Solidarische Spiegelung für die antikapitalistische Linke

Antisemitismuskritik Moishe Postone (1942-2018) wäre am vergangenen Sonntag 80 Jahre alt geworden. Sein Aufsatz „Nationalsozialismus und Antisemitismus“ hat es verdient, neu gelesen zu werden – als eine solidarische Spiegelung aus jüdischer Perspektive

Bei diesem Beitrag handelt es sich um ein Blog aus der Freitag-Community.
Ihre Freitag-Redaktion

Vergangenen Sonntag wäre Moishe Postone 80 Jahre alt geworden. Er verstarb am 19. März 2018 in Chicago. Sein Aufsatz „Nationalsozialismus und Antisemitismus“ hatte immensen Einfluss auf die deutsche Linke. Mit Postone verbindet man den Begriff „verkürzte Kapitalismuskritik“. Und er wird zur Begründung des Begriffs „struktureller Antisemitismus“ in Beschlag genommen – der Idee von einem Antisemitismus ohne Jüd*innen. Beide Begriffe gehören heute zum Repertoire des Diskurses über Antisemitismus. Sie bieten große Sprengkraft, scheiden die Linke in die Lager „anti-imp“ und „anti-deutsch“.

Doch die Differenzmarkierung ist in den seltensten Fällen gut begründet. Eine gute Begründung würde nämlich stets konkret, das heißt zeit- und kontextspezifisch, argumentieren. Je vehementer die Positionen sich jedoch gegenüberstehen, desto weniger spielen Zeit und Kontext eine Rolle. So dient Postones Aufsatz den einen als allgemein wahrer Text. Für die anderen steht er für eine theorieaffine Linke, deren einzige Praxis die Unterstützung Israels ist. Ob die Lagerbildung in Postones Sinne gewesen wäre, darf getrost bezweifelt werden.

Eine materialistische Erkenntnistheorie des Antisemitismus

Mit seinem wegweisenden Aufsatz wandte Postone sich 1979 explizit an die bundesdeutsche Linke. Er war das Nebenprodukt eines Artikels für die akademische Fachzeitschrift New German Critique. Postone nahm die Ausstrahlung der TV-Serie „Holocaust“ zum Ausgangspunkt. Dass diese für die Linke ein derartiges «Schockerlebnis» gewesen sei, habe offenbart, wie unvollständig das verbreitete „Bild des Nazismus“ sei. Sowohl die orthodoxen Marxisten als auch die nicht-dogmatischen Linken hätten den nationalsozialistischen Antisemitismus nur als Randerscheinung behandelt. Die Vernichtungslager seien daher unerklärbar geblieben oder zu bloßen Beispielen imperialistischer Massenmorde geworden.

Postone hielt dagegen: Holocaust und moderner Antisemitismus müssten ausführlich beschrieben werden, um ihre qualitative Besonderheit zu begreifen. Ersterer sei nicht Ausdruck eines äußeren Ziels, sondern Selbstzweck gewesen. Deswegen könne er nicht durch „objektivistische Theorien“ – z. B. durch die gängigen Kapitalismustheorien – erklärt werden. Der Antisemitismus zeige sich als „eine Ideologie, eine Form des Denkens“, die beanspruche, die Welt zu erklären. Die Qualität der den Juden zugesprochenen Macht unterscheide ihn von anderen Formen des Rassismus.

Postone wollte ein „historisch-erkenntnistheoretisches Beziehungsgefüge“ aufspannen, innerhalb dessen genauere Analysen erfolgen können. Diesen Vorgang bezeichnete er als „materialistische Erkenntnistheorie“. Ihr sollte Marx‘ Begriff des Fetischs zugrunde liegen. Auf seiner Grundlage erkannte Postone, dass all jene Merkmale, die der moderne Antisemitismus den Juden zuschreibe – Abstraktheit, Universalität, Mobilität, Nicht-Fassbarkeit – Merkmale des (Tausch-)Werts seien. Als positives Gegenbild fungierten dabei konkrete Arbeit, das „Natürliche“, Gemeinschaft, Blut und Boden. Der Antisemitismus der Nationalsozialisten sei somit keine „Bewusstseinsmanipulation“ gewesen, sondern Ausdruck eines ideologischen Antikapitalismus, der sich durch den „einseitigen Angriff auf das Abstrakte“ auszeichne.

