Die Atmosphäre in der afghanischen Hauptstadt ist angespannt. Es herrschen Verwirrung, Unsicherheit, Furcht vor Übergriffen und Gewalt. Manche Stadtbewohner erinnern sich mit Grauen daran, wie die Taliban schon einmal die Macht im Lande übernahmen; viele suchen verzweifelt nach einem Fluchtweg, nach einer Möglichkeit, sich in Sicherheit zu bringen.
Mit beängstigender Geschwindigkeit haben die Taliban in den vergangenen Wochen erneut weite Teile des Landes gewaltsam unter ihre Kontrolle gebracht; in nur zehn Tagen fielen 26 von 34 Provinzen an die vorrückenden Einheiten. Am Sonntag gipfelte ihr Siegeszug in der Einnahme der Hauptstadt.
Bereits in den Tagen zuvor waren zahllose Binnenflüchtlinge nach Kabul geströmt, die vor den Taliban aus ihren Heimatprovinzen geflohen waren. Tausende von Menschen standen täglich vor dem Passamt in Kabul an und versuchten verzweifelt, die nötigen Papiere zu besorgen, um das Land verlassen zu können. Die Geldautomaten waren bald leer, weil die Menschen ihre Ersparnisse abhoben. Junge Leute füllten Visumsformulare aus; wer ausländische Freunde hat, schickte ihnen verzweifelte Nachrichten in der Hoffnung auf irgendeine Art der Hilfe.
„Kannst du mit deiner Botschaft sprechen? Kennst du jemanden bei der Botschaft, an den ich mich wenden kann? Bitte tu etwas! Wir brauchen dringend Hilfe, bitte“, so kommen die Nachrichten.
Die 33-jährige Rohina Haroon-Walizada und ihr Mann Walid haben vor Kurzem die Nachricht erhalten, dass sie ein Visum für Frankreich bekommen. Trotzdem fällt es ihnen schwer, sich zu freuen, zu unsicher ist die Zukunft. Dazu kommt das erdrückende Schuldgefühl, dass sie Familie und Freunde in Afghanistan zurücklassen.
„Ich weiß nicht, was mit Kabul passieren wird“, sagt Rohina, die vor Kurzem herausgefunden hat, dass sie schwanger ist. „Niemand weiß das. Wir haben alle große Angst.“ Ursprünglich hatten Rohina und Walid zwei der kontingentierten Einwanderungsvisa für Afghanen in die USA beantragt. Aber nachdem sie monatelang nichts gehört hatte, riet ihr ein Freund, sie und Walid sollten es mit Visa für Frankreich probieren. Zwei Wochen später klappte es, sie buchten Flugtickets.
Viele fliehen zum zweiten Mal
„Wir sind froh, dass wir gehen, aber ich weiß, dass es für uns nicht leicht sein wird“, sagt Rohina, die als Angestellte in einem privaten Unternehmen und als Übersetzerin für ausländische Journalisten arbeitete. „Wir haben Touristenvisa, wir dürfen nicht arbeiten und müssen das Land alle drei Monate verlassen. Wir müssen außerdem die Sprache lernen; ich weiß nicht, wie lange das dauern wird.“
Es ist Rohinas zweite Flucht aus Afghanistan. 1994, da war sie noch ein kleines Mädchen, brachten ihre Eltern die Familie nach Pakistan, um dem Bürgerkrieg zu entfliehen, der in Afghanistan herrschte. „Ich erinnere mich nicht an viel“, erzählt sie. „An die Raketen und die Schüsse schon. Wenn es einen Raketenangriff gab, gingen wir in den Keller, aber weil es dort keine Toilette gab, durften wir unten nichts essen oder trinken. Ich erinnere mich, wie hungrig und durstig wir waren.“ In Pakistan hätten sie und ihre Geschwister sich gut eingelebt, sagt Rohina. Für ihre Eltern aber sei es schwer gewesen. Sie brachten große Opfer, um ihr und ihren Geschwistern eine gute Schulbildung zu ermöglichen. Nie hätten sie sich vorstellen können, dass die Geschichte sich wiederholen und all ihre Anstrengungen zunichte machen würde.
Nach dem Sturz des Taliban-Regimes 2001 kehrte die Familie nach Afghanistan zurück. „Wir waren so hoffnungsvoll und glücklich, als wir zurückkamen. Es war nicht einfach, in der Schule statt in Urdu auf Farsi zu lernen, aber alle stellten sich eine gute Zukunft vor – auf die Universität zu gehen, einen guten Job zu bekommen, in der Annahme, dass das Land sicher sein würde“, sagt Rohina. „So wie die Dinge gerade stehen, kann ich mir nicht vorstellen, ein Kind in Afghanistan auf die Welt zu bringen. Andererseits mache ich mir Sorgen, wie wir in Frankreich mit einem Kind überleben sollen, wenn wir nicht arbeiten dürfen.“
Zu wissen, dass ihre Familie, Freunde und Kollegen keine Möglichkeit haben zu fliehen, sei unglaublich hart, sagt Rohina. „Eine meine Freundinnen brach in Tränen aus. Sie sagte ,Ich bin so froh, dass ihr geht, aber was wird mit uns geschehen?‘“
Am Sonntagnachmittag – einen Tag, nachdem Rohina und ihr Mann nach Frankreich ausgeflogen sind – beruhigt sich in Kabul die Lage. Unheimliche Stille legt sich über die Stadt, nur unterbrochen vom Lärm der Hubschrauber, mit denen die USA und Großbritannien ihre Staatsbürger evakuieren. Die Taliban besetzen den Präsidentenpalast und kündigen an, sie würden schon bald – zum zweiten Mal nach 1997 – ein Islamisches Emirat ausrufen und zur neuen Staatsform erklären. Die Straßen sind ruhig, viel ruhiger als sonst, da die Menschen nervös darauf warten, dass die neue Macht sich festigt und ihr wahres Gesicht zeigt.
Sumya, 23, arbeitet als Buchhalterin. Sie war im Juli von ihrem Wohnort Badachschan für einen Fortbildungsworkshop nach Kabul gekommen. Nur wenige Tage nach ihrer Ankunft in der Hauptstadt fiel Badachschan an die Taliban. „Bevor ich wegfuhr, war die Situation in Ordnung, aber in der Nähe gab es Konflikte, sodass ich Taliban-Straßensperren passieren musste, um zu meiner Arbeit in Faizabad zu gelangen“, sagt Sumya. Jetzt ist ihr ganzes Leben auf den Kopf gestellt worden.
Weil sie zunächst nicht sicher sein kann, wie die Lage in ihrem Heimatort ist, fährt sie nach Abschluss der Fortbildung nach Faizabad. Dort findet sie eine Familie, bei der sie unterkommt. Dann wartet sie ab, wie die Dinge sich entwickeln. Sie hat Angst, von den Kämpfern ins Visier genommen zu werden, weil sie eine gebildete, berufstätige Frau ist. Und sie fürchtet, unter einem repressiven Regime leben zu müssen, ihr Haus nicht verlassen zu können, in der Öffentlichkeit eine Burka tragen und von einem männlichen Begleiter begleitet werden zu müssen.
Dann fällt auch Faizabad an die Taliban, es ist der 11. August.
„Ich sitze fest“, sagt Sumya. „Ich weiß nicht, was ich tun soll. Zu meiner Familie kann ich nicht zurück. Ich werde versuchen, einen Weg nach Kabul zu finden, aber ich weiß nicht, was dort passieren wird, die Situation ist sehr konfus, besonders für uns Frauen.“ Und: „Ich will das Land verlassen, aber das ist nicht so einfach.“
Nach Angaben der Unabhängigen Afghanischen Menschenrechtskommission wurden in der Zeit von Mai bis August etwa 900.000 Menschen aus ihrem Zuhause vertrieben. Straßen und Infrastruktur wurden zerstört, Ackerland vernichtet und Häuser in Schutt und Asche gelegt. Viele Familien, die von den Angriffen betroffen waren, sind nach Kabul geflohen. Sie suchen Zuflucht, wo immer sie können; viele sind gezwungen, in Parkanlagen zu schlafen, ohne Zelte, ohne Toiletten oder Zugang zu Nahrungsmitteln.
So wurde aus einer kleinen Pension, einem „guest house“, im Stadtzentrum auf Anweisung der Regierung Ashraf Ghanis ein Zufluchtsort für rund 200 Personen. Saed Ahmed, der Leiter der Einrichtung, sagt, die Regierung habe jedoch bald keine Mittel mehr für die Einrichtung bereitgestellt. Jetzt seien die Mitarbeiter nicht mehr in der Lage, die Menschen zu versorgen. Ahmed sagt, man suche nach einer Lösung.
Drei Tage Brot und etwas Tee
Saweta, eine Mutter von fünf Kindern, die nur ihren Vornamen angeben will, sitzt derzeit im Guest House fest. Sie hat kein Geld und kann nirgendwo hin. Ihr Mann war Soldat und wurde von den Taliban bedroht, weshalb er vor drei Monaten in den Iran floh. Auch Saweta fühlte sich unsicher und floh im Juli mit ihren Kindern nach Kabul. Ihr Mann habe keine Ahnung davon, wie schwierig ihre Lage mittlerweile geworden ist. „Ich habe kein Geld“, sagt sie, „wir haben seit drei Tagen nur ein bisschen Brot gegessen und etwas Tee getrunken.“
Immerhin ist Saweta noch am Leben und unverletzt. Denn wenn die Taliban viele Provinzen auch kampflos einnahmen, so gab es doch andernorts viele Tote und Verletzte. Das Internationale Rote Kreuz (ICRC) betreut seit Anfang des Monats mehr als 4.000 Menschen, die in dem Konflikt verwundet wurden, in 15 Gesundheitseinrichtungen. Das Rote Kreuz gibt an, man habe im Juli fast 13.000 Patienten verarztet, die in kämpferischen Auseinandersetzungen verwundet wurden. Die Zahl wird im August wohl ungleich höher liegen.
Eloi Fillion, der Leiter der ICRC-Delegation in Afghanistan, sagt: „Die Kämpfe in den Städten setzen die Bevölkerung, unser medizinisches Personal und die Patienten einem enormen Risiko aus. Krankenhäuser werden zerstört, genauso die Strom- und Wasserversorgung. Viele Familien haben keine andere Wahl als zu fliehen. Das muss aufhören.“
Nach Angaben der Internationalen Organisation für Migration flohen schon im Juni wöchentlich etwa 40.000 Menschen aus Afghanistan in den Iran. Türkische Medien berichteten, dass täglich zwischen 500 und 1.000 Afghanen die Grenze zur Türkei auf eigene Faust überschreiten.
Am Samstag versprach Präsident Ashraf Ghani, die Regierung werde 40 Millionen Afghani, das sind umgerechnet rund 420.000 Euro, für die Unterstützung vertriebener Familien aufbringen. Am Tag darauf floh er. Wie die Taliban mit der wachsenden humanitären Krise umgehen werden, ist noch unklar.
Nabi* ist Sportler, ein Athlet. Er sieht keine Zukunft im Land: Die Fortschritte der vergangenen 20 Jahre würden wohl bald völlig zunichte sein. Er und seine Freundin, deren Identität er nicht preisgeben möchte, versuchen verzweifelt, Reisedokumente zu bekommen, um sich in Sicherheit zu bringen. „Es ist unmöglich. Alles ist zu! Unser Plan ist es, nach Pakistan zu gehen und von dort aus in die Türkei. Ein türkisches Visum kostet jetzt 8.000 Dollar, von Pakistan aus ist es einfacher“, sagt Nabi. „Die Situation ist entsetzlich. Die Taliban sind überall. Viele von uns glauben, dass alles, was sich in den vergangenen 20 Jahren entwickelt hat, verloren ist. Vor allem für die Frauen. Jetzt müssen wir einfach abwarten.“
Nabis Freundin, auch sie Sportlerin, wurde von den Taliban ernsthaft bedroht, sagt er. „Es ist der Horror, die Taliban in Kabul zu sehen. Wir wissen, wozu sie fähig sind. Vergangenes Jahr waren meine Freunde und ich in einem Bus in Ghazni. Die Taliban hielten den Bus an und verhafteten eine Person, sie sagten, sie arbeite für die Regierung. Uns ließen sie gehen, dann erschossen sie den Verdächtigen.“
Nabi sagt, die Lage ändere sich stündlich, alles schwanke. „Wir haben keine Ahnung, wie unsere Zukunft aussieht. Wenn ich hier bleibe, kann ich wohl nicht weiter Sport treiben, was meine Leidenschaft ist, oder meine Arbeit machen. Also muss ich hier weg.“
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