Fakten aus dem Nähkästchen

Statt Kerze Von Menschen und Angelegenheiten, die nicht in die Schubladen passen

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In meinem Nachbarhaus wohnt eine Migrantenfamilie: Die Großeltern kamen als Gastarbeiter aus der Türkei und blieben. Er stand 30 Jahre am Fließband, sie ging putzen. Ein Kind wurde nachgeholt, zwei andere wurden geboren. Die Kinder wurden erwachsen und zogen abermals in die Welt hinaus, eins ging in die Türkei, eins in die USA, nur eine Tochter blieb, heiratete einen Mann, der in einer Döner-Bude arbeitet, und bekam 3 Töchter mit ihm.

Alle sind, nach eigenem Bekunden, gläubige Muslime. Man geht in die Moschee und zelebriert den Ramadan. Oma, Mutter und die älteste Enkelin tragen Kopftuch. Die mittlere Enkelin geht mit offenen Haaren und dramatischer Schminke, die jüngste spielt im Fußballverein.

Die Männer treffe ich selten, auch die Mutter kenne ich nur von Sehen, man grüßt sich. Mit der Oma und ihren Enkelinnen komme ich schon mal ins Gespräch. Die älteste Tochter machte dieses Jahr Abitur, möchte Lehrerin werden und erzählt von Diskriminierungs-Erfahrungen, die sie wegen des Kopftuches macht. Ihre geschminkte Schwester, die schlechtere Schulnoten hat, macht sich eine Menge Gedanken und hat mich mal gefragt, wie das gehen soll, nicht an Gott zu glauben. Die Oma schwärmt für den türkischen Staatspräsidenten und wird giftig, wenn Kurden in der Stadt demonstrieren. "Terroristen", schimpft sie, "Was wollen sie? Sie haben alle Rechte, aber wollen immer noch mehr." Ihre Enkelinnen schauen betreten beiseite.

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Bei dem einzigen syrischen Flüchtling, der mir bisher persönlich begegnet ist, handelt es sich um einen 56jährigen Genforscher, der besser Englisch spricht als ich und auf die Frage nach seiner Konfession höflich, aber bestimmt klarstellte: Er sei Naturwissenschaftler und als solcher keinem spirituellen Hokuspokus verpflichtet.

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Der einzige Mensch, der mir mal eine Schusswaffe vors Gesicht gehalten hat, war ein deutscher Arbeiter, Familienvater und Hundehalter, der sich um seine Sicherheit sorgte. Ort und Zeit des Geschehens: Ein Grünstreifen, zu früher Abendstunde, im Herbst 1994. Anlass war eine Fetzerei unserer Hunde, bei der der Meinige dem Seinen eine unspektakuläre Bisswunde zufügte. Wie bei solchen Anlässen öfter, schwappte das Adrenalin auch in den Hundehaltern hoch und kam erst richtig zur Entfaltung, als die Hunde-Angelegenheit längst geregelt war. Ein Wort gab das andere, und dann schaute ich in die berühmte Mündung einer Pistole.

Waffen sind nicht mein Gebiet - es bleibt unklar, ob es eine „echte“, eine Attrappe oder (wie der Mann später bekundete) eine Gaspistole war, und glauben wollte ich die komplette Situation nicht. Einmal auf Adrenalin, war es nicht Vernunft oder Angst, sondern meine Empörung über die enorme Unverhältnismäßigkeit, die das Wort übernahm… Und so disputierten wir weiter, ein Passant rief auf meine Bitte die Polizei an (Mobiltelefone waren noch nicht selbstverständlich, ich hatte keins), die Waffe verschwand wieder in der Jackentasche, die Polizei kam nicht. Allmählich wurde es dunkel, und ich lernte am praktischen Beispiel, wie unmöglich es Menschen auf Dauer ist, nicht zu kommunizieren…

Wir wurden uns darüber kein bisschen sympathischer, aber Tatsache ist: Wir kamen ins Gespräch, und ich erfuhr etwas über den Mann und seine Motive. Er sei ein Familienmensch, erklärte er, und auch sein Hund gehöre zur Familie, zu deren Verteidigung er notfalls mit der Waffe bereit sei. Im Laufe des Gesprächs klang es immer mehr so, als habe er eigentlich vor mir Angst gehabt... Als ihm klar wurde, dass bei mir definitiv nichts zu holen sein würde, erklärte er generös, die Tierarzt-Kosten für seinen Hund werde er selbst übernehmen, und riet mir schließlich noch, mir einen Job zu suchen. Er selbst arbeite hart, tat er kund, er habe es auch nicht leicht, und es sei nie zu spät, sein Leben auf die Reihe zu kriegen. Dann war es Zeit für die Tagesschau und unser Adrenalin endgültig im Keller. Es war längst dunkel und kalt, die Polizei war nicht gekommen. Wir gaben uns die Hand, packten unsere Hunde ein und er ging dahin: Ein rechtschaffener, hart arbeitender Familienmensch, der vor 22 Jahren schon eine Waffe zur Sicherheit brauchte.

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Es gibt da einen jungen Mann, der großen Wert auf seinen Style legt: Er hat Gel in den Haaren, Ringe in den Ohren und an den Händen, Kettchen an der Hose, Geklimper um den Hals - und ein Karl Marx-Zitat auf dem Arm. Als ich ihn kennenlernte, war er 23, gerade aus Istanbul nach Deutschland gekommen und half in einer Nachtspelunke aus, um die Sprache von Marx und Nietzsche schneller zu lernen. Er kam vom Uni-Deutschkurs zur Arbeit, erklärte mir nach ein paar Monaten Systeme der Grammatik, über die ich nie nachgedacht habe, und wollte mit mir klassische deutsche Literatur besprechen, die er auf Türkisch und Englisch gelesen hatte. Als er mir seinen Arm zeigte, stellte ich mir vor, wie ein Junge in Istanbul ein Tattoo-Studio aufsucht, um sich ein paar Sätze von Marx stechen zu lassen - in Originalsprache. Solche Dinge geschehen, im richtigen Leben.

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Ich habe einen anderen jungen Mann getroffen, der spielte Bluesgitarre wie ein alter Mann. Er kam aus Marokko, sprach kaum Deutsch und wenig Englisch, schwärmte für Rory Gallagher - ein Reisender mit unklarem Ziel und Aufenthaltsstatus und großer Leidenschaft für Bluesrock. Ich versuchte mir vorzustellen, wie ein Junge irgendwo in Marokko Rory Gallagher hört und Gitarre übt. Ich empfinde Begegnungen als Geschenk, die mich auf solche Vorstellungen bringen, und hoffe sehr, dass sich sein Aufenthaltsstatus zu seinen Gunsten geklärt hat – ich würde mich freuen, ihn wiederzutreffen.

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Ich hatte einen Schulkameraden: Ein Mathe-Nerd mit Hang zur Autoritätskritik und sensiblem Gerechtigkeitsempfinden. Er war smart, rebellisch und ein guter Kumpel, mit dem man vollmundig streiten konnte, ohne dass dabei jemals die Freundschaft in Frage gestanden hätte. Wir teilten in den letzten Schuljahren das Ideal des Nonkonformismus und eine Leidenschaft für intelligente Provokation, vielmehr: was wir dafür hielten (und bestenfalls provokante Schlaumeierei gewesen sein wird), und versuchten unsere noch feuchten Federn gleich als kühne Freigeister zu spreizen. Während ich meine frühen Selbstversuche in Persönlichkeitsperformance, Dekonstruktion und kultureller Verortung unter der Idee Punk subsummierte und damit ein bereits bestehendes Label zur Orientierung nutzte, ging mein Kamerad einen radikaleren Weg: Er performte etwas, für das es in den letzten Jahren der alten Bundesrepublik noch gar kein Wort gab.

30 Jahre später ist daraus ein komplettes Phänomen geworden, für das es verschiedene Bezeichnungen gibt. Keine davon scheint mir so treffend wie das Bild eines bebrillten Bürschchens im Sakko, das, Heidegger und Oswald Spengler zitierend, den Geschichtslehrer herausfordert, mit einem ellenlangen Referat über Ernst Jünger den Deutschlehrer nervt und mit seinem Interesse für den Schlachtenverlauf des Ersten Weltkrieges allen auf den Wecker fällt: Ein Prinzipienreiter mit Gespür für lästige Fragen, der mit erhobener Stimme fordert, man möge ihn ausreden lassen und dann redet, bis die Pausenklingel geht.

Da mein Kamerad Bundfaltenhosen trug, Schach spielte und klassische Musik hörte, galt er aber nicht als ideologisch gefährdet und kam im pädagogischen Radar allenfalls als kurioser Fall von Individualismus vor, der sich aus der Opposition zu einem liberalen Elternhaus speist. Ich bin ziemlich sicher, dass er das selbst auch so gesehen hat und im Grunde seinen CDU-Button an der Jacke trug wie ich meine Sicherheitsnadel im Ohr: Als Zeichen der Widerspenstigkeit gegenüber der als solchen empfundenen Norm. Auf die Idee, einander als weltanschauliche Gegner zu verachten, sind wir nie gekommen. Unsere Wege trennten sich, als ich die Schule abbrach. Er wollte Abitur machen, studieren und einer schlagenden Verbindung beitreten, um seine Eltern zu schocken.

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Ein paar Jahre habe ich mit einem Kollegen gearbeitet, der Sinto ist und sich selbst Zigeuner nennt. Er gebraucht das Wort ständig. In seiner Sprache Sintitikes gibt es bezeichnenderweise ein Wort für Nicht-Zigeuner, im Deutschen nimmt er dafür ersatzweise „Deutsche“ und meint nicht immer Deutsche, sondern oft die Mehrheitsgesellschaft. Soweit ich das nachvollziehen kann, ist diese Unterscheidung in seiner Lebenspraxis tatsächlich viel wichtiger als in meiner. Er hat, laut eigener Aussage, 300 Cousins, und ich war mal dabei, als er einen fremden Sinto traf und die beiden nach wenigen Minuten ihr Verwandtschaftsverhältnis hergeleitet hatten. Wenn von Kollegen die Rede ist, sagt er fast immer dazu, ob es sich um Zigeuner handelt, oder fragt danach. Die Selbstverständlichkeit, mit der er das tut, hat mich anfangs irritiert. Auf Nachfrage erfuhr ich: „Für euch ist das nicht so wichtig – ihr seid Deutsche. Bei uns ist das anders.“

Seine 7 Kinder und seine Frau sind eigentlich ebenfalls Deutsche, auf dem Papier. Aber Deutsche wie in „Ihr Deutschen“ sind sie wieder nicht, weil eben auch Zigeuner. Er selbst ist auf dem Papier staatenlos und kann deshalb nicht amtlich heiraten, was ihn mehr ärgert als sein Duldungs-Status. „Schwule und Lesben heiraten“, regte er sich mal auf, „und ich darf die Mutter meiner Kinder nicht heiraten“. Dass da jetzt aber die Schwulen und Lesben nichts dafür könnten, erwiderte ich und kam mir lahm vor. „Du verstehst das nicht“, sagte er. „Du bist deutsch. Bei uns ist das was anderes“. Das sagt er öfter, und es klingt nie wie eine Anklage. Eher wie ein Ausdruck von Toleranz - in unterschiedlicher Tonalität: Mal milde überheblich, weil jede Erklärung vergebens scheint - mal voller Respekt für die individuellen Freiheiten, die „Deutsche“ in Anspruch nehmen können, die aber seine Leute, wie er das sieht, nicht betreffen.

Die Kinder haben sehr deutsche Vornamen, an Drill grenzend gute Manieren und durch die Bank gute Schulnoten. Sie sprechen untereinander Sintitikes, aber selbst wenn sie Deutsch sprechen: Wenn sie in die U-Bahn einsteigen, halten die Leute ihre Taschen fest. Sie haben hunderte von Cousins und Cousinen, die ebenfalls Sintitikes sprechen und in einem Dutzend verschiedener Länder ähnliche Erfahrungen machen. Sie haben deutsche Pässe und einen Vater, der seit 10 Jahren alle paar Monate seine Duldung verlängern lassen muss.

Einer seiner Urgroßväter, hat er mal nicht ohne Stolz erzählt, habe bei der Waffen-SS gedient. Manchmal schwärmt er von seiner Jugend unter Tito, aus seiner Sicht „Ein guter Mann. Wie der noch war, durfte keiner was gegen Zigeuner sagen.“

Seine Feststellung, dass "es" bei Deutschen, bzw. Zigeunern, eben „was anderes“ sei, klingt oft wie eine höfliche Bitte, es damit gut sein zu lassen. Meistens komme ich ihr nach. Bevor ich ihm vorhalte, dass er es sich zu einfach macht, muss ich zugeben: So einfach, wie ich es gerne hätte, ist es eben auch nicht.

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In meiner Straße wohnt eine ältere Frau, die ist so offensichtlich arm, einsam, ausgegerenzt, dass sie ihr Leben nicht verkompliziert, um das zu kaschieren. Sie klappert die öffentlichen Müllkörbe nach Leergut ab und sucht soziale Kontakte an der Bushaltestelle. Dort spricht sie alle an, die ihr in die Quere kommen und setzt sich vehement darüber hinweg, dass sie den meisten Leuten unangenehm ist. Selbst, wenn sich jemand abwendet, redet sie einfach weiter. Manchmal spricht sie dem gerade abgefahrenen Bus hinterher. Wer aber von ihrem auffälligen Verhalten und ihrer eindeutigen Erscheinung auf mangelnde Zurechnungsfähigkeit schließt, ist im Irrtum:

Wer aus Höflichkeit oder Interesse ein paar Minuten zuhört, wird merken, dass er eine ganz sortierte Person vor sich hat. Wer sich bis zum nächsten Bus Zeit nimmt, um eine Weile zuzuhören, wird feststellen, dass die Geschichten, die sie erzählt, Hand und Fuß haben. Sie haben sogar Anfang und Ende, wenn man noch einen Bus sausen lässt.

Sie erzählt von ihrer horriblen Kindheit als Heim- und Pflegekind in den frühen 1960ern und von den Grenzen, die ihr früh zugewiesen wurden: Sie habe sich bei der Hausarbeit "ungeschickt" angestellt und sei daraufhin "wieder ins Heim gegeben" worden, auch sei sie "zu dumm für die Schule" gewesen und habe deswegen ständig Prügel bezogen. "Wie kann man so mit Kindern umgehen?" fragt sie empört die Leute an der Haltestelle. "Das ist doch nicht richtig, Kinder zu schlagen!"

Sie macht sich auch Gedanken über Dinge, die sie im Fernsehen gesehen hat, oder die im Viertel passieren. Vor einem Jahr wurde auf einem leeren Grundstück ein Containerdorf für Asylsuchende aufgebaut. Meine Nachbarin dazu: „Die armen Leute. Denen muss man helfen. Das sind doch Menschen. Mich hat auch nie einer gewollt, ich weiß, wie das ist.“

Sie sagt das mit einer Selbstverständlichkeit und einer Würde, vor der ich mich verneigen möchte.

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Geschrieben von

Charlie Schulze

"Bei meinen Feinden, zuweilen, finde ich Zuflucht vor meinen Genossen." (Peter Rühmkorf)

Charlie Schulze

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