Korridor nach Mekka

Malaysia Ein islamisches Sittenbild aus einem tropischen Winkel, der nach westlichem Raster als "islamistisch" gelten würde

Der "Strand der leidenschaftlichen Liebe" wurde umbenannt, er heißt nun keusch "Strand des schimmernden Mondes". Die Malaiinnen baden dort in Kleid und Kopftuch, wenn überhaupt. Im Odeon-Kino bleibt stets die Beleuchtung an, im Dunkeln könnten sich Hände auf fremde Knie verirren. Im Supermarkt weisen Schilder an den Kassen Männer und Frauen in getrennte Warteschlangen.

Dies ist Kelantan: Ein idyllisch-grüner Landstrich in Malaysias Nordosten an der Grenze zu Thailand. "Korridor nach Mekka", so wird die Region wegen ihrer strengen Sitten genannt; sie sind ungewöhnlich für Südostasiens Islam. Anderthalb Millionen Menschen, kein Nachtclub, keine Spielhalle, keine Karaoke-Bar. Seit zwölf Jahren regiert hier die Islam-Partei Malaysia, kurz PAS. Auf nationaler Ebene steht sie in Opposition zum säkularen Kurs des langjährigem Premierministers Mahathir. Von allem, wofür Malaysia bekannt ist, hat Kelantan weniger: weniger moderne Entwicklung, weniger Wohlstand, weniger Verwestlichung - auch weniger Korruption. Die Islam-Partei hat nie versprochen, Armut abzuschaffen; eine niedrige Kriminalitätsrate ist ihr wichtiger als Wirtschaftswachstum. Zweimal wurde diese Landesregierung bereits wiedergewählt. Nach gängigem westlichem Etikett Fundamentalisten, doch demokratisch legitimiert, auch mit den Stimmen der Frauen.

"Was ist mit Clinton passiert?" - Tok Guru weiß um die Affären im dekadenten Westen

Reise durch einen tropischen Winkel im Abglanz der Weltpolitik. "Amerika ist nicht gut", hatte ein Mann unvermittelt zu mir am Flughafen gesagt. Auf den Dörfern hängt dieses Statement später wie ein unsichtbarer Schriftzug zwischen den Kokospalmen. In Kelantan ist Islam way of life - viele fühlen sich deswegen jetzt kollektiv angegriffen.

Freitagmorgen: Vor dem PAS-Parteigebäude in der Landeshauptstadt Kota Bharu sitzen Hunderte unter schattenspendenden Baldachinen, getrennt nach Männern und Frauen. Schweigend warten sie auf den Mann, den alle "Tok Guru" nennen, wörtlich "Großvater Lehrer": Nik Abdul Aziz Nik Mat ist Ministerpräsident, Parteivorsitzender und islamischer Gelehrter. Eine zierliche Gestalt mit weißer Tunika und weißem Turban; der 71-Jährige kommt leichten Schritts, geübt heftet er sich ein kleines Mikrophon ans Gewand, beginnt mit einem Koranvers leise, wie beiläufig, seine Ansprache.

Freitag ist in Kelantan wie Sonntag, und Tok Gurus wöchentliche Unterweisungen sind legendär, besonders zur Rolle der Frauen. Hübsche Frauen sollten nicht im Staatsdienst eingestellt werden, hat er einmal gesagt - da haben die liberalen City-Malaien in der fernen Hauptstadt Kuala Lumpur sehr gelacht. Die Leute in Kelantan aber fanden die Begründung von Tok Guru einleuchtend: Die Regierung, sagte er, hat für das Volk eine Verantwortung wie Eltern für ihre Kinder; und so wie ein Vater sich um eine hässliche Tochter mehr sorgen müsse, da die Hübsche ohnehin geheiratet werde, so solle die Verwaltung die weniger Attraktiven bevorzugen.

