Den anstößigsten Satz dieses Buches zuerst: »Es gibt keinen Beweis, der belegt, daß die Mehrzahl der Deutschen von der Judenvernichtung wußte, und nichts in der deutschen Geschichte weist darauf hin, daß sie sie gebilligt hätten, falls sie es denn gewußt hätten.« So ähnlich, nur ein wenig holpriger, klang es an deutschen Küchentischen vor dreißig, vierzig Jahren. Und nun erteilt ausgerechnet der Direktor des Jüdischen Museums eine solche Absolution? Daraus formt sich ein Bild: Michael Blumenthal, der umworbenste Gast der Hauptstadt, die Presse liegt ihm zu Füssen, beim Sponsoren-Dinner reichten die Plätze kaum, sogar der Kanzler schaute vorbei - und all dies zusammengebunden von einer tröstlichen, besä
Unerwiderte Liebe
VERSÖHNLICHER TON Michael Blumenthal, der Direktor des jüdischen Museums in Berlin, hat die Geschichte seiner jüdischen Vorfahren aufgearbeitet
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Satz dieses Buches zuerst: »Es gibt keinen Beweis, der belegt, daß die Mehrzahl der Deutschen von der Judenvernichtung wußte, und nichts in der deutschen Geschichte weist darauf hin, daß sie sie gebilligt hätten, falls sie es denn gewußt hätten.« So ähnlich, nur ein wenig holpriger, klang es an deutschen Küchentischen vor dreißig, vierzig Jahren. Und nun erteilt ausgerechnet der Direktor des Jüdischen Museums eine solche Absolution? Daraus formt sich ein Bild: Michael Blumenthal, der umworbenste Gast der Hauptstadt, die Presse liegt ihm zu Füssen, beim Sponsoren-Dinner reichten die Plätze kaum, sogar der Kanzler schaute vorbei - und all dies zusammengebunden von einer tröstlichen, besXX-replace-me-XXX228;nftigenden Botschaft. Ringsum sprießen böse Fakten aus verstaubten Aktenbergen, Fakten, die Mitwisserschaft belegen, immer mehr. Aber im Herzen Berlins in seinem spektakulärsten Bau - ein Anti-Goldhagen.Ja, so paßt es. Nein, so einfach ist es nicht.Als Michael Blumenthal, früher US-Finanzminister und Wirtschaftskapitän, die 300jährige Geschichte seiner deutschen Vorfahren zu recherchieren begann, war die Berufung ans Museum noch nicht in Sicht. Er kam nach Deutschland als ein wissensbegieriger Privatier, wenngleich prominent; folglich öffneten sich ihm Türen zu wissenschaftlicher Assistenz. Steffi Jersch-Wenzel, Expertin für deutsch-jüdische Geschichte, erinnert sich an einen unprätentiösen, erfrischend neugierigen Mann, noch weit entfernt von jenem Starkult, den er heute genießt. Blumenthal wurde 1926 in Oranienburg geboren, wuchs in Berlin auf und flüchtete mit seinen Eltern 1939 Richtung Shanghaier Exil. In den USA gelang dem Immigranten eine glänzende Karriere; »voller Stolz«, ein Amerikaner zu sein, hatte ihn das Schicksal seiner Vorfahren lange wenig interessiert. Erst im Alter kam die Unruhe: Was ist in Deutschland eigentlich passiert?Die unsichtbare Mauer entblättert ein Panorama deutsch-jüdischer Existenz von 1671 bis 1945 anhand von sechs Lebensgeschichten. Sie reichen vom armen Hausierer Jost Liebmann, der sich zum reichen Hofjuwelier des brandenburgischen Adels emporarbeitet, über die berühmte Rahel Varnhagen von Ense bis zum gut-bürgerlichen Vater Ewald, dekoriert im Ersten Weltkrieg, dann geschunden in Buchenwald. 1671 begann die neuzeitliche Geschichte von Juden auf deutschem Boden - Friedrich Wilhelm von Brandenburg, der Große Kurfürst, erließ seine Magna Charta für Juden, holte 50 Familien ins Land. Als Ewald, des Autors Vater, 1939 aus Deutschland flieht, ist er so besitzlos und rechtlos wie der jüdische Hausierer drei Jahrhunderte zuvor; ein Kreis hatte sich geschlossen.Heutige Deutsche sind gewöhnt, die deutsch-jüdische Geschichte von ihrem Ende her zu denken; aus der Perspektive der Shoah haben auch die Juden früherer Zeiten oft nur die gesichtslosen Konturen einer Gemeinschaft von Opfern, von Objekten des Antisemitismus. Blumenthal geht umgekehrt vor, er erzählt vom Beginn her, seine Protagonisten sind handelnde Subjekte, Menschen mit Eigenschaften, guten und schlechten. Sie kämpfen, je nach ihren Zeitumständen, gegen die Mauer an, die sie von der christlichen Umwelt trennt, sie erleben das Auf- und Abschwellen des Antisemitismus, aber sie empfinden sich nicht auf einer abschüssigen Bahn der historischen Entwicklung, sondern meist ganz im Gegenteil auf einem aufsteigenden, beschwerlichen Pfad zur Gleichberechtigung. Sie sind überzeugt, daß sich die Kluft zur nicht-jüdischen Umwelt immer mehr schließen wird - und »dass ihre Leistungen und ihre Vaterlandsliebe schließlich aller noch bestehenden Diskriminierung ein Ende setzen würde«.Zum Beispiel Giacomo Meyerbeer, gefeierter Opernkomponist im 19. Jahrhundert. Auf antisemitische Anfeindungen reagiert er mit umso verbissenerem Streben nach Ruhm. »Er war neurotisch, labil und pessimistisch, arbeitete bis zur Erschöpfung, konnte keine Kritik vertragen und witterte hinter jedem Fehlschlag und Tadel sogleich antisemitische Motive.(...) Sein Liebesbedürfnis war unersättlich. Viele andere deutsche Juden waren ihm darin ähnlich.« Als der französische Kaiser dem Komponisten einen Platz im Pantheon anbietet, lehnt Meyerbeer ab; er will in deutscher Erde begraben werden. Auch für den späteren kleinstädtischen Zweig der Familie Blumenthal in Oranienburg wird Patriotismus die höchste Tugend sein. So verführerisch ist der Traum von der völligen Integration, daß am Vorabend der Katastrophe viele Juden kein Signal wahrnehmen wollen, das diesen Traum gefährden könnte.Aber war die Assimilationsbegeisterung der deutschen Juden begründet? Sie war jedenfalls »nicht unbegründet«, schreibt Blumenthal - und an dieser Stelle setzt seine Auseinandersetzung mit Daniel Goldhagen ein. Dessen These, im deutschen Volk habe sich schon lange vor Hitler ein besonders bösartiger, eliminatorischer Antisemitismus entwickelt, nennt Blumenthal eine »grobe Vereinfachung und Übertreibung«, führt dagegen »die Wirklichkeit«, die Lebensgeschichten seiner Protagonisten ins Feld. Haben es die Juden in Deutschland »nicht weiter gebracht als irgendwo sonst«? Hätte Goldhagen recht, schreibt Blumenthal, »so wäre der schnelle Aufstieg der deutschen Juden vor Hitler nur umso erstaunlicher und das Verkennen der todbringenden, gegen sie gerichteten antisemitischen Kräfte nur um so rätselhafter.