Traumfabrik Wuppertal

Pina Bausch Auf den Spuren von Tänzern – eine Übersetzung aus dem Chinesischen

Bei diesem Beitrag handelt es sich um ein Blog aus der Freitag-Community.
Ihre Freitag-Redaktion

Nachdem ihn im Juni 2011 Wim Wenders' Dokumentarfilm „Pina“ bezaubert hatte, bereicherte der chinesische Filmkritiker Wei Xidi seine Deutschlandreise im Juli um die Station Wuppertal. Wuppertal war die Wirkstätte der Tanz-Revolutionärin Pina Bausch, die dort am 30. Juni 2009 starb. Seine Eindrücke hielt Wei in diesem Essay fest, den das Goethe Institut China Ende 2011 in der kleinen Text-Sammlung „Nanjinger Schriftsteller unterwegs in Deutschland“ veröffentlichte.

Pina ist noch immer in Wuppertal

Wei Xidi

Als im Juni auf dem Shanghaier Filmfestival Wim Wenders' 3D-Dokumentarfilm „Pina“ vorbei war und alle aus dem Kino strömten, da hörte ich ein vor mir gehendes Pärchen sagen: „Sieht so aus, als ob wir unseren Reiseplan für den Sommer in Deutschland ändern müssten.“ Ich konnte erraten, was beide im Sinn hatten: Sie wollten nach Wuppertal fahren. Was für ein Zufall, denn für Juli hatte ja auch ich den Plan, nach Deutschland zu reisen.

Nachdem ich also den Film gesehen hatte, legte ich ohne zu zögern Wuppertal als Ziel einer Tagesreise fest. Diese Stadt liegt im Süden des Ruhrgebiets und ist von Pina Bauschs Geburtsstadt Solingen knapp 15 Kilometer entfernt. Seit 1972 war Pina Bausch künstlerische Leiterin der Balletttruppe Wuppertals, die sich später in „Tanztheater Wuppertal“ umbenannte. Pina hat hier 35 Jahre gelebt und gearbeitet, die Stadt wird in Wenders' Film zu einem großen Theater.

Mit dem Zug braucht man von Köln nach Wuppertal etwa eine Stunde. Der Tag war wolkenverhangen und gelegentlich regnete es. Links und rechts der Strecke nur Industrie, von Kunst nicht die geringste Spur. Auf der Leinwand fährt die Wuppertaler Schwebebahn von der Stadt aus in die Luft, was sehr futuristisch aussieht. Aber wenn man dann selbst in Wuppertal ist, dann ist sie eigentlich nur eine gewöhnliche und gar nicht aufsehenerregende Kleinstadt.

Während eines starken Abendregens traf ich dort ein. Als ich die Bahnhofsunterführung verließ, sah ich zu beiden Seiten einen türkischen Dönerladen und einige kleinere Blumenstände. Es war wie auf einem Marktplatz. Von den paar Straßen neben dem Bahnhof war keine auf gleicher Höhe, oben wie unten viele Treppenstufen, es war schon „wie im Film“.

Ich wartete bis tatsächlich die Schwebebahn über meinem Kopf hinweg fuhr und dachte: Wow, jetzt bin ich wirklich in Wuppertal! Im Film wurde die Schwebebahn etwas verschönert. Wenn wir die Tänzer des Tanztheaters in und unter der Schwebebahn tanzen sehen, dann scheint es, als sei Pina noch immer in Wuppertal, als stecke die Essenz ihres Tanzes in jeder Ecke dieser Stadt, als sei Wuppertal, diese gewöhnliche Kleinstadt, zu einer Stadt des Tanzes geworden, voller Ästhetik und Kraft des Lebens .

Pina Bausch selbst hat 1986 Welttourneen gestartet, um für alle Städte auf der Welt etwas Neues zu schaffen. Vielleicht kann man auch sagen, dass der von Wenders für Pina gemachte Dokumentarfilm die letzte Fortsetzung dieses Plans ist, mit Wuppertal als Mittelpunkt.

Sollte man den Wunsch verspüren, in Wuppertal nach Spuren von Pinas Wirken zu suchen, dann lohnt das die Mühe nicht. Weil ich etwas Gepäck hatte und nur eine Nacht blieb, habe ich ein Hotel gebucht, das am nächsten zum Bahnhof lag. Aus Brüssel kommend stieg ich in Köln in einen Zug nach Wuppertal um und ruhte mich nach der Ankunft im Hotel sofort ein wenig aus, da die Reise etwas anstrengend war. An der gegenüberliegenden Wand des Zimmers hang ein Ölgemälde, das eine Stadt zeigte – wie vertraut es doch war! Als ich etwas genauer hinschaute, da stellte ich doch tatsächlich fest: Es war die „Perle des Ostens“ in Shanghai. Ich machte eine Runde im Zimmer, viele Gebrauchsartikel waren Made in China. Entweder hat ein Chinese in dieses Hotel investiert, oder die Globalisierung ist schon so weit vorangeschritten. Mir war langweilig und ich ging raus.

Im Vergleich zu anderen deutschen Kleinstädten scheint Wuppertal viel lärmender zu sein, auf der Straße waren Fußgänger aller Couleur in Eile. Die Stadt macht einen sehr aus der Zeit gefallenen Eindruck, natürlich nicht im Sinne einer Altstadt, sondern im Sinne einer vor 50 Jahren stehen gebliebenen Industriestadt. Wenders wurde nicht weit von Wuppertal in Düsseldorf geboren, einer wohlhabenden Geschäftsstadt. Er sagte mal, dass ein Grund für die Sympathie zwischen ihm und Pina gewesen sei, dass beide ihre einsame Kindheit während der Zeit des Wiederaufbaus im Nachkriegsdeutschland verbrachten.