Da spricht ein Patriarch, keineswegs ein finsterer Mullah: Nik Aziz ist für entwaffnende Freundlichkeit bekannt; er lebt auffallend bescheiden und für jeden zugänglich in einem dörflichen Holzhaus, lässt die Residenz des Ministerpräsidenten leer stehen - ein "Mr. Clean" in der oft schmutzigen malaysischen Politik. Die Prinzipien, nach denen er die islamische Gesellschaft in Kelantan formen möchte, folgen meist diesem Muster: Die Frauen vor den Männern beschützen und die Männer vor sich selbst, vor "ihrer Veranlagung", wie er sagt. Nur Frauen, die älter als 40 Jahre sind, dürfen in die Politik gehen - damit sie "kein Spielzeug" werden, "damit ihr Körper nicht ausgebeutet wird, so wie er bei den Kapitalisten ausgebeutet wird für Profit". Frauen mit verführerisch hohen Stimmen sollen jetzt nicht einmal mehr an Koran-Rezitier-Wettbewerben teilnehmen. Am Ende seiner Rede drängen sich die Männer, um Tok Guru die Hand zu küssen.

"Die Feinde des Islam", sagt er danach im Gespräch, "nutzen alle Medien - Fernsehen, Internet, Zeitungen. Einmal pro Woche rede ich dagegen an und versuche den islamischen Geist zu stärken." Mit einem Großvater-Lehrer lässt sich schwerlich diskutieren, schon gar nicht über die Entsexualisierung des öffentlichen Lebens. "Was ist mit Bill Clinton passiert?" fragt er nur. Tok Guru ist wohl informiert über die Affären im dekadenten Westen. "Die USA fürchten den islamischen Geist, denn er kann auch kleine und arme Länder stark machen. Sehen Sie Palästina: so klein und doch dieser Kampfgeist! Wenn das islamische Bewusstsein wächst, redet Amerika von Terrorismus."

Die palästinensischen Selbstmordattentäter sind für Tok Guru keine Terroristen: "Sie kämpfen für Gott. Ein Terrorist kämpft für sich selbst, für Politik, für Ideologien." Wird der Unterschied bloß durch die Absicht definiert? "Ja", sagt er, "und nur Gott kennt die Absichten der Menschen. Ich kenne Ihre Absichten nicht, und Sie kennen meine nicht."

Senffarbene Plüschsessel, ein Foto der Kabah in Mekka. "Fühlen Sie sich sicher bei uns?", fragt der Vorsitzende des Stadtrats von Kota Bharu zur Begrüßung. Sicherheit und Sauberkeit sind vorrangige Ziele in der Landeshauptstadt; man braucht eine Weile, um zu verstehen, wie mehr Sicherheit und mehr Islam zusammengehören. "Kota Bharu soll bis 2005 den Titel ›islamische Stadt‹ verdienen, hundertprozentig islamisch", sagt der Ratsvorsitzende emphatisch. Aziz Abdul Rahman hat seine Krawatte leger nach hinten über die Schulter geworfen, ein kleiner Mann von untersetzter Gestalt und großer Geschäftigkeit; er hat in England studiert. Die Leutseligkeit seines Gebarens bildet einen erstaunlichen Kontrast zur puritanischen Strenge seiner Auffassungen.

"Sängerinnen dürfen nur vor weiblichem Publikum auftreten." Die Scheidelinie für Mädchen liege beim Alter von zwölf: mit zwölf werde ein Mädchen eine sexuelle Versuchung. Die Hotels müssten künftig zwei Swimmingpools haben oder nach Geschlechtern getrennte Schwimmzeiten einrichten. Ihm sei daran gelegen, dass sich Frauen nicht benachteiligt fühlten: "Wir werden ein Sportstadion bauen, nur für Frauen!"

Wo viel Wert auf Sauberkeit gelegt wird, ist Drogensucht ein Schandfleck - oder Ventil

Abend im Stadtzentrum von Kota Bharu: Die Straßenlaternen leuchten in persisch anmutender Zwiebelform; kaligraphischer Lampenschmuck liest sich als Allah und sein Prophet. Auf Stelltafeln Koranzitate, eine noch größere Tafel warnt vor Aids mit den Worten: "Liebe Deine Familie!" Die Grenze zu Thailand ist nahe, dort ist fast alles erhältlich, was in Kelantan verboten ist. Die Aids-Warnung steht am Eingang zum Nachtmarkt; dessen Imbissstände verkörpern das alkoholfreie Nachtleben der Stadt. Städtische Hygiene-Kontrolleure markieren die Stände mit drei Farben als "sauber", "nicht sauber" - "sehr sauber".

Manche Imbisswirte haben für die Gäste Satelliten-Fernseher aufgestellt, es läuft amerikanischer Ringkampf, mit Frauen-Ringen als Unterhaltungseinlage: Bikini-Blondinen mit strammen Po-Backen hauen sich gegenseitig auf die Silikonbrüste. Die muslimischen Jungs starren wortlos, sitzen stramm vor ihrer Kokosmilch.

Drogensucht ist verbreitet bei der Jugend von Kelantan. Aus Thailand kommen billige Amphetamin-Pillen, "Pferdemedizin" genannt. Wo soviel Wert auf Sauberkeit gelegt wird, ist Drogensucht ein Schandfleck - oder ein Ventil. "Die Eltern können die Jugendlichen nicht mehr kontrollieren", klagt der Stadtratsvorsitzende Aziz Abdul Rahman. Als Ursachen für Drogenkonsum führt er an: Das Fernsehen, das Internet, die peer groups, die Scheidungen. "Religion ist eine Kur gegen Drogenanfälligkeit, aber das muss schon im Kindergarten beginnen."

Das Filmplakat des Odeon-Kinos zeigt eine Frau im Profil, über ihr bloßes Haar wurde mit Buntstift ein Kopftuch gemalt. Ein paar Ecken weiter werden Magazine verkauft mit Minirock-Mädchen auf dem Titelbild. Die Bedienung im Café trägt zum züchtigen Kopftuch die Jeans auf der Hüfte und das knappste T-Shirt. Und die Schulmädchen, die unter den großen weißen Kopftüchern der Schuluniform fast verschwinden, haben auf dem Rücken einen "Eastpak"-Rucksack am langen Riemen so weit runter hängen, wie es Mode ist bei allen Kids der westlichen Welt.

Abschottung ist nicht möglich, Kelantan zeigt sich als eine Gesellschaft voller Widersprüche, und selbst die Begründung, warum im Kino das Licht nicht ausgeschaltet wird, erzählt von diesem Widerspruch: Heutzutage könne sich doch jeder alle Filme im Fernsehen anschauen; wer ins Kino gehe, habe also "etwas" vor.

MTV kann nicht verboten werden in Kelantan, aber Schattenspiel lässt sich verbieten. Das traditionelle Wayang Kulit mit den punktierten Figuren aus Wasserbüffelhaut ist hinduistischen Ursprungs; die klassischen Geschichten der Schattenspieler sind berühmte Hindu-Legenden, vor allem der Ramayana-Epos. Zwei Jahrhunderte lang hat das niemanden gestört, jetzt stört es die Islam-Partei. Viele Kelantanesen sind über das Verbot betrübt, doch Unmut wird kaum laut. Kritik an einer religiös begründeten Entscheidung ist nicht leicht, zumal in Zeiten, in denen die Feinde des Islam mächtig sind. Soll ein Reisbauer da dem gelehrten Tok Guru widersprechen?

Die neun Minister der Landesregierung sind allesamt Männer. Nicht einmal im Parlament sitzt eine Frau - es hat keine kandidiert. Aus dem Frauen-Flügel der PAS sind vier Frauen in die Parteiführung delegiert, bei Parteitagen setzen sie sich nicht zu den Männern an den Vorstandstisch. "Wir brauchen uns nicht in der ersten Reihe zu zeigen", sagt Jamillah Ibrahim, "wir helfen den Männern und arbeiten für die Gemeinschaft."