«Aber der Autor ringt ja selbst mit dem schwer Verständlichen. Das deutsch-jüdische Verhältnis, diese »unerwiderte Liebe der deutschen Juden zu ihrem Vaterland«, bleibt für ihn »eine einmalige Geschichte mit vielen Rätseln«. Die Fakten, die er präsentiert, bleiben offen für Interpretation. Die deutschen Juden, nie mehr als 600 000, also eine winzige Minderheit von nicht einmal einem Prozent der Bevölkerung, beeinflußten die deutsche Kultur und die Entwicklung des Judentums über die deutschen Grenzen hinaus. Geprägt von jahrhundertelangen antijüdischen Beschränkungen gelang den deutschen Juden binnen weniger Generationen ein beispielloser Aufstieg, wo die Gesellschaft sie aufsteigen ließ. 1893 waren fünf Prozent der Berliner jüdisch, an den Gymnasien stellten sie 25 Prozent der Schüler. 1914 erbrachten diese fünf Prozent Berliner bereits ein Drittel der Steuereinnahmen. Auch in der für die deutschen Juden besten Zeit, den Wilheminischen und frühen Weimarer Jahren, verbanden sich Respekt und Feindseligkeit ihnen gegenüber zu einer »explosiven Mischung«, schreibt Blumenthal. Einzigartig in Deutschland sei weniger die Art des Antisemitismus gewesen, sondern das politische Umfeld, in dem er gedeihen konnte, »sowie die exponierte und zugleich ohnmächtige Position der jüdischen Minderheit«. Warum aber fiel der rassistische Antisemitismus, wenngleich in Frankreich erfunden, in Deutschland auf den fruchtbarsten Boden und entfaltete hier seine furchtbarste Wirkung?Michael Blumenthal ist kein Wissenschaftler; er habe den Deutungen des Holocaust keine eigene hinzufügen wollen, schreibt er. Gerade deshalb aber muß verwundern, mit welch kühner Überzeugtheit er der Mehrheit der Deutschen des Dritten Reichs schützendes Nichtwissen zubilligt, auch »Ambivalenz« und »gemischte Gefühle« gegenüber der Drangsalierung von Juden. Solche karg belegten Thesen füllen nur wenige Seiten; sie mindern nicht den Wert eines informativen, anregenden Buchs. Aber es ist doch erstaunlich, wenn ein Autor hunderte von Blatt mit der emphatischen Schilderung einer »einmaligen Geschichte« füllt und dann am Ende bemerkt: »Auch bei jedem anderen Holocaust der Geschichte fehlte es leider nicht an willigen Helfershelfern.«Das Buch zum Museum? Durch seine Recherche in Deutschland (für ein zunächst amerikanisches Buch) ist Michael Blumenthal überhaupt erst in den Blick geraten für den schwierigen Job des Direktors in Berlin; mit der Recherche hat er sich dafür zugleich das nötige Wissensfundament zugelegt. Und neben dem Wissen auch eine Handschrift, die sich in den künftigen Ausstellungen niederschlagen wird: Es soll kein Holocaust-Museum mit zweitausend Jahren quasi determinierter Vorgeschichte werden, aber auch kein Pantheon für die Ikonen einer vermeintlichen deutsch-jüdischen Symbiose. Wie schwierig der Weg dazwischen ist, hat Blumenthal gerade mit seinem Buch bewiesen. Die »unsichtbare Mauer« ist eine griffige Metapher; warum daraus jedoch eine Mauer millionenfachen Todes wurde, bleibt dem Deutungsstreit überlassen. Und natürlich gibt es starke Kräfte, die sich von dem Jüdischen Museum jenen für die deutsche Seele versöhnlichen Ton versprechen, den der Autor in seiner Replik gegen Goldhagen anschlägt. Als Kanzler Schröder den noch leeren Museumsbau besichtigte, äußerte er die Erwartung, hier werde »eher die fruchtbare Geschichte« der Juden in Deutschland gezeigt. Und er fügte die Überlegung an, »wo wir stünden, wenn sie alle noch da wären«. Michael Blumenthal: Die unsichtbare Mauer. Die dreihundertjährige Geschichte einer deutsch-jüdischen Familie. Aus dem Amerikanischen von Wolfgang Heuss. München, Hanser Verlag 1999, 479 S., DM 49,80
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