Der Nationalsozialismus als Antikapitalismus? Für die antikapitalistische Linke ein neuer Gedanke, der alles grundlegend infrage zu stellen vermochte. Diejenigen, die Postones Worte ernstnahmen, waren gezwungen innezuhalten: Während in kapitalistischen Fabriken in erster Linie Werte produzierte würden, die die Form konkreter Güter annähmen, sei Auschwitz die „groteske arische antikapitalistische Negation“ gewesen, also eine Fabrik zur Vernichtung des Werts, in der die Deutschen am Ende auch noch die gegenständlichen Überreste des konkreten Gebrauchswerts verwerteten: Kleider, Gold, Haare, Seife.

Resultat eines linken Erfahrungsraums

Postones Analyse war geprägt von konkreten Erfahrungen. Der 68er-Generation konstatierte er zwar ein Interesse am Nationalsozialismus, dieses habe jedoch im Gefühl der Abscheu und Schuld gewurzelt, woraus letztlich eine Abwehrreaktion resultierte. Man habe sich schuldig gefühlt für das Fehlen eines veritablen deutschen Widerstands. Diesen als Abstraktum zu verhandeln, auch vermittels des omnipräsenten Begriffs „Faschismus“, habe erlaubt, die eigenen politischen Aktivitäten als „Lernen aus der Vergangenheit“ zu imaginieren. In Wirklichkeit fand eine konkrete Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus jedoch nicht statt. Welche Identitätspolitik solcher Praxis zugrunde lag, zeigte sich Postone zufolge an der Umkehrung des Verhältnisses zu Israel im Zuge des sogenannten Sechstagekriegs: „Keine westliche Linke war vor 1967 so philosemitisch und prozionistisch. Vermutlich keine identifizierte sich in der Folge so stark mit der palästinensischen Sache.“

Frankfurt war Postones konkreter Erfahrungsraum. In der Stadt am Main hatte der jüdische Kanadier seit 1972 gelebt. Er arbeitete am Institut für Sozialforschung, also jener berühmten Institution, die 1923 gegründet und 1951 von Max Horkheimer wiedereröffnet worden war. Theodor W. Adorno hatte bis zu seinem Tod 1969 als geschäftsführender Direktor fungiert. Seine Schüler hatten ab Mitte der 1960er Jahre eine theoretische Strömung entwickelt, die Postones Perspektiven maßgeblich geprägt haben könnte: die sogenannte Neue Marx-Lektüre. Ihre Vertreter*innen ebneten den Weg, Marx‘ Kapital nicht länger als eine Analyse der ökonomischen Verhältnisse, sondern als eine Ideologiekritik zu lesen. Zentraler Begriff war der „Fetisch“. In der Totalität der Warenwelt erscheine nicht mehr der Mensch als ursächlich für die Welt, sondern das Kapitalverhältnis selbst. Die sozialen Beziehungen der Menschen erschienen als „Natureigenschaften der Produkte“. Und Marx habe für diese Erkenntnis die Begriffe geliefert.

Vor diesem Hintergrund mussten die Konzepte „Klassenverhältnis“ und „Kapitalverhältnis“ in Konflikt geraten. Während erstes ein Herrschaftsverhältnis mit konkreten Macht- und Abhängigkeitsstrukturen thematisiert, beschrieb letztes den Kapitalismus als ideologische Totalität. Können für die einen die Proletarier sich von den Ketten der Kapitalisten befreien, können für die anderen sie das erst dann, wenn sie sich des Denkstils und der Begrifflichkeiten des Kapitalismus entledigt haben. Sind für die einen Rassismus, Antisemitismus und andere Phänomene gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit Instrumente der herrschenden Klasse, um ihre Herrschaft zu verschleiern, entstehen sie für die anderen aus dem Kapitalverhältnis selbst.

