Lob des leisen Mannes

Homo Sapiens Sapiens Der leise Mann macht sich lieber nützlich als wichtig und hat auch sonst seine Methoden. Eine Wertschätzung

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Der leise Mann setzt sich leise durch. Wartet's ab
Der leise Mann setzt sich leise durch. Wartet's ab

Foto: imago images / Panthermedia

Die Welt, wie sie sich uns heute darstellt – die menschliche Gesellschaft, wie sie in den letzten Jahrhunderten bis in die uns noch persönlich bekannten Generationen gestaltet wurde: Patriarchal, heteronormativ, von Macht- und Verteilungskämpfen geprägt, aber auch vom ständigen Ehrgeiz, große Werke zu schaffen und den sogenannten Fortschritt zum Wohle der Spezies voranzutreiben. Diese Welt also, so schnell sie sich auch aktuell weiterdreht und in ihrem So-sein durchaus infrage steht, wird dominiert vom lauten Mann. Er agiert raumgreifend, er telefoniert laut, er sitzt breitbeinig in hässlichen Möbeln und lenkt die Geschicke, er doziert an der Theke, er spricht wichtig in Mikrophone, er schwafelt das Internet voll. Überall, wo über die Restwelt entschieden und ihr Sein und Handeln bewertet, eingeordnet und abgemeiert wird, ist der laute Mann ganz vorne dabei und geht deswegen davon aus, tatsächlich die persönliche Relevanz zu haben, die sein Verhalten behauptet.

Der laute Mann verwechselt gern Souverainität mit Dominanz und vernachlässigt oft Stilfragen. Weil er sich am wohlsten fühlt, wenn er sich selbst lärmen hört, ist Zuhören eine Disziplin, die ihm nicht liegt – und sich mit den Augen des Gegenübers zu betrachten, käme ihm gar nicht in den Sinn. So entgeht ihm seine eigene Lächerlichkeit völlig – und das ist schade, denn die ist doch oft das Liebenswerteste an einem Menschen.

Darüber hinaus ist die Welt, die der laute Mann meint geschaffen zu haben, sie aber eigentlich nur in ihren unangenehmen Aspekten repräsentiert, eine Welt, die nicht die ganze Wirklichkeit berücksichtigt. Und eine, in der sich selbst der laute Mann zunehmend unwohl fühlt. Wenn er aber unsicher wird, dröhnt er mit doppelter Lautstärke los, was die gesamtgesellschaftliche Dezibelzahl weiter nach oben schraubt: Ein Jedes, das überhaupt noch gehört werden möchte, muss schreien, was die Stimme hergibt, und der laute Mann sieht sich abermals als Maßstab menschlichen Verhaltens. Gleichzeitig ist der laute Mann aber gerade hier und heute der ebenfalls lauter werdenden Kritik ausgesetzt. Und wo er sowieso schon immer fürchterlich unter Strom stand, sorgt er sich nun nicht nur um seine Position, sondern auch um sein Selbstbild – und wird darüber erst recht schwer erträglich.

Zu loben ist in dieser Welt der leise Mann. Der leise Mann kann schweigen. Und wenn er etwas sagt, ist es mehr als ein tönender Anteil am allgemeinen Lärm. Er spricht in der Absicht, unterhaltsam, hilfreich, weiterführend zu wirken, aber wenn andere dran sind, redet er nicht dazwischen. Der leise Mann kann sich durchaus darstellen, aber er möchte nicht jedermann imponieren, sondern bitte den richtigen Leuten. Ansonsten macht er sich still seine Gedanken, die er nicht unbedingt mitteilen muss. Wo der laute Mann gute Manieren als Zwang empfindet, von dem er sich in angenehmen Träumen und Rauschzuständen gerne befreit, hat der leise Mann erkannt, dass gute Manieren den Alltag auch für ihn angenehmer machen. Der leise Mann hat gerne seine Ruhe, und angewandte Höflichkeit kommt ihm allgemein entgegen, weil sie ihm seine Ruhe verschafft.

Der leise Mann ist ein friedliebender Mensch, aber doch nicht weniger Weltgestalter als die lauten Vertreter – im Gegenteil ist der leise Mann überall beteiligt, wo tatsächlich die Welt geändert wird. In konzentrierter Arbeit, mit vielen leisen, geduldigen Schritten, Fügungen, Handgriffen, Strichen und Worten, mit still und langsam wachsenden Erkenntnissen und Werken. Der leise Mann findet Erfüllung in seiner Beschäftigung selbst. Er macht sich lieber nützlich als wichtig. Er ist auch nicht unbedingt davon abhängig, gesehen zu werden und möglichst viel Applaus zu bekommen. Dabei ist er keinesfalls uneitel. Im Gegenteil legt er großen Wert auf den Eindruck, den er hinterlässt. Zurückhaltung und Bescheidenheit gelten ihm als guter Stil. Er hat nicht die Absicht, auf die Titelseite zu kommen, wenn er sich dafür zum Trottel machen muss – gegen die Titelseite als solche hat er aber nichts einzuwenden, so sie ihm in angemessenem Tonfall für die richtige Sache offeriert wird.

Im Weltbild des lauten Mannes mangelt es dem leisen Mann an Durchsetzungsvermögen – und genau an diesem Punkt, den er als wesentlich empfindet, könnte der laute Mann nicht falscher liegen. Der leise Mann hat seine Methoden, und die sind nicht nur energieeffizienter, sondern insgesamt nachhaltiger als des lauten Mannes Getöse. Auch und gerade in Fragen der Balz bzw. Beliebtheit beim sogenannten anderen Geschlecht, die in der patriarchalen heteronormativen Gesellschaft nach wie vor große Bedeutung hat, quält sich der laute Mann am Irrtum ab, sein Gebrüll sei der Frau als solcher eine Freude. Während der leise Mann all seinen Esprit und seine Zuwendung einer real existierenden Person widmet und seine Erfolge lieber still genießt als selbstgefällig ausposaunt. Sämtlich Verhaltensweisen, die der Frau als solcher sehr gefallen und auch dem lauten Mann gut stehen, der klug genug ist, vom leisen Mann zu lernen.

Der leise Mann ist als Mitmensch angenehm und als Genosse wie Gegner nie zu unterschätzen – schon, weil seine Position oft nur einem erkennbar ist, das auf leise Töne achtet. Die Waffen des leisen Mannes sind Wissen, Geduld, Ironie, Phantasie, Fleiß und Verweigerung. Wenn man am leisen Mann so etwas wie Kritik haben sollte und üben will, muss diese Kritik leise sein, denn sein sensibles Ohr hört alles in mehrfacher Deutlichkeit. Wo der laute Mann überhaupt erst zur Kenntnis nimmt, leidet der leise Mann bereits große Schmerzen. Anders als der laute Mann, der im Konflikt einen prächtigen Anlass zum Lärmen hat, sucht, braucht, will der leise Mann keine Konflikte. Und ihm zufolge gäbe es gar keine, wenn alle Welt einfach rücksichtsvoll und leise wäre wie er. Nun ist aber der leise Mann nur eine Spielart der Spezies Mensch. Mithin ist die Welt überbevölkert mit allerlei Wesen, deren geräuschvolle Existenz und Interaktion eine besondere Rücksichtnahme nur im Ausnahme- und Einzelfall vorsieht. Sich selbst als solchen Fall zu begreifen, ist die kleine Extravaganz, die unserem leisen Mann von Herzen gegönnt sei. Wenn auch deren programmatische Umsetzung letztendlich undurchführbar bleibt.

So muss der leise Mann sich doch dem Getöse stellen und seine eigenen Strategien entwickeln. Eine erfolgreiche ist, sich zu verweigern und zu entziehen, wo es schwer erträglich wird, lieber zu gehen als sich unnötig aufzureiben, die Kraft zu sparen für das leise Wesentliche, wo eine Auseinandersetzung laut und gleichermaßen sinnlos wie anstrengend zu werden droht. Eher als Nebeneffekt dieser Überlebensstrategie hat sich gezeigt, dass Verweigerung auch ein nicht unbeträchtliches Druckmittel darstellen kann und einen paradoxerweise in genau die Souveränität versetzen, die unter lauten Männern beständig als Pose trainiert wird, aber selten zur Haltung reift. Dagegen: In freier Entscheidung den Zirkus nicht mitzumachen; im Gerangel um Posten und Sendezeit höflich beiseite zu treten; unbeeindruckt zu gehen, wo eins mit der Autorität der lauteren Stimme zu unterdrücken oder zu eskalieren sucht. Das alles hat jene leise Kraft und Klugheit, die in der Gesellschaft des ausgehenden Patriarchats wie zur Überwindung des Kapitalismus gut gebraucht werden kann.

Dazu kommt, dass der leise Mann nicht der einzige ist, dem der immer noch zunehmende Krach der Menschheit auf die Nerven geht. Sympathisanten, Genossinnen, Leute aus den nächsten Generationen nehmen die Haltung des leisen Mannes beifällig zur Kenntnis und vertreten ebenfalls die Meinung, die Gesellschaft könnte ruhig etwas weniger kompetitiv und allgemein rücksichtsvoller gestaltet werden.

Der leise Mann setzt sich leise durch. Wartet's ab.

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Geschrieben von

Charlie Schulze

"Bei meinen Feinden, zuweilen, finde ich Zuflucht vor meinen Genossen." (Peter Rühmkorf)

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