„Viele hielten diese Route für ungefährlich“

Interview Ein großer Teil der vor der Ostgrenze Polens gestrandeten Migranten stammt aus dem kurdischen Nordirak. Der Analyst Kamal Chomani erklärt, warum
Im Nordirak gibt es zehntausende Graduierte jedes Jahr, aber keine Jobs für sie
Im Nordirak gibt es zehntausende Graduierte jedes Jahr, aber keine Jobs für sie

Foto: Safin Hamed/AFP/Getty Images

Was erfahren Sie über die Reaktionen der Menschen im Nordirak auf die dramatischen Szenen an der Grenze zwischen Belarus und Polen?

Ich glaube derzeit gibt es kein anderes Thema in den sozialen Medien. Jeder redet darüber. Auch die Medien berichten täglich. Viele hielten die Route über Belarus für ungefährlich im Vergleich zur Mittelmeerroute. Es gibt ja keine Gefahr, dabei zu ertrinken. Inzwischen verstehen die Menschen aber, wie ernst die Lage ist.

Viele Menschen in Europa sind erstaunt, dass derzeit so viele Iraker fliehen. Der IS ist besiegt, und es herrscht kein Krieg. Warum wollen so viele weg?

Es gibt eine politische und eine wirtschaftliche Misere, dazu eine Wirtschaftskrise, die ihre Ursachen in den Zuständen im Nordirak hat. Die beiden Kurdenparteien KDP und PUK teilen seit 2011 die Posten im Land untereinander auf. Solange die Gewinne aus der Ölindustrie Geld in die Kassen der Verwaltung spülten, konnten die beiden Parteien genügend Jobs für junge Leute in der Verwaltung oder der von ihnen kontrollierten Privatwirtschaft schaffen. Seit dem Einbruch der Ölpreise 2014 geht die Rechnung nicht mehr auf. Es gibt zehntausende Graduierte jedes Jahr, aber nirgends Jobs für sie. Eine Chance auf ein Einkommen hat nur, wer Teil des Klientelsystems wird. Proteste junger Menschen gegen den Stillstand werden immer stärker unterdrückt. Unter diesen Bedingungen ziehen es viele Menschen vor, zu gehen, wenn sich die Möglichkeit bietet.

Unternehmen die staatlichen Institutionen genug, die Menschen über die Gefahren der Flucht aufzuklären?

Es gab Pressekonferenzen der Regierung. Das Problem ist aber, dass niemand der Regierung traut und ihre Warnungen deshalb nicht ernst genommen werden. Ich glaube außerdem, dass es denjenigen an der Macht ganz recht ist, wenn junge Menschen, die Veränderungen wollen, auswandern.

Europa schottet sich gegen Migranten ab. Sind sich die Kurden aus dem Irak bewusst, dass sie nicht willkommen sind?

Es gibt sicherlich einige romantische Vorstellungen vom Leben in Europa. Aber ich glaube, vielen ist bewusst, dass sie mit ihren irakischen Abschlüssen in Europa nur Arbeit im Niedriglohnsektor finden. Wir haben seit den 70er-Jahren gehört, dass es irgendwann mal besser für uns wird. Jetzt hoffen viele nur darauf, dass Europa zumindest für ihre Kinder bessere Chancen bietet.

Zur Person

Kamal Chomani ist Analyst und Journalist aus dem Irak. Er schreibt unter anderem für Reporter ohne Grenzen und The Kurdistan Tribune.

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