Reklame-Reclaiming

#ECHO2018 Kulturkritik, NEO MAGAZIN ROYALE- Exegese und ein verflucht guter Popsong

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Marius Müller-Westernhagen fand nicht nur gute Worte für den Echo 2017
Marius Müller-Westernhagen fand nicht nur gute Worte für den Echo 2017

Foto: Tobias Schwarz/AFP/Getty Images

Dass die Musikindustrie zu den dreckigsten Branchen überhaupt zählt, ist nicht neu. Dass im Kontext Popmusik gar nichts zu glauben und niemandem zu trauen ist, dürfte zum Allgemeinwissen zählen. Gut: Der ein oder andere Fan mag noch damit zu enttäuschen sein, dass nicht mal Udo Lindenberg seine Lieder selbst schreibt. Aber das Prinzip der totalen Verlogenheit, des Seelenverkaufs und der Gewinnmaximierung auf Kosten künstlerischer Integrität ebenso wie die Klage darüber ist mindestens so alt wie die Musikindustrie selbst. Die tatsächlich immer noch fortschreitende Verwahrlosung ist jederzeit anzuprangern. Dazu muss man nicht das NEO MAGAZIN ROYALE sein. Aber, hey: Was für ein Fest, dass sie es getan haben…

Wie geht´s dem Popsong?

In der Folge vom 6. April zog Herr Böhmermann sich die deutsche Musikindustrie durch die Nase. An diesem Abend wurden auch die heurigen ECHOs vergeben, und damit die Provokation noch pünktlich zur ECHO-Gala kam, wurde der entsprechende Beitrag der kulturkritischen NMR-Rubrik „Eier aus Stahl“ schon vorab im Internet veröffentlicht.

22 Minuten lang kanzelt Böhmermann darin die ganze Branche ab, den aktuellen Deutsch-Pop, seine ECHO-nominierten Protagonisten, ihre verlogenen Posen und ihre erbärmlichen Werke: „Revival des Schlagers unter falscher Flagge“, „Bio-Musik aus industrieller Käfighaltung“, „ein einziger, gigantischer, schmalziger Werbespot“, und so weiter. Wer sich für Musik, Popkultur, Künstlerberuf und Showbiz interessiert, gleichzeitig ein bisschen empfindlich mit deutschen Liedtexten ist und deshalb in den letzten Jahren kein Radio mehr hören mochte, wird es feiern.

Die komplette NEO MAGAZIN ROYALE -Folge war um diesen Beitrag drapiert und brachte themenverwandte Kontroversen und Ambivalenzen auf die Studio-Bühne. Anschließend war Marius Müller-Westernhagen zu Gast, ein alter Hase im schizophrenen Showgeschäft, der glaubhaft Anerkennung demonstrierte und sich sofort auf die Seite der Kritik schlug - ungeachtet der Tatsache, dass er zum Zeitpunkt der Ausstrahlung als Preisträger auf der Echo-Gala mit jungen Pop-Bestsellern, von denen er angeblich noch nie gehört hatte, auf sein Lebenswerk anstoßen würde.

Wer Ohren hat, auf die Feinheiten zu achten, wurde bezaubert vom musizierenden Gast Erobique, der, eingebettet in die NMR -Showband Rundfunk-Tanzorchester Ehrenfeld mit ein paar Proben aus seinem Fundus glänzte, die man wahrhaftig als gelungenen Deutsch-Pop bezeichnen könnte: Ein Lied über Wochentage, seiner eigenen Schlichtheit voll bewusst, später dann das Schusswort der Sendung: „Dieser Mann kollabierte an einer Überdosis Freude“ - eine Hookline, die auch nicht groß Tiefsinn behauptet und doch einen überraschenden Sinn ergibt, einen poetischen Gedanken entfaltet... Tatsächlich wirkte Erobique wie die Antithese zu allem ansonsten Besprochenen: Es gibt durchaus originäre Unterhaltungskünstler aus dem richtigen Musiker-Leben (wo in der Regel keine glamouröse Karriere gemacht, sondern weit unterm Radar einer größeren Öffentlichkeit gearbeitet wird), und Popmusik muss bei aller Leichtigkeit und Schlichtheit nicht unbedingt der Verblödung dienen.

Was macht den Popsong erfolgreich?

Auch nicht neu, aber nie abschließend geklärt sind Fragen zur Beziehung von Kunst und Kommerz, die zum Wesen popmusikalischer Unternehmungen gehört: Kann man wirklich aus maximaler Beliebigkeit einen Hit basteln? Ist technisches Know-How und eine Marketingstrategie alles, was es braucht, um irgendein hübsches Gesicht zu irgendwelchen Klängen und Bildern den Künstler mimen zu lassen? Kann Pose Haltung ersetzen? Sollte man Bedeutung simulieren? Muss man in Musikvideos Autos und Schokoriegel bewerben? Ist der kulturelle Aspekt der Angelegenheit zu ignorieren, wenn die Bilanz stimmt?

Weil das mehrfach Grimme-Preis-bedachte NEO MAGAZIN ROYALE ein gründliches Unternehmen ist, blieb es nicht beim kulturkritischen Themenabend, sondern gab es auch wieder eine Versuchsanordnung und einen interaktiven Aspekt: Jan Böhmermann wurde, mit entsprechender Perücke und Attitüde ausgestattet, als Deutsch-Pop-Poet mit dem Projekt „Jim Pandzko feat. Jan Böhmermann“ auf den Weg in die echten Charts geschickt.

Der Plot dazu, ein „von fünf Schimpansen aus dem Gelsenkirchener Zoo“ erstellter Songtext, bildet die Grundlage und führt zum Mitmach-Teil der Aktion: Das gewogene Publikum und alle, denen die deutsche Popmusik nicht egal ist, so die Idee, möchten bitte den Titel „Menschen Leben Tanzen Welt“ in die Charts bringen und so mit der Macht der Konsumentscheidung dafür sorgen, dass den fünf Affen beim ECHO 2018 ein Preis verliehen wird.

Entsprechend ging es auch in der Woche danach weiter zur Sache: Böhmermann gab als „…feat. Jan Böhmermann“ den frisch geschlüpften Popstar, machte virtuelle Promo für seinen tatsächlich in die diversen Charts eingestiegenen Track, redete authentischen Showbiz-Bullshit mit eingestreuten Meta-Kommentaren und nippte an Getränkedosen (um in verschiedensten Zusammenhängen Schleichwerbung zu markieren, haben sie beim NEO MAGAZIN schon vor Jahren die fiktive Marke „Glump“ eingeführt).

In der nächsten NEO MAGAZIN ROYALE- Folge gab es dann die Erfolgsmeldung „Platz 7 der Single-Charts“, eine Besprechung der öffentlichen Reaktionen und gleich noch ein NMR unplugged: „…feat. Jan Böhmermann“ performte auf einem Barhocker seinen Hit in Akustikversion. Anschließend sinnierte Moderator Böhmermann darüber, was „alles erreicht“ und wie schnell es dann auch wieder vorbei ist. Marketing, Erfolg, Overkill - aus der Bedeutungslosigkeit in die Charts und zurück in zwei Wochen: Sehr gut gemacht, sehr lustig und sehr, sehr treffend, und wenn es mit dem ECHO 2018 nicht klappen sollte, wäre zumindest ein weiterer Grimme-Preis zu wünschen.

Was macht den Popsong aus?

Mithin ist das NEO MAGAZIN auch sowas wie das Organ der Offenlegung der Mittel und regt, ohne es gleich wieder Aufklärung zu nennen, dazu an, etwas genauer hinzuschauen – auf die Gefahr hin, dass hier und da Ambivalenzen auftauchen, die Einordnung nicht mehr so einfach ist, wie es zunächst schien… Dass man zum Beispiel den exemplarischen Song nicht nur als gelungenen Witz zur Kenntnis nimmt, sondern tatsächlich als Song hört und nicht umhin kommt, daran ganz unironisch Gefallen zu finden...

In der Sendung stellt Böhmermann es im Dienste der Polemik so dar, als sei der Track „Menschen Leben Tanzen Welt“ in wenigen Tagen zusammengespuckt worden, quasi in der Woche vor der Veröffentlichung: Nach Erstellung des Textes im Gelsenkirchener Zoo im Studio ein, zwei Tage mit Sounds gebastelt, eingesungen, Perücke besorgt, Video gedreht, und ab in die Top Ten.

Tatsächlich dürfte an der ganzen Geschichte mehrere Monate gearbeitet worden sein. Der Track ist keineswegs beliebig, sondern sehr sorgfältig nach eben jenen Rezepten komponiert und produziert, die auch in den Laboren der Industrie verwendet werden, wo man von nichts als der Marktforschung inspiriert wird und so wenig wie möglich dem Zufall überlässt.

Ich möchte sogar unterstellen, dass auch der Zusammenschnitt der Lyrics aus alten Werbeslogans, Kalendersprüchen und Facebook-Posts von Youtubern nicht ausschließlich von Affenhand am Zufallsgenerator erstellt wurde, sondern mindestens bei der Endfassung ein solider Songhandwerker die Aufsicht hatte: Die Zeilen reimen sich an geeigneten Stellen und sitzen passgenau auf der Melodie. Auch wird der (ernsthaft gute) Sänger Böhmermann einige Zeit geübt haben, um sie so perfekt zu phrasieren. Es gibt da durchaus ein paar Dinge richtig zu machen, und beim Jim Pandzko-Track ist alles richtig gemacht worden. Was zu einem interessanten inneren Widerspruch führt:

Menschen Leben Tanzen Welt“ ist nicht nur eine gute Parodie auf blöde Popsongs, sondern auch ein verflucht guter Popsong. Viel zu gut, um wirklich als schlechtes Beispiel zu dienen, ist die liedförmige Beweisführung so catchy, dass sie ihre eigene kulturkritische These auf der handwerklichen Ebene glatt widerlegt…

Was kann der Popsong?

Mag sein, dass man die Bedeutung von Popmusik nicht zu hoch hängen sollte, aber ihre Kraft sollte man nicht unterschätzen: Sie ist imstande, beim Menschen Gefühl zu wecken, emotionalen Klang zu verstärken - und darüber hinaus: den Kopf zu besetzen und einen als Ohrwurm durch den Tag zu begleiten. Diese Kraft wirkt unabhängig vom Textinhalt, und sogar unabhängig davon, ob der jeweilige Kopf, das betroffene Gemüt sich davon positiv bestärkt oder lästig penetriert fühlt.

Ein Ohrwurm, eine Hookline, eine gute Pop-Idee braucht nicht nur keinen intellektuell akzeptablen Sinngehalt, sondern noch nicht mal immer Text und Melodie. Es reicht, wenn ein Element die entsprechende Qualität hat: Die Hit-Historie ist voller Gitarrensoli und Bläsersätze, die praktisch jede*r kennt, aber kaum jemand wüsste die Lyrics dazu. Umgekehrt kann ein starker Slogan, ein eingängiges Gedicht auch ohne musikalische Untermalung den Kopf besetzen. Hier besteht eine große Ähnlichkeit, ja: enge Verwandschaft mit dem Reklame-Handwerk. Material und Werkzeug ist das Selbe. Allein bei der Absicht gibt es Unterschiede – und die ist im Ergebnis nicht immer klar zu erkennen.

Schwer zu sagen auch, ob die Produzenten des NEO MAGAZIN ROYALE diese Dimension im Blick hatten, aber: „Menschen Leben Tanzen Welt“ lässt sich nicht zur als ätzende Parodie hören, sondern auch als Akt des kulturellen Reclaiming… Ja:

Tatsächlich hat mich dieses Lied ein bisschen mit den darin verwendeten alten Werbeslogans versöhnt. Was einmal der Produktwerbung diente, der ich mich nie ganz entziehen konnte (selten habe ich gekauft, aber mir doch die Slogans gemerkt): Bei "Jim Pandzko" sind es nur noch Silben, die Melodie transportieren und sich zu einem Lied formieren, von dem ich mich tatsächlich gerne durch den Tag begleiten lasse. Künftig werde ich bei den Worten „heute ein König“ nie wieder einen Werbespot für Bier im Ohr haben, sondern nur noch Jan Böhmermanns Stimme, die ich sehr gerne singen höre.

Alleine das scheint mir eine so bemerkenswerte Kulturleistung, dass ich beginne, mir ein entsprechendes Genre zu wünschen: Reklame-Reclaiming-Pop. Musiker*innen, die Werbeslogans mit möglichst wenig Sinnzusammenhang auf schöne Melodien singen. Um die Worte, die an Waren gekettet wurden, zu befreien und als Pop-Poesie und Songlyrics zu etablieren... Doch: Kann ich mir gut vorstellen.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Charlie Schulze

"Bei meinen Feinden, zuweilen, finde ich Zuflucht vor meinen Genossen." (Peter Rühmkorf)

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