne Einschränkungen besuchten wurden, schraubten sich Jurmas Simulationen der Herbstwelle in immer weitere Höhen. „Mein optimistischstes Szenario ging im Oktober von vier Mal mehr Fällen aus als das pessimistischste der Regierung“, erzählt er. Jurma hatte seinen festen Posten im April verloren, als der national-liberale Premier Florin Cîţu Gesundheitsminister Vlad Voiculescu vom
Wenn das Haus brennt
Rumänien Ärzte verzweifeln an einem Land, in dem die Mehrheit Corona-Impfungen ablehnt und stattdessen an Verschwörungen glaubt
om kleineren Koalitionspartner USR-PLUS den Kabinettsstuhl vor die Tür stellte und zugleich ein ganzes Team von Ratgebern feuerte.Doch wollte die Regierung nicht ganz auf Jurmas Expertise verzichten, köderte ihn als ehrenamtlichen Experten – und schlug alle seine Ratschläge in den Wind. Jurma erinnert sich an lange und unproduktive Sitzungen im Gesundheitsministerium bis in den Frühherbst hinein. Wenn er auf die Rückkehr zu den im Juni drastisch gelockerten Schutzregeln gepocht habe, gab es einsilbige Antworten. „Entweder hieß es, das können wir uns wirtschaftlich nicht leisten, oder es sei zu unpopulär.“Jurma erzählt, dass er mit Ärzten in Kliniken in verschiedenen Teilen Rumäniens Kontakt halte. Sie würden derzeit „zerbrochen“ von einer Arbeit inmitten von verzweifelt nach Luft schnappenden Sterbenden. „Sie erzählen mir von jungen Menschen, die unter ihren Händen ersticken. Von ganzen Familien, die ausgelöscht werden. Von kleinen Kindern, die ihre Mütter verlieren.“ All das sei körperlich und seelisch jenseits jeder Belastungsgrenze. Dazu haben die Energieversorger seiner Heimatstadt Timişoara nun auch den Gashahn zugedreht, weil die Kommune ihre Rechnungen nicht mehr bezahlen könne. Auch das Beheizen von Kliniken sei betroffen. Niemand hebe mehr ab in der Notrufzentrale. „Die Menschen sterben jetzt zu Hause in ihren Betten.“Es war Mitte Oktober, als Reporter des Investigativportals Recorder die Endzeitstimmung im Universitätsklinikum von Bukarest in einem 16-minütigen Video festhielten. Es zeigte, wie Pfleger in Schutzanzügen die Toten in schwarzen Leichensäcken in voll belegten Fluren an den Sterbenden auf Karren vorbeischoben. Patienten bekamen ihre Sauerstoffmasken auf Stühlen sitzend übergezogen, weil Betten fehlten. Vor der Klinik stauten sich die Krankenwagen mit Patienten, für die es nirgendwo mehr Platz gab. Laut Aussagen des medizinischen Personals waren alle Patienten ungeimpft.Ein Mediziner verglich in diesem Video die Lage mit den Tagen zwischen dem 21. und dem 27. Dezember 1989. Damals tobte ein Bürgerkrieg in Bukarest und anderen Städten, bis der Diktator Nicolae Ceaușescu gestürzt war.Derzeit rast das aggressive Delta-Virus durch ein Land mit der in der EU geringsten Impfquote von gut 30 Prozent. Jurma glaubt, es sei so ähnlich wie im Frühjahr in Indien, als dort die Pandemie zur Katastrophe wurde.Der Staat ist gelähmtRumäniens Kampf gegen das Virus dauert nun schon einen Monat. Die Hospitäler können landesweit nicht mehr als 6.000 Corona-Patienten aufnehmen. Schon im September begann das Gesundheitswesen zu versagen, da lag die Inzidenz bei 350 bis 400 Fällen pro 100.000 Einwohner. „Die Regierung hat nicht einmal ernsthaft reagiert, als die Inzidenz bei 750 lag“, sagt Jurma. Die Zahl der Infektionen liegt in einem Land mit gut 19 Millionen Einwohnern inzwischen bei 15.000 am Tag. Hunderte sterben offiziellen Zahlen zufolge täglich an dem Virus. Erst mit zeitlichem Abstand wird die Auswertung der Übersterblichkeit ein realistisches Bild vom tödlichen Zug der Delta-Variante durch eine zum überwiegenden Teil ungeschützte Bevölkerung ergeben.Jurma: „Ärzten und Pflegern wird der Urlaub gestrichen. Gleichzeitig weigerten sich die Behörden bis zuletzt, den Menschen Auflagen für Hochzeiten oder Partys zu machen. Sie bürden alles allein dem medizinischen Personal auf.“ Er wirft der politischen Elite seines Landes vor, gierig die Ideen der in Rumänien erfolgreichen Impfgegner und Corona-Leugner aufgesogen zu haben, um zu gefallen. „Unsere Politiker sind Populisten. Sie haben die Empfehlungen ihrer eigenen Gesundheitsbehörden lächerlich gemacht.“Der Politologe Cristian Pîrvulescu war am ersten Abend der Ende Oktober schließlich verhängten nächtlichen Ausgangssperre für Ungeimpfte mit seinem Covid-Impfpass in der Tasche nach 22 Uhr unterwegs. Polizei, die eine Einhaltung der neuen Regel überwacht, habe er nicht gesehen. Ohnehin seien im rumänischen Sicherheitsapparat Anhänger von Verschwörungstheorien besonders stark vertreten. „Von ihnen ist keine Durchsetzung der Ausgangssperre zu erwarten“, glaubt Pîrvulescu. Der Professor an der Bukarester Hochschule SNSPA kommentiert das politische Geschehen in Rumänien unter anderem im staatlichen Fernsehsender TVR. Er ist bekannt als Kritiker sowohl der eher nationalpopulistisch geprägten Sozialdemokraten von der PSD wie auch der bürgerlichen Regierungspartei PNL von Ministerpräsident Cîţu und der allgegenwärtigen Korruption in beiden Lagern. Seine Sorge gilt einem Land, das gleich mehrere Krisen durchlebt.Während Corona die Kliniken des Landes überfordert, leistet sich Rumänien zugleich einen gelähmten Staatsapparat. Premier Cîţu ist seit einem erfolgreichen Misstrauensvotum gegen ihn im Parlament Anfang Oktober nur noch geschäftsführend im Amt. Der 49-jährige Politiker ist damit eingeschränkt handlungsfähig, während Präsident Klaus Johannis ohne entsprechende Mehrheit in der Legislative keine Notverordnungen unterzeichnen kann. Anders ausgedrückt, das Haus brennt, aber niemand ist befugt, es zu löschen. Die lokale Gaskrise im westrumänischen Timişoara kündigt bereits den nächsten Schlag an. Das Land muss sich wegen der steigenden Gaspreise vor einem Winter der kalten Heizungen fürchten.Cristian Pîrvulescu wirft sowohl Fundamentalisten innerhalb der orthodoxen Kirche als auch den in jüngerer Zeit immer gezielter missionierenden Evangelikalen vor, Impfungen gegen das Coronavirus im Sommer verunglimpft zu haben.Da die Noch-Regierungspartei PNL – ebenso wie die Sozialdemokraten – die religiösen Wähler braucht, hätten beide Parteien sich nur halbherzig zu der Impfkampagne bekannt, meint Pîrvulescu. Die Furcht vor der neuen rechtspopulistischen Partei AUR sitze ihnen im Nacken. Diese Gruppierung verbindet einen anti-westlichen Nationalismus mit einem religiösen Gesellschaftsbild und wendet sich vehement gegen alle Corona-Auflagen. AUR zog bei den Wahlen im Dezember 2020 ins Parlament ein. „Diese Partei könnte bei Neuwahlen triumphieren“, meint Pîrvulescu. Und anders als in Westeuropa sei die Haltung der Kirchen in Rumänien immer noch entscheidend für das Handeln der Menschen. Und die seien in seinem Land viel fundamentalistischer eingestellt als irgendwo sonst in der EU. Die Dominanz wörtlicher Bibelauslegungen hinterlasse Spuren in den Köpfen. „2009 sagten über 40 Prozenten bei einer Umfrage, dass sich die Sonne um die Erde dreht, und heute noch glauben zu viele Rumänen an den Teufel.“ Satan sei bekanntlich der Urheber aller Ränke gegen das Gute. „Wer an die Existenz des Teufels glaubt, ist auch oft offen für Verschwörungstheorien“, meint Pîrvulescu. Die Zahl der Rumänen, die an den Fürst der Finsternis glauben, entspreche ungefähr der Quote der Impfverweigerer.Cristian Pîrvulescu zeichnet das Bild einer zwischen romanischer Sprache und orthodoxem Glauben, dem Westen und Russland zerrissenen Gesellschaft, die in der Krise nicht zusammenfindet. Der Graben zwischen aufgeklärten Rumänen und jenen, die im Zweifel die Wissenschaft für gottlos halten, sei so tief wie der zwischen den politischen Lagern. Beide stützten sich auf die für „alternative Fakten“ empfängliche Mehrheit im Land und fürchteten die offen Ressentiments ausschlachtende Konkurrenz der AUR-Partei. Er gehe davon aus, dass die Regierung weiter Chance sehe, an der Macht zu bleiben, während die Opposition sich das Gegenteil erhofft und auf weiteres Chaos setzt“, so das Resümee von Pîrvulescu.Octavian Jurma glaubt, dass die vierte Welle in Rumänien ihren Höhepunkt erreicht hat. Ein Licht am Ende des Tunnels für die überlasteten Krankenhäuser erwartet er erst im Dezember. Die Impfkampagne habe unter dem Eindruck der Katastrophenbilder etwas an Fahrt aufgenommen. Jurma ist aber skeptisch, ob sich für Rumänien eine fünfte Welle abwenden lasse.Die Aufnahme rumänischer Patienten in Deutschland, Ungarn oder Polen und die Lieferung von Ausrüstung aus Deutschland bezeichnet er als dringend nötig.„Es macht mich wütend, dass wir von anderen Hilfe in Anspruch nehmen, während wir uns weigern, uns selbst zu helfen“, sagt er.Jurma spricht sich für mehr Druck der EU auf die rumänische Corona-Politik aus. „Wir lassen das Virus mitten in Europa zirkulieren in einer weitgehend ungeschützten Bevölkerung, in der es mutieren kann und sogar lernen könnte, wie es die geimpfte Minderheit infiziert“, prophezeit er. Klinikärzte in der nordrumänischen Stadt Iaşi berichteten Ende Oktober von Patienten, deren Corona-Symptome sich überraschend schnell verschlechterten und stellten Vermutungen an über eine aggressivere rumänischen Corona-Variante. „Wir brauchen Experten, die uns bei den Sequenzierungen der Virusproben helfen“, verlangt der Mediziner. Die vermeidbare Katastrophe Rumäniens sei leider noch lange nicht vorbei.