Die Realo-Junta von Bamako

Mali Nach sieben Jahren westlicher Intervention verkünden Putschisten den Wiederaufbau des westafrikanischen Landes
Ausgabe 35/2020
Die Revolte war weitgehend unblutig, aber ein paar Gebäude wurden geplündert
Die Revolte war weitgehend unblutig, aber ein paar Gebäude wurden geplündert

Foto: AFP/Getty Images

Wodurch wird Macht legitim? Was derzeit in Mali geschieht, handelt von dieser Frage. Präziser gesagt: Das bitterarme Land im Sahel hat sich gegen eine Phalanx internationaler Akteure das Recht genommen, über eine Antwort selbst zu entscheiden. Dies macht die Vorgänge in der Hauptstadt Bamako aufregend, vielleicht sogar beispielhaft, auch wenn ein Militärputsch aus zivilgesellschaftlicher Warte niemals das Mittel der Wahl sein kann.

Schnell, präzise und weitgehend unblutig enthob vergangene Woche eine Gruppe von Offizieren den Präsidenten Ibrahim Boubacar Keïta des Amtes, quasi unter den Augen von 13.000 UN-Soldaten (inklusive Bundeswehr), einem tausendköpfigen Bataillon französischer Spezialkräfte, ferner europäischen Militärausbildern, US-amerikanischen Anti-Terror-Spezialisten, Sicherheitsberatern diverser Nationen sowie einer Galaxie ausländischer Hilfsorganisationen.

Kompetent und unbestechlich

Keïtas Rücktritt hatte seit Längerem eine außerparlamentarische Opposition verlangt. Ihm wurde Bereicherung, Wahlfälschung und der Verfall des Staates angelastet, doch war er sich bis zuletzt des Schutzschirms der sogenannten Internationalen Community sicher. Selbst als seine von Entwicklungshilfe gepäppelte Staatsführung auf unbewaffnete Demonstranten schießen ließ und eine EU-trainierte malische Anti-Terror-Einheit gegen Halbwüchsige ausrückte, riefen die europäischen Außenämter nicht einmal symbolisch einen Botschafter heim.

Der Präsident besaß jene formale Legitimität, die westlicher Anti-Terror-Politik und Migrationsabwehr einen hinreichenden Ankerplatz bietet: irgendwie gewählt; gleichgültig ob mit weniger als 30 Prozent Wahlbeteiligung, gekauften Stimmen oder getrickster Auszählung. Ein Anschein von Demokratie genügt, solange ihre Statthalter ein Mindestmaß von Gefälligkeit an den Tag legen. Dabei wussten alle, die in Mali auf Mission sind, dass das Land mit dieser Art politischer Klasse immer tiefer in den Krisenstrudel gerät; wo der Staat versagt, kämpfen Bauern gegen Hirten, Ethnien bewaffnen sich, islamistische Kadis treten an die Stelle korrupter Richter. Alles bekannt und in Stapeln von Studien beschrieben. Und dennoch ging der US-Botschafter vor Kurzem so weit, der Opposition in Bamako den aberwitzigen Vorhalt zu machen, ihre Forderung nach einem Rücktritt des Staatschefs verstoße gegen die malische Verfassung

Eine opportunistisch definierte Rechtmäßigkeit als Oktroi? Diesen Zustand haben die putschenden Militärs beendet. „Wir müssen unsere Demokratie so überarbeiten, dass sie den Erwartungen des Volkes entspricht“, erklärt Ismaël Wagué, Vize-Stabschef der Luftwaffe und nunmehr Sprecher des machthabenden „Nationalkomitees zur Rettung des Volkes“. Der eloquente Offizier erinnert manche auf den ersten Blick an den legendären Thomas Sankara von Burkina Faso, den der gebildete Teil der malischen Jugend heute noch als Freiheitshelden verehrt.

Innige Liebe zur Verfassung

Doch mit Sankaras Antiimperialismus („Schulden werden nicht mehr abgezahlt“) hat die Junta von Bamako nichts gemein. Dies sind, salopp gesagt, Realo-Putschisten: Sie wollen innenpolitisch aufräumen und an größere Kräfteverhältnisse nicht rühren, jedenfalls nicht jetzt: Sie respektieren die internationale Militärallianz als „Waffenbrüder“, bereiteten dem Kommandeur von Frankreichs Spezialkräften eine Audienz und halten Abstand von der anti-französischen Stimmung, die in einem Teil der zivilen Opposition verbreitet ist.

Den zurückhaltend wirkenden 37-jährigen Assimi Goita zum Junta-„Präsidenten“ zu machen, war gleichfalls ein Signal an den Westen: Der Oberst ist dem US-Militär wohlbekannt, nahm an dessen Africom-Manövern teil, war zum Training auch in Deutschland. Goitas Vize kehrte indes kürzlich aus Russland zurück, während der Ranghöchste der Junta ein christlicher General ist, der an der Sorbonne internationale Beziehungen studierte. Ein mit Bedacht komponiertes Potpourri; alle gelten in Mali als seriös, kompetent, unbestechlich.

Aber wie viel Veränderung werden sie zulassen, wie viel Freiheit, wie viel zivile Opposition? Ihre Kommuniqués twittern die Offiziere mit einem kämpferischen „Restez mobilisé!“, Macht mit!, Seid wachsam! Sogar Netzaktivisten, die Fake-Accounts einrichteten, um unter dem Label der Junta korrupten Beamten ein bisschen die Hölle heiß zu machen, werden höflich zur Kooperation eingeladen. „Wir brauchen jeden“, der Appell richtete sich an Zivilgesellschaft, Gewerkschaften und migrantische Diaspora, erwähnte aber explizit auch die Tuareg-Hochburg Kidal und die Araber-Region Taoudeni im hohen Norden, von bewaffneten Gruppen beherrschte Enklaven, zu denen die nationale Armee immer noch keinen Zutritt hat.

Fokus Nordmali

Azawad wird der Norden Malis genannt – das Begehren dort lebender Tuareg-Halbnomaden nach Unabhängigkeit von der Zentralregierung gibt es nicht erst seit 2012. Damals aber erklärte sich Azawad für unabhängig, ermuntert durch den Zustrom von Kämpfern und Waffen aus Libyen, wo 2011 Gaddafi getötet worden war. In Nordmali gewannen Islamisten die Oberhand gegenüber den Tuareg, stießen gen Südwesten vor, eine Einnahme Bamakos drohte. Frankreich intervenierte mit der Opération Serval und ist heute mit der gegen transnationalen islamistischen Terrorismus gerichteten Nachfolgemission Barkhane in seinen Ex-Kolonien Mali, Burkina Faso, Tschad, Mauretanien und Niger involviert. Deutschland ist mit etwa 75 Militärs in der EU-Ausbildungsmission für die malischen Streitkräfte (EUTM) und 900 Soldaten in der UN-Friedensmission MINUSMA präsent.

Wenn Putschisten nun den „Wiederaufbau Malis“ verkünden, nach sieben Jahren westlicher Intervention, liegt deren Scheitern auf der Hand. Mali wurde quasi als Territorium behandelt, auf dem ein Krieg in regionaler oder internationaler Dimension geführt wurde, während die Malier und Malierinnen verzweifelt nach einem Staat riefen, der sich um ihre Nöte kümmert. Der Putsch wurde wie ein Signal der Hoffnung von einem Teil der Bevölkerung bejubelt, von vielen anderen unter Vorbehalt gebilligt. Es gab ganz zu Beginn, in der ersten Nacht, ein Wortspiel von Junta-Sprecher Wagué: Dies sei kein Staatsstreich, kein Coup d’État, sondern ein „coup de tête“, nur ein Kopf, eine Person sei gestürzt worden, sie habe nicht den Staat verkörpert, nur Eigeninteresse. Diese Deutung wirkt im malischen Kontext nicht so abwegig wie in einem hiesigen juristischen Seminar. Präsident Keïta vergab Posten routinemäßig an Verwandte, eine Praktik, welche die gesamte Verwaltung durchdrang und wesentlich zu seiner Unpopularität beitrug. Die Vorstellung, ein Putsch sei ein korrigierender Eingriff, zeugt indes auch vom autoritär-patriarchalen Zug malischer Gesellschaft: die Armee als Verkörperung von Patriotismus und Volkswille.

Dennoch wurde mit Erleichterung vermerkt, dass die Junta nicht die Verfassung außer Kraft gesetzt hat, zu der Mali eine seltsam innige, sentimentale Liebe hegt. Die Verfassung ist Resultat des Kampfes gegen eine frühere Militärdiktatur, entstand Anfang der 1990er Jahre durch eine große nationale Beratung, der emphatische Frühling der Demokratie, eine Sternstunde im kollektiven Gedächtnis. Auch das Verfassungsgericht wurde bis vor Kurzem in hohen Ehren gehalten; umso größer die Wut, als es sich zum Gehilfen präsidialen Wahlbetrugs degradierte.

Die Zuneigung zu den demokratischen Symbolen ähnelt der Sentimentalität eines enttäuschten Liebhabers – denn die vor drei Jahrzehnten erkämpfte Demokratie hat dem Land fast nichts gebracht. Weil sie den Staat ärmer machte, denn er ließ sich von der Weltbank zum Privatisieren, Schrumpfen, Sparen zwingen. Und weil ein Mehrparteiensystem nach westlichem Zuschnitt nur eine Fassadendemokratie hervorbrachte, in der die Masse der Malier Statisten blieb. Dies ist Malis eigentliche Krise, der Urgrund für alles, was folgte. Ich habe der Suche der Malier und Malierinnen nach einer Demokratie, die zu ihnen passt, mein Buch Mali oder das Ringen um Würde gewidmet, und was in diesen Tagen geschieht, ist für mich ein neues Kapitel in diesem Ringen.

Mali war einmal ein Land der großen Erzählungen: von den heroischen Mythen des mittelalterlichen Mali-Reichs über den Panafrikanismus der Väter und Mütter der Unabhängigkeit bis zum afrikanischen Sozialismus der jungen Republik nach 1960. Noch in den 90ern, in den Tagen des Aufstands für die Demokratie, sahen sich die Malier als Teil einer größeren Bewegung für Emanzipation. „Im Gedenken an die Völker und die Menschen im Kampf für Freiheit“, steht in Bamako an einem Mahnmal für Schüler, die dort 1991 erschossen wurden. Am selben Ort wurden jüngst erneut Barrikaden gebaut. Aber heute ist Mali bar jeder großen Erzählung.

Weil es für ihre Elite von Vorteil war, an den Infusionskanülen der Entwicklungshilfe zu hängen, haben sich die Malier kleinmachen lassen, als seien sie unfähig, auf eigenen Beinen zu stehen. Eine Psychologie der Abhängigkeit, auch außerhalb der politischen Klasse. Einzelne kritisieren seit Längerem, Mali habe sich „unter Bevormundung“ stellen lassen, habe sich eine UN-Mission aufdrängen lassen, die nun auf Ewigkeit bleibe. Auch beim Anti-Terror-Kampf wird die Frage der Legitimität mehr von Frankreich entschieden als von Mali: Die Forderung, mit einheimischen Dschihadisten in Verhandlung zu treten, konnte Paris blockieren. Die internationale Allianz erachtet es als legitim, in Nordmali mit Drogenbaronen und dem organisierten Verbrechen zu kooperieren, aber sobald jemand eine schwarze Fahne hisst, heißt es: schießen, nicht reden.

Für einen radikalen Neubeginn, eine Wende zur Selbstbestimmung, müsste all dies auf den Prüfstand, womöglich gegen den Willen der Junta. Gibt es in Mali genug Menschen, die das wagen? Werden sie dabei Solidarität erfahren? Alles ist offen.

Charlotte Wiedemann ist Autorin von Auslandsreportagen, Essays und Büchern, u. a. Mali oder das Ringen um Würde. Meine Reisen in einem verwundeten Land (2014) und Der lange Abschied von der weißen Dominanz (2019)

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