Die Wirkmacht der (fehlenden) Resonanzräume

So genial Postones neo-marxistische Theorie des Antisemitismus, so wenig Anklang fand sie zunächst. Während Klaus Theweleits Männerphantasien (1977/78) für die Neue Linke zum Standardwerk avancierte, wurde „Antisemitismus und Nationalsozialismus“ nur wenig rezipiert. Einen Resonanzraum fanden Postones Gedanken in der theorieaffinen Studierendenzeitung Diskus und in der Sponti-Zeitschrift Autonomie. Bemerkenswert, gar folgerichtig erscheint, dass Postone nicht bei seinen eigentlichen Adressatinnen, den bundesrepublikanischen Linksradikalen, sondern im bildungsbürgerlichen Milieu Anklang fand. 1982 erschien sein Aufsatz unter dem Titel „Die Logik des Antisemitismus“ in der Kulturzeitschrift Merkur.

Für die Merkur ordnete Postone seine Gedanken neu. Dem Medium entsprechend, adressierte er Linksliberale und Konservative. Während die Linke den Nationalsozialismus zuvorderst als Spielart des Kapitalismus begreife, befassten sich jene zwar mit der nationalsozialistischen Vernichtung der Juden, täten dies aber insbesondere, um den Bruch zwischen Drittem Reich und der BRD zu betonen. Der Antisemitismus werde dabei als bloßes Vorurteil bagatellisiert. In beiden Fällen werde der Holocaust auf eine jeweils eigene Weise isoliert, die Qualität des Antisemitismus verstellt.

Interessant ist, was angesichts der neuen Leser*innenschaft gekürzt worden war. So findet Theweleit keine kritische Erwähnung mehr. Der offensichtlich einem linken Diskurs entstammende Begriff „Quasi-Staatskapitalismus“ ist absent. Und die Frage nach dem deutschen und jüdischen Widerstand gegen den Nationalsozialismus wird nicht länger verhandelt. Mit ihr verschwinden auch die psychologisierenden Überlegungen zur Frage, was dies mit gegenwärtiger linker Praxis zu tun habe und somit auch: Israel, den Palästinensern und dem (Anti-)Zionismus.

Der Neustrukturierung nach durchaus verständlich, den Streichungen nach aber recht erstaunlich, fand unter Linken „Nationalsozialismus und Antisemitismus“ in seiner Gestalt von 1982 Verbreitung. Dennoch dauerte es bis in die 1990er Jahre, dass der Aufsatz auch in linken Milieus stärker rezipiert wurde. Dafür verantwortlich zeichnete sich unter anderen die Freiburger Initiative Sozialistisches Forum (ISF) um den Publizisten Joachim Bruhn (1955-2019). 1991 veröffentlichte sie den Aufsatz in ihrer Zeitschrift Kritik und Krise. In der Folge wurde Postone zum bedeutenden Referenzpunkt für die „Antideutschen“.

Verschütteter gemeinsamer Ursprung

Postones Wirkungsgeschichte kann also einerseits als organisch und folgerichtig begriffen werden. Für die antisemitismuskritische Linke gab es gute Gründe, anhand der öffentlichen Debatten rund um die Wehrmachtsausstellung (1995) und Daniel Goldhagens Hitlers willige Vollstrecker (1996) zu konstatieren: In Deutschland hatte eine wirkliche Aufarbeitung des Nationalsozialismus und Auseinandersetzung mit dem modernen Antisemitismus niemals stattgefunden. Eine antikapitalistische Praxis laufe demnach Gefahr, in fetischisierter Manier in den Antisemitismus umzukippen. Andererseits war ein wichtiger Bestandteil verloren gegangen, der 1979 noch vernommen werden konnte: Postone hatte dezidiert die antikapitalistische Linke adressiert und auf ihre Defizite hingewiesen.

