Gestern Gastarbeiterkinder, heute Akademiker

Erfolgsbiographien Hauptschulabgänger, Problemgruppe, Integrationsverweigerer. Die Kinder von Gastarbeitern haben auch heute noch mit solchen Zuschreibungen zu kämpfen – zu Unrecht.

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Gestern Gastarbeiterkinder, heute Akademiker

Foto: Dan Kitwood/ AFP/ Getty Images

Doch wer nur diese Seite der Medaille sieht, wird Deutschlands türkischstämmiger Bevölkerung nicht gerecht. In den 60er Jahren waren die Türken in Deutschland willkommen: Es herrschte ein Arbeitskräftemangel, die Regierung warb um Gastarbeiter. Sie kamen mit „einem Koffer voller Hoffnungen“ nach Deutschland und sollten für ein paar Jahre im Bergbau und in anderen (bei uns Deutschen wenig beliebten) Jobs schuften und dann in ihre Heimat zurückkehren. Der Integrationsprozess verlief nicht immer reibungslos und wurde vielfach von interkulturellen Missverständnissen und mitunter auch von Konflikten begleitet. Gleichwohl gelingt heute meiner Meinung nach das soziale Zusammenleben zwischen der Bevölkerung und den Zugezogenen oft besser als dies in den Medien und in der Politik dargestellt wird.

Gelungene Integration

In meiner Dissertationsarbeit untersuche ich die Biographien von türkischstämmigen Gastarbeiterkindern, dabei begegne ich immer wieder erfolgreichen akademischen Lebensläufen, die mich faszinieren. Diese Bildungsverläufe erstaunen mich jedesmal, obwohl ich als Forscher „objektiv“ bleiben muss. Die türkischstämmigen AkademikerInnen, die heute als Ingenieure, Lehrer, Informatiker, Journalisten, Ärzte, Politiker und Anwälte und in diversen Bereichen tätig sind, bewundere ich und wenn ich mir ihre Lebensgeschichte anhöre, sage ich mir: Ja, es ist machbar, was man sich vornimmt! Es gibt nichts, was man nicht schaffen kann!

Sie haben während ihrer Kindheit in Baracken, Asylantenwohnheimen oder in abgelegenen Siedlungen gelebt (wo damals keine Deutschen wohnten) und ihre Eltern bzw. Großeltern wurden von der deutschen Gesellschaft in eine Ecke verstoßen und sind in Vergessenheit geraten. Diese Akademiker bzw. die sogenannten Bildungsinländer haben auf allen Ebenen Benachteiligungen sowie Diskriminierungen erlebt und mussten sich in jeder Hinsicht mehr bemühen als ihre Gleichaltrigen. Sie mussten in der Schule, später auch bei der Job- und Bewerbungsphase und der Wohnungssuche, allein schon wegen ihrer türkischklingenden Namen kämpfen. Einer meiner Interviewten formulierte diese Sachlage mit „wenn der deutsche Name die halbe Miete ist“ sehr zutreffend.

Es gibt ein altes Sprichwort: „Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm“. Diese erfolgreichen Gastarbeiterkinder zeigen jedoch, dass der Apfel weit weg von seinem Stamm fallen kann. Es bedeutet nicht, dass man als Arbeiterkind zur Welt kommt und dies auch bleiben muss.

Es gibt viele türkisch-deutsche Erfolgsbiographien, sie müssen nur wahrgenommen werden. Und genau das ist meist das Problem: Die Negativschlagzeilen überdecken die Erfolgsgeschichten. Die große Masse der gut integrierten Mitbürger ist bis auf wenige Ausnahmen unsichtbar, obwohl viele von ihnen Tag für Tag beweisen, dass "den Türken" kein Pauschalurteil erteilt werden darf. Sie haben Erfolg und sie bereichern unser Land – jeder auf seine Art. Bemerkenswert ist dabei, dass sich immer mehr Deutsch-Türken einen Namen in Deutschland machen. Sei es im Fußball, in der Film- und Serienbranche oder auch in der Politik.

Ohne die diese Menschen wäre Deutschland nicht das, was es ist. In der Kultur, Politik, Wirtschaft und im Sport haben die Kinder der Gastarbeiter ihre Spuren hinterlassen. Sie haben einen Blickwinkel eingebracht, den es ohne sie nicht gegeben hätte. Und sie haben die Deutschen dazu motiviert, über den Tellerrand zu schauen. Türkischstämmige Migranten sind trotz Diskriminierungen, Benachteiligungen und bestehender Integrationsbarrieren längst Teil dieser Gesellschaft geworden. Sie partizipieren am gesellschaftlichen Leben, haben hier Familien gegründet, gehen Erwerbsarbeit nach und bestimmen politisch mit. Sie werden zum Vorsitzenden der Grünen oder zur Sozialministerin in Niedersachsen, sind Kulturschaffende oder schießen Tore für die deutsche Nationalmannschaft. Sie sind mitten drin, aber teilweise immer noch unsichtbar.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Cemal Sari

Doktorand an der Ruhr-Universität Bochum

Cemal Sari

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