Jamillah ist 55, ganz in rosa gekleidet, sanft und mütterlich; sie verkörpert den Typ Politikerin, den die Islam-Partei toleriert. Über ehrgeizige Musliminnen in Malaysias säkularen Parteien sagt sie verächtlich: "Die denken an Ruhm, Macht und Geld." In Jamillahs Ideal einer islamischen Gesellschaft würden die meisten Frauen zu Hause bleiben, vom Staat bezahlte Mütter. Nicht wie bei den Taleban, davon distanziert sie sich vehement. "Keine Bildung, das ist nicht islamisch. Im Islam ist die erste Schule das Zuhause, der erste Lehrer ist die Mutter. Die Frauen sind verantwortlich für die Erziehung und Gesundheit der Familie."

Stacheldraht rollt sich über dem Tor zum Mädchen-Wohnheim Nr. 1

Besuch einer Oberschule auf dem Land: In Batu Gajah - "Elefantenhöhle" - lernen 1.300 Jugendliche im Alter von 13 bis 17, mehr als die Hälfte sind Mädchen. Ganz selbstverständlich hat der Rektor für die Begleitung auf meinem Rundgang ein Mädchen ausgewählt - die Schulbeste in Englisch. "Mädchen sind intelligenter", sagt er, "sie legen das bessere Examen ab, und später gehen mehr Mädchen als Jungen zur Universität." In der Bibliothek wird gerade das Ende des Schuljahrs gefeiert, die Bibliothek ist der Stolz der Schule, erhielt mehrfach Auszeichnungen, und die Mädchen, die sie hüten, tragen eine besondere Uniform. Ihr Chef aber ist ein Junge; auf die Frage, warum das so sei, antwortet er lapidar: "Das ist eine Regel der Schule."

Erklärend mischt sich die Englischlehrerin Rosmanizam ins Gespräch: "Nach unseren Sitten steht immer ein Mann an der Spitze. Nur wenn es keinen qualifizierten Mann für den Posten gibt, wählen wir eine Frau." Rosmanizam scheint eine resolute Person; sie hat in den USA studiert, kennt die Welt jenseits von Kelantan. Ohne einen Anflug von Zweifel in der Stimme verficht sie die vorrangige Stellung des Mannes.

Stacheldraht rollt sich über dem Tor zum Mädchen-Wohnheim Nr. 1 im Dorf Pulau Melaka: Um zudringliche Jungs abzuwehren, erzählen die Bewohnerinnen. Make-up ist hier verboten, das Wohnheim gehört zu einem islamischen Internat. Es heißt "Licht des Hauses" und ist quasi eine Privatschule von Tok Guru, dem Landesführer. Die Schulgebäude, eine Moschee und das Wohnhaus des Politikers bilden ein dörfliches Karree. Zum Unterricht gehören neben den üblichen Fächern Arabisch sowie das Studium des Korans.

Die Islam-Schulen entstanden im 18. Jahrhundert, verbreiteten sich von hier aus über die malaiische Halbinsel; heute zählt allein Kelantan 71, ganz Malaysia 500. Westliche Medien porträtieren solche Internate häufig als Brutstätten für Fanatismus und Terrorismus; die Bilder dazu zeigen stets junge Männer. Dass im "Licht des Hauses" auch 700 Mädchen lernen, wirkt deswegen überraschend. Mit ihren 800 männlichen Mitschülern kommen sie kaum zusammen - teilen sich gleichwohl Lehrpersonal und Examensstoff.

Gespräch im Hof des Mädcheninternats: Kann eine Frau Regierungschefin sein? "Warum denn nicht!", ruft die 16-jährige Izzati vergnügt, "vielleicht ich?" Alle in der Runde haben ehrgeizige Berufsziele, möchten Ärztin oder Dozentin werden. Frauen seien mehr wert als Männer, sagen sie, auf jeden Fall intelligenter. Dann verrät eine noch, sie laufe einmal die Woche zum Cybercafé, um nach Filmstars zu surfen, und schon ist Gebetszeit, sie schlüpfen in ihre weißen Gebetsumhänge und flattern durch das Tor mit dem Stacheldraht zur Moschee.

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