So entwickelte sich in den 1990er Jahren auf der einen Seite eine akademische Linke, die im Reflektieren und Theoretisieren eine hinreichende, zum Teil sogar die einzig mögliche Praxis sah. Sie ging nur dann auf die Straße, wenn sie Antisemitismus oder Antizionismus witterte. Passenderweise diente ihr «Antisemitismus und Nationalsozialismus» in der Version der bildungsbürgerlichen Merkur als Referenz. Auf der anderen Seite sortierte sich die Bewegungslinke neu und fand sich im Altermondialismus wieder, welcher 2001 im ersten Weltsozialforum mündete. Sie erfuhr massive Repression (Seattle 1999 und insbesondere Genua 2001) und fokussierte die Ausbeutung im globalen Süden, immerfort auf der Suche nach dem revolutionären Subjekt.

In ihrer Zuspitzung konnten die Standpunkte unterschiedlicher nicht sein. Die einen zogen sich in verrauchte Jugendzentren zurück und produzierten in männerdominierten, bio-deutschen Zirkeln – gefühlt immer mit einem Bein in der Depression stehend – theoretische Texte über die unentrinnbare kapitalistische Totalität. Die anderen suchten derweil weltweit nach der revolutionären Bewegung, kehrten immer wieder enttäuscht heim und entluden Enttäuschung und Überschwang regelmäßig in antisemitischen Semantiken.

Eine dezidiert historisierende Perspektive hält beiden Seiten ihren gemeinsamen Ursprung entgegen. Postone hatte nicht nur ein marxistisch-theoretisches, sondern auch ein praktisch-solidarisches Reflexionsangebot formuliert. Es vermag, die Kapitalismuskritik für antisemitische Verkürzungen zu sensibilisieren. Sicher, seine idealtypische Zuspitzung des Kapitals stellte Marx von den Füßen auf den Kopf. Für all jene, die sich den «Verdammten dieser Erde» (Frantz Fanon) verschrieben hatten, brachte dies ein Vermittlungsproblem mit sich. Es ist durchaus zulässig, Postones Überlegungen als «Ökonomismus» oder «Ableitungsantisemitismus» zu kritisieren. Denn einen direkten und zwangsläufigen Weg vom Warenfetisch nach Auschwitz gibt es nicht.

Doch ist es vorschnell, den Aufsatz wegen theoretischer Dissonanzen gleich zu verwerfen. Stattdessen gilt es, ihn empathisch zu historisieren. Anstelle des theoretischen Bekenntnisses tritt so der Wille zu verstehen: Wer sagt wo was mit welcher Intention? In Hinblick auf den Holocaust formulierte Hannah Arendt 1964 den eindrücklichen Satz: «Da ist irgendetwas passiert, mit dem wir alle nicht fertig werden.» Postone gelang ein genialer Versuch, die Vernichtung der europäischen Jüd*innen durch eine neo-marxistische Erkenntnistheorie zu erklären. Trotzdem werden «wir» mit dem Holocaust auch weiterhin nicht «fertig». Stattdessen entwickeln sich unterschiedliche Umgangsformen und Standpunkte, wobei Gemeinsamkeiten mitunter unsichtbar werden. Für Postones Aufsatz heißt das: Seine Gedanken waren das Produkt eines linksradikalen Kontextes – und eine solidarische Spiegelung aus jüdischer Perspektive.

*Der Artikel ist eine gekürzte Version der Rezension, die im Rahmen der Kollektivbibliografie «Linke und Antisemitismus» der Rosa-Luxemburg-Stiftung erschienen ist.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Christoph Gollasch

Politikwissenschaftler und Historiker | Lernender und Fragender | PhD candidate Centre for Research on Antisemitism | Intersectionality, Baby!

Christoph Gollasch

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden