Mein Land ist das auch nicht

Polemik Krass: Die Kanzlerin und ich sind uns einig... Irgendwas stimmt da nicht.

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Ja, Frau Merkel: Mein Land ist das auch nicht.

War es noch nie. Ich lebe hier nur. Ich bin hier geboren und aufgewachsen, was ich mir beides nicht ausgesucht habe, und später bin ich hiergeblieben, wo ich schon mal da war …

Hier kenne ich mich besser aus als anderswo und kann deswegen ein bisschen mitreden, wenn es um dieses Land geht… Ich beherrsche die Landessprache, bin hier sozialisiert und kulturell geprägt worden. Ich besitze sogar ein Dokument, das mich als Bürger dieses Landes ausweist. Ich werde hier aufgefordert, an Wahlen teilzunehmen und Steuern zu bezahlen, und das tue ich auch. Weil ich hier lebe. Weil in meiner Sozialisation Begriffe wie „Demokratie“ und „Bürgerpflichten“ eine gewisse Rolle gespielt haben. Weil ich in der Schule in Geschichte aufgepasst, das Grundgesetz mal gelesen und die ganze Sache tatsächlich ernst genommen habe. So ernst, dass ich mich auch über Wahlen und Steuern hinaus für „unsere Gesellschaft“ interessiere, am Diskurs über ihre Entwicklung beteilige und mich einbringe, wo es mir notwendig und möglich erscheint, negative Tendenzen zu vermeiden oder positive zu befördern.

Das würde ich nicht tun, wenn es mein Land wäre, denn es wäre in meinem Land nicht nötig.

In meinem Land müsste keiner am Bahnhof stehen und Asylsuchende mit Applaus empfangen, um die hässlichen Bilder von hässlichen Deutschen wieder loszuwerden, die es nicht lassen können, Wohnhäuser anzuzünden... In meinem Land wäre Politik und Verwaltung nicht so überfordert mit absehbaren Entwicklungen, dass es Freiwilligen überlassen bliebe, die Probleme zu bewältigen... In meinem Land würden gar nicht so viele Menschen Zuflucht suchen müssen, denn mein Land hätte keine Waffen in alle Welt geliefert, durch deren Einsatz Menschen erst aus ihren Ländern vertrieben werden.

In meinem Land wären weit weniger Leute von Existenzangst getrieben, die ihnen bei allem vorhandenen Wohlstand täglich im Nacken sitzt und nach einer einfachen Erklärung und einem möglichst erreichbaren Schuldigen Ausschau hält. In meinem Land müsste niemand für gerechte Löhne auf die Straße gehen, sondern die Firmen würden mit motivierenden Angeboten um die Arbeiter werben: In meinem Land bekämen alle ein Grundeinkommen. In meinem Land landeten keine abgelaufenen Hähnchenflügel für 2.99 im Müllcontainer, denn es fände sich niemand, der für ein paar Euro im Akkord Vögel schlachtet… In meinem Land wäre „Konkurrenz“ geächtet und „Kooperation“ das Zauberwort, auf dem die Wirtschaft gründet. In meinem Land würde nicht schon den Kindern erzählt, sie müssten unbedingt gewinnen, weil sie sonst Verlierer seien und als solche unerwünscht... In meinem Land wäre Bildung ein Grundrecht, und Menschen, die Familienarbeit leisten, würden hoch geschätzt… In meinem Land würden keine neuen Straßen gebaut, weil das Arbeitsplätze bringt, auf denen Menschen zu weit entfernten Baustellen fahren, wo Luxuswohnungen gebaut werden, weil das Arbeitsplätze bringt, die anschließend leer stehen, weil sie keiner bezahlen kann, weil dort wo sie stehen, keiner Arbeit hat… In meinem Land würde Heckler & Koch Spielzeug herstellen und die Autoindustrie würde Solarmobile und Segelschiffe bauen… In meinem Land kämen Leute in den Knast, die mit öffentlichen Geldern, Immobilien und Grundstücken spekulieren... In meinem Land wäre nicht der Alltag bebildert mit der Vorstellung, ein Mann bekäme beim Kauf eines Produktes eine Frau dazu, und keiner Frau würde suggeriert, sie sei lediglich dazu da, ein Produkt attraktiver zu machen, denn in meinem Land wäre Reklame überhaupt komplett verboten…(Ich könnte ewig weitermachen).

In meinem Land, Frau Merkel, wären Sie nicht Kanzlerin: mein Land würde nicht von der CDU regiert (von der SPD, keine Sorge, erst recht nicht)… Oder vielleicht sogar doch? Denn: in meinem Land wäre die CDU eine Partei, die sich auf christliche Werte (Pazifismus, Barmherzigkeit, solche Sachen) beruft, und meinetwegen auch auf konservative Werte (sagen wir: Ruhe und Gemütlichkeit - Sozialstaat statt neoliberaler Hektik, und keine Experimente mit Wirtschaftsfundamentalismus à la TTIP…). Vielleicht also würden Sie auch in meinem Land regieren, vermutlich aber eher nicht, denn die einzige verbliebene Konkurrenz wäre die der besseren Idee, und selbst ein christlicher Sozialismus (wie von Teilen der künftigen CDU 1947 im Ahlener Programm noch gedacht) müsste sich schon anstrengen, um gegen die Alternativen anderer Parteien (die tatsächliche Alternativen anbieten würden) überzeugend zu wirken …

Aber richtig: Es ist ja nicht mein Land. Sondern eines, das ich mir mit gut 80 Millionen anderen Menschen teilen muss, die über viele Dinge ganz andere Vorstellungen haben und in meinem Land auch nicht leben wollten. Mit denen ich mich als Person, die hier niemanden repräsentiert als sich selbst, nicht ständig befassen muss, und schon gar nicht muss ich von diesen gut 80 Millionen mehrheitlich verstanden werden, für sie oder zu ihnen sprechen. Ich kann mich im Gegenteil komplett von allen Einwohnern dieses Landes distanzieren, mit denen ich nichts zu tun haben will. Auch mit den medial eruierten Stimmungslagen in der Bevölkerung muss ich mich nicht befassen, oder den kritischen Stimmen aus dem In- und Ausland, die, egal wie man´s macht, immer was zu meckern haben… Ach, Frau Merkel, ich kann Sie gut verstehen: Ich will mit diesem Land auch nichts zu tun haben.

Aber, Moment mal: Ich regiere hier auch nicht.

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Geschrieben von

Charlie Schulze

"Bei meinen Feinden, zuweilen, finde ich Zuflucht vor meinen Genossen." (Peter Rühmkorf)

Charlie Schulze

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