Zwischen New York City und Entenhausen

USA Alternative Fakten, unbegrenzte Möglichkeiten, Amerika vor dem Hintergrund meines Bücherregals und eine Lektüre-Empfehlung

Bei diesem Beitrag handelt es sich um ein Blog aus der Freitag-Community.
Ihre Freitag-Redaktion

Zwischen New York City und Entenhausen

Foto: TAN HONDA/AFP/Getty Images

Alternative Fakten, dachte ich neulich nach einer Volldröhnung der neuesten Nachrichten, die ohne die USA und den grimassierenden Herrn mit der wilden Tolle seit Wochen gar nicht mehr auskommen möchten und auch mich rätseln machen, was da los ist – Alternative Fakten: Vielleicht gar nicht so eine schlechte Idee, und trat an mein Bücherregal.

Kellyanne Conway wird jetzt nicht wissen, wovon ich rede, aber mit dem substanziellen Inhalt ihrer Wortschöpfung bin ich tatsächlich recht vertraut. Hier in Europa nennen wir es gerne hochtrabend Literatur, aber es gibt auch ein sehr gutes, echt amerikanisches Wort dafür: Fiction. Die großartige menschliche Mehr- Dimension des Erzählten und Erdachten, das Zauberreich der Phantasie: Das wahre Land der unbegrenzten Möglichkeiten

Ein Wort zur fiktionalen Literatur: Ihr Wert ergibt sich, wie auch bei anderen Medien, aus ihrem Gebrauch. Man kann sie unnötig oder lebenswichtig finden. Sie kann einem die Zeit rauben oder erleichtern. Sie wird die Welt nicht retten und auch nicht gültig erklären können – aber sie kann doch der Erkenntnis und Orientierung dienen, solange man von ihr nicht zu viel erwartet und sie in ihrem Kontext belässt.

Wenn man Fiktion nicht in Konkurrenz zur Wirklichkeit setzt – was, Ms. Conway, schlichter Unsinn ist – und auch nicht von ihr verlangt, die faktische Wirklichkeit abzubilden; wenn man fiktionale Erzählungen eher als Landkarten begreift, mit deren Hilfe wir Zugänge und Übergänge zwischen äußeren und inneren Wirklichkeiten und Welten finden können, dann können sie sehr brauchbar sein. Als Wegbeschreibung, die uns in fremde Perspektiven einführt, uns innere Landschaften eröffnet, unseren Vorstellungs-Horizont erweitert: Da kann Literatur richtig was (unter anderem auch: Dem Faktischen zuwiderlaufen und damit, siehe Homer, Jahrtausende durchkommen, wenn die Sache die spezifische Substanz hat… Im Dichter-Olymp, zu dem aber Politiker*innen und PR-Schnösel qua Beruf keinen Zutritt haben, ist auch Zeit nur bedingt relevant).

Mir hat die fiktionale Erzählung u.a. einen nicht unwesentlichen Teil der Welt erschlossen, der mir sonst nicht zugänglich gewesen wäre: Ohne Literatur aus anderen Ländern und Kulturen wären weite Teile der Erde in meinem Kopf nur Farben und Linien im Atlas – mit ihr habe ich vielfache Anknüpfungspunkte und mehrdimensionale Szenarien im Kopf.

Amerika zum Beispiel liegt in meinem Bücherregal zeitlich und phantastisch etwa zwischen Mark Twain und Matt Ruff (natürlich ist meine literarische Landkarte unvollständig – es sind nur die Gebiete bezeichnet, die ich bereist habe): Da befindet sich Kalifornien zwischen John Steinbecks Wanderarbeiter-Lagern und Ken Keseys Acid-Head-Kommune. Alaska wiederum habe ich früh mit Jack London entdeckt und später mit T.C. Boyle an der Seite seiner Drop City-Hippies erschlossen. Ich habe eine sehr ermüdende Autofahrt auf Speed mit Jack Kerouac quer durchs Land hinter mir, aber auch mehrere äußerst unterhaltsame, ebenfalls drogenbefeuerte Reisen mit Tom Robbins, Hunter S. Thompson und Richard Brautigan. Jonathan Lethem hat mir sein düster-märchenhaftes Brooklyn gezeigt, Paul Auster die geschmackvolle Bildungs-Fassade, William Kotzwinkle und Charles Bukowski den abgefuckten Hinterhof der Great American Novel. Alice Walker und James Baldwin haben mich ins Ghetto der von Sklaverei und Rassismus geprägten spezifisch schwarzen US-Erzählung eingeladen. Stephen King hat mich auf eine mehrere Raum-, Zeit- und Wirklichkeits- Dimensionen übergreifende, 8 dicke Bände tiefe Reise in die amerikanische Seele mitgenommen.

Die US- Korrespondenten meines Vertrauens sind die Übersetzer*innen US-amerikanischer Literatur, und wenn sie mich nicht allesamt perfide betrügen, handelt es sich bei Amerika um ein Land, das auf jeden Fall schon mal großartige Romane produziert – und verdammt großartige Erzähler, die, pauschal betrachtet, mindestens vergleichbar flugfähigen Intellekt, aber ganz sicher mehr Schneid und Schwung und Stilsicherheit aufbringen als meine Landsleute, die berühmten Dichter und Denker … Vor dem Hintergrund meines Bücherregals ist die Nachrede vom dumpfen Ami, der sich ausschließlich für große Portionen und scharfe Schusswaffen interessiert und sich nur in fünf-Wort-Sätzen artikulieren kann, ein böses Gerücht, das jeder Grundlage entbehrt.

Die Amis in meinem Bücherregal sind (satt mehrheitlich) weiße Männer verschiedener Generationen und Hintergründe, die, soweit meine Expertise, einen kühnen Geist, einen großen Einfallsreichtum, einen mitreißenden Stil und ein unerschütterliches Vertrauen in die Kraft des freien Individuums gemeinsam haben. Ihnen ist ein guter Teil meines Amerika-Bildes geschuldet. Mehr noch: Sie haben meine eigene Biographie beeinflusst, meinen Glauben an die Kraft der Literatur und die Existenz des freien Individuums geprägt. Sie haben dick aufgetragen, aber ich hatte nie den Eindruck, dass sie lügen. Sie haben viel versprochen, aber nie behauptet, dass es einfach wird: Sie haben von dramatischen Herausforderungen und großen Risiken erzählt, vom notwendigen Scheitern und davon, dass Hoffnung kein Geschenk ist, sondern eine Haltung ...

Vielleicht gar keine schlechte Adresse, dachte ich – jedenfalls eine, die ich kenne. Okay, Männer, frage ich also am Bücherregal: Was ist da los in Amerika?

Die älteren Herren Twain, Steinbeck und London winken ab: Nichts Neues, im Grunde – different story, same shit … Die innere Welt ist ihnen zufolge nicht viel weiter gekommen – die Äußere allerdings schon, und diese ganze moderne Technik mit ihren neuen Metaphern macht die Verständigung mühsam – lass dir das von den Jüngeren erklären. Auch Alice Walker und James Baldwin zucken mit den Schultern: Frag die straight white male, die haben es schließlich verbockt... Die Beatniks und Drogenfreaks empfehlen mir, mich zu entspannen und die Show zu genießen. T.C.Boyle und Stephen King haben zu tun und keine Zeit, verweisen aber beide im Zweifel auf ihr neustes Werk. Matt Ruff schlägt vor, dass ich "G.A.S." noch mal lesen könnte.

"G.A.S." (Originaltitel: Sewer, Gas & Electric. The Public Works Trilogy) ist sein zweites Buch, ein utopischer Roman von 1997, der im Jahr 2023 spielt. Beide Jahreszahlen sind interessant: Das eine Jahr ist noch nicht gekommen aber nicht mehr weit - das andere liegt gerade mal zwei Dekaden zurück, und doch, von heutigen Diskursen aus, in einer anderen Ära. Diese Geschichte konnte so vermutlich nur in den 1990ern geschrieben werden: Einer, im Nachhinein, staunenswert humorvollen und optimistischen Zeit, in der eine bessere Welt immerhin möglich und der Einsatz dafür nicht nur lohnend schien, sondern sogar Spaß machen durfte und einen gewissen Coolness-Faktor hatte … Es ist eine Zukunft von gestern, in die der Roman G.A.S. einlädt. Eine Ideenwelt, die heute in der Tat utopisch wirkt, und die, da hat Matt Ruff vielleicht gar nicht so unrecht, man sich im beginnenden realen Jahr 2017 ruhig noch mal zu Gemüt führen kann, wenn man etwas über Amerika wissen möchte..

Matt Ruffs 2023er- Version von Amerika liegt ungefähr zwischen New York City und Entenhausen. Es gibt dort Supercomputer, künstliche Intelligenz, elektrische Tiere, Roboter mit menschlichem Erscheinungsbild und dem Persönlichkeitsprofil von Sokrates. Es gibt noch mehr oder weniger die alte Weltordnung des Ausbeutungs-Kapitalismus und die damit verbundene fortschreitende Verwandlung des Planeten in eine Müllkippe. Es gibt aber auch eine bunte, toughe Truppe pazifistischer Öko-Terroristen, die mit einem futuristischen U-Boot die Weltmeere kreuzt, um aussterbende Arten zu retten und mit medienwirksamen Attentaten (in denen Waffen wie euphorisierende Betäubungsmittel und größere Posten Schlagsahne zum Einsatz kommen) Umwelt-Verbrechen und -Verbrecher öffentlich anzuprangern. Es gibt einen genialen Erfinder, der das alles technisch möglich macht, sowie einen archetypisch amerikanischen Unternehmer mit Wolkenkratzer-Fetisch, der zwar politisch gesehen den Gegenspieler der Öko-Terroristen gibt, aber de facto deren Arbeit unterstützt, weil er ebenfalls Pazifist, ein fairer Spieler und insgesamt Anwärter auf den Titel des nettesten Kapitalisten der Literaturgeschichte ist…

Überhaupt, das Personal: Wie gern bei Matt Ruff eine hinreißend diverse Parade von schillernden Figuren. Selbst die unzähligen Neben- und Verschleiß-Rollen sind sorgfältig besetzt und ausgestaltet. Es ist auch gar nicht so einfach, in diesem fröhlichen Trubel überhaupt eine Hauptperson auszumachen ... Die klassische Heldenrolle geht aber eindeutig an die notorische Weltretterin Joan Fine, Tochter einer feministischen katholischen Nonne, Ex-Ehepartnerin des sympathischen Kapitalisten Harry Gant sowie Ex-Regulatorin für öffentliche Meinung bei dessen Firma: Zu Beginn des Romans ist sie Betreiberin eines Obdachlosen-Asyls und als Angestellte der Stadtwerke in der Kanalisation von New York City auf Jagd nach Monstern und Mutanten, bis sie zur detektivischen Recherche eines Mordfalls und schließlich zu einer weiteren Rettung der Welt gerufen wird…

Ihr zur Seite steht, mit Rat, Tat und einem historischen Revolver, eine im Asyl wohnhafte Lady namens Kite, die ihr 181jähriges Leben die längste Zeit in Männerkleidern verbrachte, im Unabhängigkeitskrieg 1864 einen Arm verlor, auf längeren Reisestrecken aus ihrem bewegten Leben erzählt und mit Joan eine ausgeprägte Nikotinsucht gemeinsam hat. Eine weitere Mitstreiterin ist die Enthüllungsjournalistin Lexa Thatcher, Verbindungsstelle zwischen Öffentlichkeit und Öko-Terroristen, die Joan bei Recherchen hilft… Natürlich gibt es neben all den Heldinnen und Helden auch echte Schurkinnen und Superschurken, sowie gleich mehrere wandlungsfähige Charaktere, die im Lauf der Geschichte die Fronten wechseln.

In der Welt von „G.A.S.“ hat 2005 eine rätselhafte Pandemie in einer Woche den afrikanischstämmigen Teil der Weltbevölkerung buchstäblich verschwinden lassen (von hier und heute aus das heikelste Element der Geschichte - mithin wird das rassistische Motiv deutlich als solches benannt, und der fiktionale Massenmord geht aufs Konto des Superschurken) ... Diese Katastrophe hat nicht nur einen Kontinent entvölkert und die weltpolitische Lage verändert, sondern auch die US-amerikanische Gesellschaft verstört- was sich in den 2020ern unter anderem darin niederschlägt, dass das „schwarze“ Modell des Automatischen Dieners sich großer Beliebtheit erfreut und die tatsächlich doch noch vorhandenen letzten lebenden Afroamerikaner für Roboter gehalten werden… Wie alles zusammenhängt und was Walt Disney und J. Edgar Hoover damit zu tun haben, wird im Lauf der Geschichte (Gesamtstrecke: Gut 600 Seiten), in der u.a. auch noch ein Pfadfinder-Ausflug in verseuchtes Gelände und eine klassische Seeschlacht unter Beteiligung der auch 2023 noch amtierenden Queen Elizabeth II vorkommen, tatsächlich umfassend erläutert.

Es ist praktisch nicht möglich, die turbulente Handlung, die verschiedenen Erzählstränge, die liebevoll auserzählten Nebenschauplätze oder auch nur einen ungefähren Plot in angemessener Kürze zu umreißen. Erwähnt muss aber werden, dass diese pralle fiktionale Wundertüte voller literarischer Verweise und historischer Anspielungen auf reale Personen und Ereignisse steckt: Wer genauer nachliest und Suchmaschinen bemüht, wird hinter jeder erstaunlichen Erzählidee einen Faktenbezug finden, wie etwa den Cargo-Kult in Melanesien Anfang des 20. Jahrhunderts... Es muss, wurde mir kürzlich klar, auch dieses Buch gewesen sein, in dem ich Ende der 1990er das erste Mal den Namen Donald Trump gelesen habe: Auch er wird kurz (und im Erzähljahr posthum) erwähnt.

Die deutlichste und sicher interessanteste Referenz in „G.A.S.“ geht an Ayn Rand (hierzulande erst verzögert als „Heldin des Neoliberalismus“ entdeckt), der auch gleich der ganze Roman gewidmet ist.

(Ab Seite 296 der dtv-Ausgabe von „G.A.S.“ gibt es sogar eine in die Handlung eingebundene, mehrseitige, deutlich ironische Nacherzählung und Einordnung von Ayn Rands Hauptwerk „Atlas shrugged“, die Halbinteressierten die Lektüre des gut 1000seitigen Originals spart und deren Fazit der Leserin Joan lautet: „Das Anti-Kommunistische Manifest. Das „Kaptital“ für Kapitalisten, mit Verfolgungsszenen und Sexeinlagen aufgemotzt.“).

Nicht nur wird Rand von Ruff auf verschieden Ebenen zitiert. Die politische Philosophin kommt auch persönlich – bzw. holographisch reinkarniert – in die Handlung, in Form einer Elektro-Wunderlampen-Miniatur mit dem Aussehen, der Zigarettenmarke und dem computergenerierten Persönlichkeitsprofil der historischen Ayn Rand, wie Matt Ruff sie sich vorstellt: Als komplett humorlose Besserwisserin mit quasi-religiösem Verhältnis zum Kapitalismus und ihrer persönlichen Vorstellung von Logik. Womit sie in Gesellschaft der weltverbesserischen Heldin Joan und der nach logischen Kriterien ungebührlich alten Kite Teil einer äußerst diversen, debattierfreudigen und unablässig rauchenden Reisegruppe wird... Wo Ayn Rand die Fassung und Joan die Geduld verliert, behält die Kriegsveteranin die Nerven. Auf die Frage, ob ihr denn nie danach sei, jede Hoffnung für die Menschheit aufzugeben, antwortet sie: "Zyklisch. Aber dann fällt mir wieder ein, wie viele verlorene Generationen ich erlebt habe, die es trotz ihrem maßlosen Selbstmitleid doch noch zu etwas gebracht haben, und die Wirklichkeit rückt plötzlich wieder in die richtige Perspektive."

Die Welt wird dann im fiktionalen Jahr 2023 auch nicht final, sondern wieder nur bis auf Weiteres gerettet. Auch erklärt der Roman nicht umfassend die aktuelle Befindlichkeit der real existierenden USA . Aber Matt Ruff hatte doch recht, ihn mir zu empfehlen: Es ist im beginnenden Jahr 2017 durchaus erkenntnisfördernd und hilfreich, das alles noch mal zu lesen, in seiner echt amerikanischen Erzählfreude, seinem Ideenreichtum und seinem unerschütterlichen Optimismus.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Charlie Schulze

"Bei meinen Feinden, zuweilen, finde ich Zuflucht vor meinen Genossen." (Peter Rühmkorf)

Charlie Schulze

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden