Am Freitagabend. Mein Bruder hatte seinen Schulabschluss mit Zeugnisausgabe und so. Ich hatte gerade geduscht und mir für den Abend wirklich bequeme und vor allem zweckmäßige Kleidung ausgewählt. T-Shirt, Kurze Hose, Flip-Flops. Damit war ich vor allem für das sehr heiße Klima an diesem Abend gut ausgerüstet. Mein Bruder sah das allerdings ein bisschen anders. Ich sollte doch ein Hemd anziehen, sagte er, und die Flip-Flops gingen auch gar nicht. Warum, fragte ich, das ist sehr bequem und bei dem Wetter erste Wahl. Darum ginge es gar nicht, erwiderte er, und weiter: Da sind alle so gekleidet, das gehört sich eben so, ohne Hemd bist du nicht angepasst genug etc.
Diese Argumentation ist wohl niemandem neu. Wer kennt sie nicht, die ungeschriebenen Regeln, die jedermann dazu anhalten zu bestimmten Anlässen die Krawatte aus dem Schrank hervor zu holen, damit die „Kleiderordnung“ eingehalten wird, wie während eines antiken religiösen Rituals. Diese ungeschriebenen Regeln sind Resultat eines gesellschaftlichen Prozesses in der die oberen Gesellschaftsschichten, einen bestimmten Kleidungsstil als modern und ästhetisch empfanden sich zunehmend erst in der eigenen Schicht und später, als dieser für diese erschwinglich wurde, auch in den unteren Schichten durchgesetzt hat, zumindest um eben bei bestimmten Anlässen dafür zu sorgen, dass eben nicht erkennbar ist, dass man doch nur Elektriker ist. Vielleicht aus Scham, weil der eigene Beruf im Gegensatz zum Bänker verblasst, oder auch um Zugang zu höheren Klassen zu erhalten.
Doch was ist eigentlich der Sinn der Kleidung?
Der primäre Sinn der Kleidung besteht darin, sich an klimatische Bedingungen anzupassen. Dieser Sinn ist eher ein Zwang, eine Unterwerfung des Körpers unter das Klima. Der Mensch kann nicht frei, nicht nackt sein, weil ihn Kälte und Niederschlag dazu zwingen etwas anzuziehen um den Körper zu schützen.
Der sekundäre Sinn lässt sich direkt aus dem primären ableiten, denn wenn ich schon mich unter die Natur beugen muss und Kleidung tragen muss, dann soll es wenigstens bequem sein, ich soll mich in der Kleidung wohl fühlen können.
Der tertiäre Sinn besteht darin sein eigenes Empfinden von Ästhetik zu befriedigen, so dass es nicht nur die Haut ist die sich gut fühlt, sondern auch die Augen sind, die befriedigt werden. Es geht dabei jedoch nicht darum, dass ästhetische Empfinden anderer zu befriedigen, nur um sich selbst einen persönlichen Vorteil daraus zu verschaffen. Dieser letzte Sinn ist dabei jedoch zum Teil kritisch zu betrachten, da die Neigung entsteht die Kleidung als eine Art Maske für Gesicht und Körper zu verwenden und diese dadurch, auch wenn unter dem Deckmantel der Ästhetik, verleugnet.
Wenn ich aber mir von einer Norm meine Kleidung bestimmen lasse, habe ich eine Entscheidung die eigentlich mir selbst überlassen ist, nicht an einen Freund oder so, sondern an eine anonymen gesellschaftlichen Norm delegiert. Hier wird ein autonomes Auftreten gegen eine billiges Mitschwimmen in der Masse, der Masse im Zwirn, eingetauscht. Es geht dabei auch nicht um eine Kritik der Krawatte, aber wenn ich Klamotten nur trage, um bestimmten Normen zu entsprechen, sei es in der Anwaltskanzlei oder auf der Hochzeit des lieben Cousins, beginne ich Kleidung für einen Zweck zu nutzen, der deshalb falsch ist, weil er nicht dem Sinn der Kleidung entspricht, ich gebe damit der Kleidung eine Aufmerksamkeit, die sie als toter Stoff überhaupt nicht verdient, eine Aufmerksamkeit die anderen, lebenden Dingen eher gegolten hätte. Ich verberge mich selbst hinter der Kleidung, wie ein Kostüm trage ich sie am Körper, in der Hoffnung niemand wird auf den Menschen dahinter schauen, sondern nur den Menschen direkt aus seiner Kleidung ableiten.
Es ist vielleicht paradox, dass ich hier gerade viel über Kleidung nachgedacht habe, um jetzt als Resultat zu verkünden, man sollte vielleicht etwas weniger über Kleidung nachdenken, aber das kann ich grad auch nicht mehr ändern.
Kommentare 24
Es fehlt noch der historische Sinn von Kleidung. Bestimmte Bekleidungen waren nur bestimmten Personen/Berufsgruppen/Schichten erlaubt. Frauen sollen sogar für das Recht, Hosen zu tragen, gestorben sein. Kleidung ist also auch etwas hochpolitisches.
Und von wg. nur Elektriker sein. Sich schämen und der Wunsch, etwas "Schönes" tragen zu wollen, sind zweierlei.
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Keine Sorge selbst Gute Freunde erkennen mich nicht auf diesem Bild außerdem ist es 10 Jahre alt.
Eine Frage habe ich noch: Wie bist Du dann hingegangen?
Im Zweifelsfall trage ich Anzug mit Flip Flops
Ja, mit dem Sommer kommen die Zumutungen. Wildfremde Menschen zeigen sich einander nackt. In der Straßenbahn muss ich plötzlich Träger-Tops in Größe 40 an Frauen mit Größe 46 sehen, senke ich den Blick vor so viel nacktem Fleisch, fällt er auf seit jahrzehnten nicht mehr gepflegte Füße, aus denen krumm gewachsene Männerbeine wachsen. Im Büro riecht es wie Raubtierhaus, weil weder Schuhe noch Socken den Fußschweiß abschirmen. All das mag bequem sein, sinnvoll aber ist es nicht. In den schon länger heißen Ländern wissen die Menschen, dass Stoff das Mittel gegen Sonne, Hitze, Schweiß ist. Von der Ästhetik mal ganz abgesehen.
Den "Sinn", gegen Kälte oder Hitze zu schützen, hat Kleidung in unserer Gesellschaft seit Längerem nur noch marginal. Kleidung dient in erster Linie der Positionierung, der Abtrennung.
Welche FUNKTION erfüllt eine Krawatte? Sie trennt das Trägerhirn nicht nur von zumeist wichtiger Blutzufuhr, sondern den Träger selbst von anderen Nicht-Krawatten-Trägern.
Ein Bauchfrei-Shirt trennt die meist jungen bauchlosen Trägerinnen von ihren älteren Rivalinnen, deren hirnfreie Vertreterinnen mittlerweile allerdings auch bauchfrei tragen - und den Bauch noch dazu.
Eine schicker als sonst gewählte Garderobe zeigt allerdings auch, dass man den Anlass bzw. den Gastgeber würdigt. Es geht dann einmal nicht um das eigene Wohlbefinden, sondern um die "Huldigung" des Anderen.
Wir verändern durch entsprechend gewählte Kleidung zunächst nicht unser Sein oder unseren Charakter, sondern bloß unsere Erscheinung. Wir gehören einer Gruppe an. Diese "Anpassung" bringt nicht zuletzt auch Vorteile in der Evolution des Ichs.
Und dann kann das Ich endlich das tragen, was es möchte - zu Hause.
Zwar bin ich keine Germanist (nicht im Entferntesten) doch ist das eine nicht bauchfrei und das andere Bauch frei. Am besten ist sicher bauchfrei Bauch frei.
Bauchspeck?
Naja, frei von Bauch sind ja leider die Wenigsten. Diese dürfen dann aber gern auf das Kommando "Bauch frei!" hin den Bauch freimachen. Wobei zu enge Männer-Shirts mit Aufdruck "Bier ließ diesen Bauch frei!" explizit nicht gemeint sind...
genauso wie ich geplant hatte: Flip- Flops, ein rotes T-shirt und eine Olivgrüne kurze Hose. die meisten hatten eben Anzug gewählt, aber waren ständig damit beschäftigt sich Luft zuzufächern oder sich die Stirn abzutupfen
Ich wollte nicht zu tief in die Geschichte eindringen, ich hatte zwar überlegt ob ich die Feudale Gesellschaft noch einbringe, aber ich hielt es dann doch nicht für wichtig genug.
Wenn der Elektriker die Krawatte so schön fände, würde er diese wohl jeden Tag tragen und nicht nur beim 15 Jährigen Firmenjubiläum
Da entschuldige ich mich jetzt schon mal für den Tag an dem Du meine Füße ansehen musst, aber geschlossene Schuhe sind mir zu warm.
Nein, würde er nicht. Weil er noch damit aufgewachsen ist: besondere Kleidung für besondere Gelegenheiten. Und: Kleidung verdeckt soziale Unterschiede und offenbart sie gleichermaßen. Denn ein Anzug von der Stange und Schuhe vom Discounter sind eben doch vom Maßanzug und handgefertigten Schuhen zu unterscheiden.
