Meisterwerk des „angry feminism“

Film Julia Ducournaus „Titane“ ist mehr als eine bloße Aneinanderreihung von Sequenzen zugunsten kulturindustrieller Individualisierung und linker Identität. Versuch einer zusammenhängenden Analyse des „schockierendsten Film des Jahres 2021“

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Julia Ducournau wurde für „Titane“ beim Festival in Cannes Palme mit der goldenen Palme ausgezeichnet.
Julia Ducournau wurde für „Titane“ beim Festival in Cannes Palme mit der goldenen Palme ausgezeichnet.

Foto: Pascal Le Segretain/Getty Images

Fantasy-Drama, Body Horror, Genre- und Arthousefilm: Wikipedia weiß um keine klare Kategorisierung des diesjährigen Gewinners der Internationalen Filmfestspiele von Cannes. Auch die Kritiken waren gespalten. Einigkeit bestand wohl nur darin, dass Titane der schockierendste Film des Jahres 2021 gewesen sei. Entsprechend unterschiedlich ist der Film interpretiert worden. Wahlweise steht mal die Technik, mal der Körper im Mittelpunkt.

Mensch, Maschine, Körper

Technik und Körper vermögen vor allem den männlichen Blick anzuziehen. Es ist die Regisseurin selbst, die ihn provoziert. Nach der Eingangsszene, einem Autounfall von Vater und Tochter, den die Hauptdarstellerin nur mithilfe einer Titanplatte im Schädel überlebt, wirft uns Ducournau in die Welt kulturindustrieller Ästhetik. Auf einer Autoshow, von Männern lüstern begafft, räkeln sich nackte Frauen auf Oldtimern, Muscle Cars und Pickups. Alexia, gespielt von der nicht-binären Künstler:in Agathe Rousselle, gehört zu den begehrtesten Stripperinnen. Ihre blond gefärbten Strähnen fallen nur mühselig über eine kreisrunde Narbe am rechten Ohr, die an eine Skarifizierung erinnert.

Was als pornographische Darstellung normativer Geschlechterbilder und normierter Körper beginnt, als eine Art zweite Natur der männerdominierten Gesellschaft, findet sein jähes Ende im unnatürlichen Tod. Körpersekrete aus einem zur Fratze verzerrten Gesicht tropfen auf Alexia, als sie einem aufdringlichen Autogrammjäger unvermittelt ihre Haarnadel vom Ohr ins Gehirn rammt. Es ist die scheinbare Urszene des Films. Angewidert kehrt Alexia zur Autohalle zurück, um sich die Überreste des Toten abzuwaschen, ein letztes Mal ihren nackten Körper dem Betrachter auszusetzen.

Ein krachendes Hämmern gegen die Tür der Umkleide zerschneidet die wiederherstellende Waschung. Statt des assoziierten Vergewaltigers wartet dahinter ein vor Kraft strotzender Cadillac, lackiert in Flammenmotiven. Oder handelt es sich dabei um dieselbe männliche Gewalt? Alexia jedenfalls erwidert sein Begehren und es kommt zum orgastischen Sex zwischen Frau und Maschine. Alexia wird sich fortan verändern, zu einem geschundenen Stück Fleisch werden, das, übersäht von Narben, seine Schönheit einbüßt. Denn, so scheint es, der Bolide hat seine Spuren hinterlassen. Motoröl statt Blut fließt aus Alexias geschwängertem Körper.

Kein Wunder also, dass Titane zuvorderst als ein Film über das Verhältnis von Mensch, Körper und Maschine rezipiert worden ist. Doch fantastische Erzählungen, in denen die Grenzen zwischen warmem Fleisch und kaltem Metall verschwimmen, zeichnen zumeist eine gesellschaftliche Hybridität. Alexia hingegen hat keine Gesellschaft, ist zu solcher gänzlich unfähig. Körperliche Begegnungen mit Menschen enden damit, dass sie diese tötet. Erfrischend radikal spielt es keine Rolle, ob die Begegnungen hetero- oder homosexuell, gewaltvoll oder konsensual sind – Alexias Haarnadel bohrt sich in jeden Körper, unabhängig von sexueller Vorliebe und Identität.

Nach ihren Morden bleibt Alexia nur die Flucht. Spontan verändert sie ihre Identität, gibt sich als der lange vermisste Junge Adrien aus. Sie schneidet sich die Haare, bindet sich die Brüste ab, versteckt ihren unaufhaltsam wachsenden Bauch. Auf der Polizeiwache bestätigt der abgehalfterte Feuermannkommandeur Vincent, unerwartet, dass es sich bei Alexia um seinen Sohn handle. Sie wird von ihm aufgenommen, er nimmt ihn bei sich auf. Die Pronomen zerfließen. Obgleich Vincents hypermaskulinen Kollegen klar ist, dass dieses androgyne Wesen unmöglich der Sohn ihres alternden, aber noch immer vergötterten Kommandanten ist, trotzt dieser seiner Umwelt und akzeptiert Alexia als seinen verlorenen Sohn Adrien.

Individualisierende und identitätspolitische Rezeption

Entsprechend individualisierend wurde Titane in den bürgerlichen Medien besprochen. Andrea Diener begreift in der FAZ den anfänglichen Unfall als Urszene, aus der die „autosexuellen Neigungen“ der Hauptfigur resultierten. Genauso Juliane Liebert in der SZ, die die Schuld für den Unfall beim aggressiven Kind sieht, das den Vater so lange beim Fahren belästigt, bis dieser seinen Wagen gegen die Leitplanke setzt. Das Zusammenfinden von Vincent und Alexia/Adrien wird schließlich auf Kalenderspruchniveau zusammengefasst: „Nur wer sein wahres Wesen zeigt, kann wahre Liebe erfahren. Und, im Falle des Vaters: Nur wer aufgibt, was er verloren hat, wird bekommen, was er sich ersehnt.“

Die linke Rezeption tat gut daran, solcher Individualisierung den Zahn der Zeit entgegenzufletschen. Transgeschlechtlichkeit, Sexualität, Fetisch, Körperlichkeit sind als Perspektivierungen progressiver. Das Resultat jedoch ist letztlich ähnlich. Was der bürgerlichen Rezeption die individualisierenden Szenen, sind der linken die identitätspolitischen. Zurück bleibt ein sezierter Film, der kein Anfang und Ende, sondern nur Ausschnitte kennt. Dabei stellt sich die Aufgabe: Deute Titane so, dass daraus nicht beliebige Sequenzen, sondern ein zusammenhängender Sinnzusammenhang entsteht!

Ein solcher gelang Christoph Engemann, indem er Ducournaus Film beeindruckend als schmerzhafte gesellschaftliche Emanzipation von Fordismus und Petromoderne deutete. Doch große Deutungen vernachlässigen zuweilen die Spezifika der jeweiligen Charaktere. Für die Figur Alexia lautet die Frage: Warum erweist sie sich als derart unfähig, mit anderen Menschen in Beziehung zu treten? Eine Antwort verbirgt sich im Verhältnis zu ihrem Vater, das von Anfang an – man denke zurück an den initialen Autounfall – als aggressiv-entfremdetes dargestellt wird. Als Alexia nach ihrem Fick mit dem Cadillac über Bauschmerzen klagt, ihre (Stief-?)Mutter darauf erwidert, sie solle sich von ihrem Vater (weil er Arzt ist?) untersuchen lassen, dieser schließlich Alexias Bauch befühlt, ertrinkt die Szene in überbordender Scham. Später beginnt Alexias Flucht scheinbar wohlfeil damit, ihren Vater im Schlafzimmer einzuschließen und das Elternhaus in Brand zu stecken. Und als adoleszente Männer in einem Bus eine Frau belästigen, welche sich ihr hilfesuchend zuwendet, lässt Alexia sie allein zurück und steigt aus.

Meisterliche Verarbeitung sexualisierter Gewalt*

Nein, bei Titane handelt es sich um keinen Sequenzfilm, als der er zugunsten kulturindustrieller Individualisierung oder linker Identität interpretiert worden ist. Titane ist eine meisterliche Verarbeitung sexualisierter Gewalt, welche – wie in der Wirklichkeit – zum überwiegenden Teil in Primärbeziehungen geschieht. Alexias sich technisierender Körper steht für all jene, auf die über lange Zeit gewaltvoll zugegriffen wurde. Denn Betroffenen sexualisierter Gewalt erscheinen ihre Körper zuweilen als gefühlskalte Objekte, äußerlich, sich ihrer Kontrolle entziehend. So kann auch Alexia ihren Körper immer weniger kontrollieren. Unter der aufplatzenden Bauchdecke zeichnen sich Spuren von kaltem Metall ab, ehe er auseinanderbricht.

Ein herausragender Soundtrack untermauert die Perspektive. Vom gewieften Verschleiern der gewaltvollen Erfahrung, dem Verstellen des eigenen Wesens im Angesicht sozialer Beziehungen, zeugen die Lyrics der britischen Rockband The Zombies, wenn Rod Argent in «She’s Not There» singt:

// Her voice was soft and cool /
Her eyes were clear and bright /
But she's not there
//

Vom Gefühl, mit der Erfahrung einsam und gefühlskalt umherzuwandern, wenn Johnny Cash in «Wayfaring Stranger» intoniert:

// I'm just a poor wayfaring stranger /
Traveling through this world below /
There's no sickness, no toil or danger /
In that bright land to which I go //

Von der Schwierigkeit, mit jenen Menschen weiter zu verkehren, die erst einmal zu erkennen gegeben haben, um die persönlichen Abgründe zu wissen, wenn die italienische Sängerin Caterina Caselli in «Nessuno mi può giudicare» schmettert:

// La verità mi fa male, lo so /
La verità mi fa male, lo sai //

Wie schmerzhaft auch immer die Wahrheit, vor der sowohl Alexia:Adrien als auch Vincent nicht länger die Augen verschließen können. Sie kann den alternden Feuerwehrmann nicht davon abbringen, dem so brutalen wie fragilen Wesen bedingungslos zur Seite zu stehen. Herausragend gespielt von Vincent Lindon, muss der Pompier nicht nur seinen leiblichen Sohn loslassen, um einen neuen zu bekommen. Das Bekenntnis zu Alexia:Adrien bedeutet zugleich das Zurücklassen einer Männlichkeit, gegen deren Verfall er noch täglich mit Anabolikaspritzen ankämpft. Den hybriden Körper aus Frau und Mann, Mensch und Maschine bis in den Tod hinein im Arm zu halten, gibt seinem Leben wieder Sinn. Und so gebärt der wütende Feminismus eine meisterliche Schönheit: eine wahre Begegnung von Verschiedenen im Angesicht ihrer jeweiligen Verletzlichkeit.

*Diese Perspektive auf Titane wäre mir ohne den nicht-männlichen Blick von Moran Levy verschlossen geblieben.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Christoph Gollasch

Politikwissenschaftler und Historiker | Lernender und Fragender | PhD candidate Centre for Research on Antisemitism | Intersectionality, Baby!

Christoph Gollasch

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