Pina Bausch hat 1990 bei einem Tanzfilm mit dem Titel „Die Klage der Kaiserin“ selbst Regie geführt. Die Szenen in Wenders „Pina“, wo die Tänzer in jedem Winkel Wuppertals solo tanzen, lassen einen wirklich an diesen kaum bekannten und sehr avantgardistischen Film denken. Darin lässt Pina ihre Schauspieler (Tänzer) in einer realen Umwelt agieren, gar nicht mal tanzen, sondern meist sind es alltägliche Bewegungen. Pina sagte einst: „Man darf den eigenen Körper nicht aus dem Alltagsleben herauslösen.“ In Wenders Dokumentarfilm kommt mittels des Tanzens in realer Umgebung eine Ästhetik des Zwischenmenschlichen zum Ausdruck, mal absurd, mal elegant, mal humorvoll, mal sentimental – die Eindrücke sind fast nicht auszuhalten.

Mein Hotel verschenkte zwei Tagesfahrkarten für die öffentlichen Verkehrsmittel der Stadt, mit denen man 24 Stunden kostenlos fahren konnte, auch in der Schwebebahn. Nach Wuppertal kommen eigentlich kaum Touristen, und die wenigen, die da sind, kommen im Grunde nur, um mal mit der kleinen, an Schienen aufgehängten Eisenbahn zu fahren. Dieses hohe Schienengerüst wurde 1901 fertig gestellt, ist insgesamt 13,3 Kilometer lang und verfügt über 20 Stationen; die Höchstgeschwindigkeit beträgt 60 km/h.

In dieser Bahn stieß ich auf ein amerikanisches Ehepaar mittleren Alters, wir stiegen zusammen aus und ein. Der Mann schoss unentwegt Fotos von der Bahn und den Schienen. Im Waggon könnte man an diese humorvolle und poetische Szene aus „Pina“ denken, wo eine Frau ein Kissen umarmend und komische Laute von sich gebend einsteigt, oder ein Mann sich mit aufgesteckten Hasenohren ganz hinten niedergeschlagen hinsetzt. Die Hälfte der Strecke fährt man einen durch Wuppertal fließenden Fluss entlang, die andere Hälfte durch die Stadt. Für die Touristen von außerhalb wirkt es sehr wie eine Fahrt im Park mit der kleinen, einspurigen Eisenbahn aus Kindertagen.

Während Wenders Dreh für „Pina“ wurde die Stadt zum Hintergrund und dessen schönste Einstellungen sind wahrscheinlich jene mit den Schienen und der Schwebebahn. Nach Pina Bauschs Tod zog Wenders einmal „den Stecker“ und brach den Dreh ab. Aber unter dem Drängen der Mitglieder des Tanztheaters drehte er im Innern des Theaters vier komplette Tanznummern, die alle zu Pinas berühmtesten Werken zählen: „Frühlingsopfer“, „Vollmond“, „Kontakthof“ und „Cafe Müller“. Diese vier Werke bilden das Fleisch des Films, auch wenn Wenders viele traditionelle Filmtechniken verwendete, um diese Tänze zu schneiden und Effekte fürs Kino zu schaffen, nicht für die Bühne.

Aber Wenders ist nicht bei diesen Dokumentationen am besten, sondern dann, wenn er die Tänzer in realen Situationen durch ihre eigene Vorstellungskraft die Essenz des Tanzes von Pina Bausch interpretieren lässt. Erst diese magischen und bildschönen Solotänze in Wuppertal und Umgebung bilden das Skelett des Films. Bei diesen Szenen in der Straßenbahn, der Fabrik, auf der Straße, dem Hügel, im Schwimmbad und in der Sporthalle, ja sogar auf der Rolltreppe scheint es so als tauschten die Tänzer mit den Zuschauern ihre Lebenserfahrungen aus: Trauer, Fröhlichkeit, Verrückt-sein und Enttäuschungen. Und wenn dies in diesem Moment auch bei den Zuschauern eigene, wahre Emotionen hervorruft, dann ist es sehr schwer, davon nicht angesteckt oder bewegt zu sein.

Als ich vor meiner Ankunft in Wuppertal noch einige Tage durch Freiburg in Süddeutschland spazierte, ging ich in ein Kunstkino und wurde von einem Plakat überrascht, auf dem ich zu sehen glaubte, wie eine Tänzerin durch Regenwasser nach oben flog. Es wurde tatsächlich eine 3D-Version von „Pina“ gezeigt, jeden Abend eine Vorstellung. Während des Films fiel mir die Überschrift einer europäischen Rezension wieder ein, mit der Wenders 3D-Dokumentarfilm beschrieben wurde: „Tanzen in einer neuen Dimension", oder so ähnlich. Bei diesem erneuten Anschauen schien mir, dass die 3D-Technik den künstlerischen Wert dieses Dokumentarfilms eigentlich kaum steigert. Auch in 2D tut es der aufbrausenden Stimmung überhaupt keinen Abbruch (vielleicht sogar ganz im Gegenteil), wenn man von Pinas Werken und dem Tanzen der Tänzer in der Stadt überzeugt ist.

Man täte besser daran, mit jener „neuen Dimension“ die Umwelt der Tänzer zu beschreiben – diese kleine Industriestadt Wuppertal. Kommt man her, um sie zu sehen, dann heißt sie einen in keiner Weise willkommen. Aber wegen dieses Dokumentarfilms, wegen der hier getanzt habenden Menschen, wurde sie zu einer Landschaft der Seele.

Übersetzung und Link: Oliver Pöttgen
Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

chinaschau

Autor: Oliver Pöttgen | chinaschau@web.de | fachchinesisch.tv

chinaschau

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden