Zivilcourage & Scripted Reality

Quarks & Co Ein "soziales Experiment" soll zeigen: Es gibt Zivilcourage, bedingt. Es zeigt aber auch etwas anderes: Die Bedingungen.

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Es war wieder mal so ein Mediensplitter, den es mir zufällig in die Reuse gespült und der mir dann so zu denken gegeben hat, dass ich mich am nächsten Tag noch mal zur Quelle durchgeklickt habe: Quarks & Co - eine, weiß ich nun, öffentlich-rechtliche poularwissenschaftliche Informationssendung und keineswegs Kinderfernsehen, wie ich bisher vermutet hatte – Quarks & Co also hat eine Versuchsanordnung zum Thema Diskriminierung und Zivilcourage inszeniert: Ein Linienbus in Essen wurde mit Schildern versehen, die eine Sitzplatzordnung nach Nationalität suggerierten, und mit Kameras ausgestattet, um die Reaktionen der Fahrgäste zu dokumentieren. Wenn auch eigentlich die Frage nach der Staatsbürgerschaft der Diskriminierungsfaktor im Setting war und nicht die äußeren Merkmale genetischer Herkunft, hieß das ganze:

Soziales Experiment "Rassismus im Bus".

Das Interessanteste an dem Clip ist, dass aus dem Experiment ohne Einsatz von Schauspielern nichts geworden wäre – zumindest nichts, für das sich später ein Sendeplatz im TV gefunden hätte: Mit Schildern alleine kann man in Essen nicht viel ausrichten. Ein O-Ton wird es später so sagen: "Dat is doch scheißegal, wat da steht!" Manche folgen allerdings auch der vermeintlichen Vorschrift. Eine Beteiligte gibt in der Nachbesprechung an, keinen Ärger zu wollen, sondern nur von A nach B, und es seien ja auch genügend Plätze frei gewesen…

Man könnte nun auf die allgemeine Ignoranz oder den bedauerlichen (deutschen?) Gehorsam abheben, mit dem die gewollt provokanten Schilder unwidersprochen hingenommen wurden. Aber es lässt sich auch feststellen, dass es eigentlich keinen Konflikt gab, bis die Regie eingriff. Mehrmals wird laut Bericht die Situation „weiter verschärft“ durch den Auftritt von Schauspielern – und hier erst entstehen brauchbare Bilder: Als ein Schauspieler einen anderen auffordert, den Platz zu wechseln, empören sich endlich Unbeteiligte, beginnen Debatten, kommen die entsprechenden Statements.

Dass sich augenscheinlich niemand die Mühe machte, die Schilder öffentlich (und für die Kamera) zu hinterfragen, bevor es zur inszenierten Action kam, mag auch daran liegen, dass unser (zumindest der urbane) Alltag buchstäblich auf Schritt und Tritt von Botschaften gesäumt ist, die einer Sitzordnung nach Nationalitäten an Unglaublichkeit in nichts nachstehen: Wenn wir nicht gelernt hätten, einen Großteil der allgegenwärtigen Werbung, Regulierung und Verkündigung auszublenden, wenn wir jede Information in Wort und Bild, die uns auf dem Weg zur Bushaltestelle anschreit, ernsthaft überdenken würden, kämen wir nie dort an. Und solange wir ankommen, und der Bus fährt, reibungslos, fahrplangemäß, sind uns die Mitteilungen, die es unterwegs zu lesen gibt, kein Anlass, den Weg zu unterbrechen. Das ist, bevor man es auf Inhalte untersucht und moralisch bewertet, zunächst einmal lebensklug. Dass es, laut Quarks & Co - Experiment, im gestellten Ernstfall mit dem allgemeinen Wegschauen vorbei ist, wird gerne ins Protokoll aufgenommen und darf auch positiv bewertet werden.

Ist dieser Bus in Essen übertragbar auf unser Land? Sicher nicht, auch wenn die WDR-Sendung wissenschaftlich daherkommt: Die Menschen, die an dem Experiment teilnahmen, sind wohl nicht repräsentativ, der Ausschnitt ist zu klein. Zudem ist das Setting leicht durchschaubar für jeden, der auch nur vage mit der Existenz und dem ungefähren Inhalt unseres Grundgesetzes vertraut ist (oder auch wahlweise ab und zu mal in eine Hitler-und-seine-Bagage-Doku reinschaltet): Der eine oder die andere wird es schlichtweg nicht geglaubt und, gerade auch unter dem „versteckte Kamera“-Gesichtspunkt, nur das Erreichen der Haltestelle herbeigesehnt haben.

Aus dem Quarks & Co -Video lässt sich schlussfolgern, dass eine Gruppe von zufällig Involvierten in einem Bus im Ruhrgebiet offenbar mehrheitlich der Zivilcourage fähig ist und sich gegen Diskriminierung ausspricht, wenn eine Situation (sich/) „verschärft“ (/wird). So heißt es im Bericht zwar nicht, sondern: "Die Reaktionen sind eindeutig: Immer wieder schreiten deutsche Fahrgäste ein und ergreifen Partei für vermeintliche Ausländer" … Aber geschenkt, denn man darf bei aller PR-Geschliffenheit öffentlich-rechtlichen Restbildungsfernsehens ja fast dankbar sein, dass ein weiteres Ergebnis immerhin nicht kaschiert wird: Der tatsächliche Konflikt war jedes Mal inszeniert. Beide Konfliktparteien waren professionell besetzt. Bevor die Schauspieler kamen, ließen sich alle in Ruhe.

Das könnte einen auf die Idee bringen, dass auch an anderen Orten, wo die Kameras nicht im Vorfeld installiert wurden, sondern erst nach dem Ereignis aufgebaut werden, "Schauspieler" eine Rolle gespielt haben könnten: Akteure, Anstifter, beauftragt damit, einen Konflikt zu inszenieren/ zu befeuern, der ohne diesen Einsatz zumindest so nicht zum Ausbruch gekommen wäre …

Dass so etwas nicht vollkommen auszuschließen ist, können wir an den Debatten um den Verfassungsschutz sehen, der, wie man es auch dreht und wendet, seit Bestehen ungebührlich viele eigene Leute in verfassungsfeindlichen Kreisen hatte, die später als eindeutige Anstifter, Organisatoren und tätige Terroristen geoutet wurden. Es ist wohl eher die Frage, welches Ausmaß, welche Zwangsläufigkeit, welche Kleinteiligkeit diese reale Scripted Reality haben mag.

Wäre der Essener Linienbus wirklich übertragbar auf unser Land, könnte man sich in sehr gruseligen Vorstellungen verlieren … Oder aber auch die Konsequenz ziehen, bei allem, das gerade in notorischer und erregter Ausschließlichkeit verhandelt wird, bei allem, das aktuell dringend geboten scheint, überall, wo man jetzt hinschauen muss, erst einmal nicht mitzumachen. Weil man es grundsätzlich nicht glauben will. Weil einem alles zu dramaturgisch perfekt vorkommt, zu deutlich hervorgehoben, zu fraglos eingeordnet. Weil man ständig das Gefühl hat, auf eine ganz bestimmte Art reagieren zu sollen. Weil man nie wissen kann, wo die Kamera hängt und wer die Schauspieler sind.


Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Charlie Schulze

"Bei meinen Feinden, zuweilen, finde ich Zuflucht vor meinen Genossen." (Peter Rühmkorf)

Charlie Schulze

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