Aber die ganzen Dürrgehungerten sind auch kein schöner Anblick. Da wünsch ich mir dann immer etwas Speck zur Auskleidung des Faltenwurfs. Aber die Frauen denken dann ja, Bräune würde das überdecken.
Von den glattrasierten uniformen Männeroberkörpern will ich gar nicht erst anfangen.
"Ein Bauchfrei-Shirt trennt die meist jungen bauchlosen Trägerinnen von ihren älteren Rivalinnen, deren hirnfreie Vertreterinnen mittlerweile allerdings auch bauchfrei tragen - und den Bauch noch dazu."
Alt werden darf ich, Bauch haben auch, nur ihn nicht zeigen. Aha.
Auf meinem T-Shirt steht auf den entsprechenden Rundungen (unten): Hart erarbeitetes Tortengrab.
Titta Du darfst tragen was Du willst, mit Fell auf dem Bauch sieht das alles ganz anders aus!
@merdeister Titta
Natürlich habe ich auf offener Straße schon sehr schöne Füße gesehen, wohlgeformt und gut in Schuss. Doch ein Gesetz scheint zu verlangen, dass sich im Großen und Ganzen stets die Falschen ausziehen, und nicht immer ist es allein mit Selbstbewusstsein zu erklären. Na, nun wird's ja erstmal ein kleines bisschen kälter.
Herzlich
kk
Meines Erachtens liegt der Sinn von Kleidung schon seit geraumer Zeit nicht mehr im Bedecken unseres mangelhaft befellten Körpers, sondern in Kommunikation.
Indem ich bestimmte Kleidung wähle kommuniziere ich meinen Gegenübern bestimmte, damit verknüpfte Informationen. Diese wiederum sind kulturell und zeitlich wandelbar. Zum Beispiel ein Parka, der einst als Insignie von subvrsivem Gedankengut galt, inzwischen aber diesen Informationsgehalt verloren hat, oder der Vorgänger des Parkas, der Trenchcoat, der eine ähnliche Karriere hinter sich hat, aus Militärbeständen in die Jugendgarderobe und anschließend allgemein akzeptiert
Indem man geschriebenen oder ungeschriebenen, auf Konvention basierenden, Kleiderordnungen nicht entspricht, kommuniziert man vor allem:
Ihr, eure Party und das was euch wichtig ist, interessiert mich nicht, ich mache meine eigenen Regeln.
Das kann dann wiederum unterschiedlich ausgelegt werden, je nachdem was das für eine Party ist. Im feinen Zwirn auf der Studentenparty eckt man zwar an, kann aber je nachdem, wie man sich dazu benimmt, damit sowohl Platzhirsch als auch Loser sein. Das liegt daran, dass auf solchen Partys Abweichung von Normen allgemein eher hoch geschätzt wird. Bei hochoffiziellen Anlässen hingegen wird Anpassung hoch geschätzt.
Die grundlegende Frage aber: Warum hast Du Deinem Bruder denn den Gefallen nicht getan, wenn er Dich schon drum gebeten hat?
Nun auf eine bitte hätte ich vielleicht reagiert, aber sein Befehlston hat mir absolut nicht gefallen und da ich ohnehin wenig Lust hatte Hemd zu tragen, hab ich dann beschlossen ihm auch mal zu zeigen, dass man freundlich sein muss um bei mir was zu erreichen
Mein Flip-Flops bleiben ab 15°C zu Hause :-p
"Warum hast Du Deinem Bruder denn den Gefallen nicht getan, wenn er Dich schon drum gebeten hat?"
Weil sie Brüder sind, fragt da etwa ein Einzelkind?
@friedland
"Wir verändern durch entsprechend gewählte Kleidung zunächst nicht unser Sein oder unseren Charakter, sondern bloß unsere Erscheinung"
Genau das meinte ich ja, wir lassen das sein von dem schein überdecken.
Den Gastgeber würde ich nicht dadurch das ich mich elegant gekleidet habe, sondern durch meine Anwesenheit, mein Verhalten oder dadurch das ich vielleicht einen leckeren Nudelsalat gemacht habe
bei mir genauso^^
Eben: Kleidungsfragen sind immer auch Machtfragen!!!
Also ob man was Macht oder nicht?
"Trenchcoat"
Respekt - wieder was gelernt. Jahrelang Anglistik studiert, nie war mir die Bedeutung dieses Wortes aufgegangen. Allerdings merkwürdig aussehend fand ich sie schon immer...
Im Übrigen würde ich mir hier mehr Mode-/Kleidungsbeiträge wünschen! Habe mich mit Beitrag und Kommentaren sehr gut amüsiert, und hochinformativ war es offensichtlich auch. Vielleicht wäre das ja im Sinne des "linken Boulevard", für den sich unser Hausherr Jakob Augstein an anderer Stelle aussprach.