Ein bekennender Menschenfreund

Statt Kerze Überraschender Besuch, ein sehr netter Abend und ein hysterisches Schauermärchen

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Ein bekennender Menschenfreund

Foto: Hulton Archive/Getty Images

Kürzlich war eine Ratte bei mir. Sie kam aus einem Loch in der Zimmerecke, das auch gelegentlich von Mäusen genutzt wird. Die Ratte war größer und lauter als die Mäuse, aber auch cooler und intelligenter. Ich wollte kein schlechter Gastgeber sein und bewirtete sie mit Schinken und Brot, machte eine Flasche Wein auf, fragte höflich nach dem woher und wohin.

Nein, erfuhr ich, sie sei nicht neu hier, sie kenne die Gegend. Sie sei auch schon mal bei mir gewesen, als ich nicht da war - sie habe sich dann am Mülleimer bedient, kein Problem. Aber nein, sie habe nicht vor, sich dauerhaft hier einzurichten, und auch eine Familiengründung fasse sie in nächster Zeit nicht ins Auge, danke der Nachfrage… Das sei eine kluge Entscheidung, lobte ich und schenkte Wein nach.

Diese Wohnung, fuhr die Ratte fort, liege einfach günstig auf dem Weg vom Dach in den Kanal, und der Mülleimer hier sei offen - die Mülltonnen im Hof seien ja leider meistens unzugänglich. Bald kämen aber die Feiertage, gab ich zu bedenken, da stünden sicher wieder Müllsäcke neben den vollen Tonnen. Das freute die Ratte, und weil sie mir wirklich sympathisch war, versprach ich zu schauen, ob ich in Sachen Mülltonnen was für sie tun könne, auch nach den Feiertagen. Mein Einfluss sei da natürlich begrenzt. Noch Wein? Etwas Brot? Gerne.

Es wurde dann noch ein sehr netter Abend. Wir fanden erstaunlich viele gemeinsame Themen und Interessensgebiete. Je betrunkener die Ratte, desto eloquenter wurde sie, und hatte tatsächlich einiges zu erzählen: Sie sei ein Menschenfreund, was auch unter Stadtratten eine umstrittene Haltung sei. Ferner gehöre sie einer Gruppierung an, die irgendwas mit skeptischer Betrachtungsweise der Ratten-historisch relevanten Mythen im Bezug auf das Zusammenleben mit Menschen in Städten zu tun hat … (Wenn die Rattengesellschaft der menschlichen vergleichbar organisiert wäre, würde ich sagen: Bei meinem Gast handelte es sich um eine akademische Ratte). Diese Gruppierung befasst sich, soweit ich verstanden habe, mit einzelnen großen Ratten-Mythen und überprüft sie auf ihre Herkunft, ihren Wahrheitsgehalt und ihre Anwendbarkeit in der heutigen Rattengesellschaft. Ein solcher Mythos, erfuhr ich auf Nachfrage, sei der RATTENFÄNGER:

Eine dämonische Figur, mit der kleinen Ratten die nötige Angst eingejagt werde, aber mehr als das: Auch ausgewachsene, erfahrene und hochinformierte Ratten nähmen die Gefahr ernst. Es gebe da eine Vielzahl von Theorien, Berichten und Auslegungen, und nicht nur sozial unsichere und ungebildete Ratten glaubten, dass der RATTENFÄNGER existiere und bis heute da draußen morde. Seine Gestalt sei meistens menschlich, variiere aber in der Beschreibung. Auch seine Methoden seien unterschiedlich überliefert. Gemeinsam sei allen Geschichten, dass der RATTENFÄNGER sich der Camouflage der Ratten-Freundlichkeit bediene. Mit süßen Melodien, erlesenen Leckereien, wirkmächtigen Drogen und Visionen von einer rattengerechteren Welt gewinne er erst das Interesse der Ratte, um sie dann satt, benebelt, begeistert, nicht selten mit ihrem eigenen Einverständnis, zu erschlagen, zu ersäufen, zu vergiften. Es gebe auch Berichte – darunter glaubhafte – von Versuchslaboratorien, in denen angeblich medizinische und psychologische Tests mit Ratten gemacht würden - wenn auch niemand eine wirklich schlüssige Erklärung für solche Vorgänge habe. Manche RATTENFÄNGER-Theoretiker gingen so weit, dahinter eine Verschwörung der Menschen zu vermuten, deren Absicht es sei, alle Ratten zu vernichten.

Das klinge natürlich alles ziemlich abwegig. Für jede halbwegs vernünftige Stadtratte sei es absurd, im Menschen einen Feind zu sehen. Sicher könnten Menschen eine Plage sein, aber andererseits lebten doch Mensch und Ratte seit Jahrtausenden zusammen in Städten, und hätte es die verdammten Pestflöhe nicht gegeben, wäre es nie zu den großen Rattenverfolgungen gekommen, die wohl als Hauptursache dafür gelten könnten, dass Ratten und Menschen traditionell ein distanziertes Verhältnis pflegten. Andererseits bauten letztere ja nach wie vor Städte und stellten noch immer die Ernährung der Ratten und reichlich Lebensraum in Höfen, Häusern und Kanälen zur Verfügung. An eine Vernichtungsstrategie könne man wohl andere Ansprüche stellen, wurde die Ratte an dieser Stelle ein bisschen sarkastisch: Immerhin sage man dem Menschen eine nicht geringe Intelligenz nach… Nein: der RATTENFÄNGER-Mythos werde immer zitiert, wenn es darum gehe, die bedauerlicherweise sehr verbreitete Menschenfeindlichkeit argumentativ zu untermauern: Der mythische RATTENFÄNGER manifestiere sich in Menschengestalt, weswegen auch in jedem Menschen der Mörder lauern könne ...

Sie selbst, betonte die Ratte und nahm noch etwas Schinken, halte derlei natürlich für Unfug. Sie sei, wie gesagt, ein bekennender Menschenfreund. Das sei im Übrigen keine naive Schwärmerei. Sie habe durchaus persönliche Erfahrungen. Ihr seien Menschen wohl schon aggressiv begegnet, da wolle sie nichts beschönigen. Aber überwogen habe doch die panische Scheu menschseits. Eine entspannte Begegnung wie die heutige sei natürlich selten. Gleichwohl könne sie, auch im Hinblick auf die lange gemeinsame Historie, kein nennenswertes Ratten-Bedrohungspotential im Menschen erkennen. Wer diese Geschichten verbreite, wolle in der Regel nur die latente Menschenfeindlichkeit unter Ratten nutzen, um Ängste zu schüren und, darauf laufe es ja immer hinaus, die besseren Futterstellen für sich zu sichern. Propaganda sei das, in den meisten Fällen. Wer nur die Informationen aus erster Hand ernst nehme, käme schnell zur Erkenntnis, dass die Konfrontation mit Hunden, Katzen und Füchsen um ein Vielfaches gefährlicher sei, und auch da könne sie aus eigener Erfahrung sprechen…

Sicher sei nicht von der Hand zu weisen, dass immer wieder Ratten auf rätselhafte Art gewaltsam zu Tode kämen oder auf Nimmerwiedersehen verschwänden, und die logischen Erklärungen, die sich dafür finden ließen, klängen oft nicht halb so plausibel wie jede Ratten-Vernichtungs-Theorie, die in den Kanälen kursiere… Aber dass nun für jeden ungeklärten Todesfall der Mensch verantwortlich sein solle, sei eindeutig ein hysterisches Schauermärchen, mit dem sich schlichte Gemüter der Idee der Eigenverantwortung entzögen … Bei den Massen-Vergiftungen, um nur ein bekanntes Beispiel zu nehmen, sei eben, so rätselhaft auch ihr zyklisches Aufkommen, doch in jedem Einzelfall die Gier, Instinktlosigkeit und mangelnde Vorsicht der betreffenden Ratte im Spiel gewesen. Dasselbe gelte übrigens für Genickbrüche in Schnappfallen. Man wisse schließlich seit Rattengedenken genau um die Gefahr. Dass es immer wieder zu tödlichen Unfällen käme, liege ja selten am Hunger, sondern oft an Blödheit und nicht zuletzt an den Profilierungsgelüsten junger Ratten, die von irgendwem gehört hätten, der mal eine Schnappfalle ausgenommen habe – was ja auch tatsächlich nicht unmöglich sei, aber doch ein besonderes Kunststück, das zumindest ein Verletzungsrisiko berge, das in keinem vernünftigen Verhältnis zu den Häppchen stehe, die es zu ergattern gebe…

Sie selbst, räumte die Ratte ein, habe zwar auch keine schlüssige Erklärung dafür, warum solche Fallen offensichtlich von Menschen aufgestellt und bestückt würden - aber damit die Vernichtung der Ratten vorantreiben zu wollen, das sei so lächerlich, dass es selbst für Menschenfeinde schwer zu glauben sei … Ob ich ihr vielleicht etwas Aufklärendes zur Schnappfalle erläutern könne, aus menschlicher Sicht?

Man könne sie sich als eine Art menschliche Demonstration der territorialen Hoheit denken, versuchte ich zu erklären, woraufhin die Ratte mich begeistert unterbrach: Ja! Es gebe diese Theorie – sie kenne da einen Kollegen, der sicher entzückt sein werde, sie aus zweiter Hand von einem Menschen bestätigt zu bekommen. Hach, es gehe doch nichts über einen gepflegten informativen Austausch zwischen den Spezies…

Ob mir vielleicht auch irgendwas zum Thema RATTENFÄNGER einfiele? Ob der Begriff uns überhaupt bekannt sei? Ja, den hätten wir auch, musste ich zugeben und versuchte mich an einer diplomatisch editierten Version des Rattenfänger von Hameln, ungefähr: Er spielte auf seiner Flöte eine Zaubermelodie, und alle folgten ihm. Erst die Ratten, dann die Kinder. Wohin, wisse man nicht mit Sicherheit. Die landläufige Meinung sei: In die Vernichtung. Es gebe aber auch die Vorstellung, die besage: In eine bessere Welt…

Ah, das sei ja hochinteressant, fand die Ratte, die immer euphorischer wurde: Nicht nur ein Mythos, den Mensch und Ratte teilten – auch ein Zauberer, der sowohl Ratten als auch Menschen verführe – ob das nicht abermals ein Beleg sei für tiefe Verbindung und grundlegende Zusammengehörigkeit von Ratte und Mensch? Wie man angesichts solcher Erkenntnisse noch ein Menschenfeind sein könne, sei ihr schlichtweg ein Rätsel. Wo doch auf der Hand liege, dass die Welt, die ja ohnehin ein großzügiger und dankenswerter Ort sei, noch um ein Vielfaches phantastischer sein könnte, wenn Ratten und Menschen abließen von ihren paranoiden Ressentiments und sich als verschiedene aber gleichrangige Teilhaber am großen Gesamtgefüge Stadt begriffen …

Darauf hätten wir gerne getrunken, aber der Wein war alle. Ich bedauerte nach einem Blick auf die Uhr, dass der Supermarkt schon zu sei, anderenfalls ich gerne für Nachschlag gesorgt hätte, aber die Ratte wurde plötzlich hektisch: Herrjeh, wie die Zeit vergehe, sie habe noch ein Meeting im Kanal. Sie käme aber gerne wieder vorbei. Es sei ihr eine große Freude gewesen, mich kennenzulernen. Sie hoffe, bald Zeit zu finden, um unsere angeregte Konversation weiterzuführen. Auf die speziesübergreifende Solidarität! Verabschiedete sich die Ratte feierlich, schlingerte in Richtung Zimmerecke und verschwand rumpelnd mauerabwärts.

Vielleicht hätte ich ihr im Vertrauen sagen sollen, dass das Loch in der Wand wohl demnächst geschlossen wird. Aber irgendwie hab ich das nicht fertiggebracht. Wo doch das Jahresende bevorsteht in seiner Kälte, Finsternis und Sentimentalität ... Den Gips hab ich schon gekauft. Aber die Feiertage werd ich wohl noch abwarten.

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Geschrieben von

Charlie Schulze

"Bei meinen Feinden, zuweilen, finde ich Zuflucht vor meinen Genossen." (Peter Rühmkorf)

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