Die westafrikanische Republik Mali ist aus den Schlagzeilen nahezu verschwunden. Die Zerstörungen aber, die Timbuktu erlebte, als im Frühjahr 2012 die Islamisten von Ansar Dine, Al-Qaida im Maghreb und der Bewegung für Einheit und Dschihad in Westafrika eindrangen, sind nicht vergessen und vor allem nicht zu übersehen. Die Sicherheitslage im Land bleibt weiter angespannt, es gibt nach wie vor Anschläge und Geiselnahmen militanter Islamisten. Noch sind deshalb insgesamt rund 10.000 ausländische Soldaten im Land, um so etwas wie Normalität herzustellen. Aber was, fragen sich viele, heißt Normalität in einem Land, das von den acht Millennium-Entwicklungszielen nur eines, den Zugang zu sauberem Wasser für alle, erreichen wird?
Buddha vor Augen
Ni
vor AugenNicht vergessen sind aber auch die Helden, die unter Einsatz ihres Lebens damals die Kulturschätze aus der Stadt brachten und vor der drohenden Zerstörung retteten; gefüllt in Metallkisten, verborgen zum Teil unter Gemüseladungen, in Autos oder auf Eselskarren, streckenweise auch in Kanus.Die Retter der Handschriften hatten bereits Monate vor der Einnahme Timbuktus durch die Rebellen mit dieser Aktion begonnen. Sie hatten das Schicksal der Buddhastatuen von Bamiyan vor Augen, die im Jahr 2001 von den Taliban-Milizen in Afghanistan zerstört worden waren. Wie begründet ihre Sorge war, zeigte sich, als später eines der berühmten Mausoleen der Stadt zerstört wurde.Unter den geretteten Manuskripten – die Schätzungen schwanken zwischen rund 280.000 und bis zu 400.000 – sind Kommentare zum Koran und sprachwissenschaftliche Abhandlungen. Viele davon sind in afrikanischen Sprachen, zahlreiche aber auch in arabischer Schrift verfasst.Einer der Retter ist der Islamgelehrte Dr. Abdel Kader Haidara, der in Timbuktu die private Mamma-Haidara-Bibliothek leitet. Haidara ist außerdem Vorsitzender eines Verbands von Manuskripteigentümern, der sich der Bewahrung des handschriftlichen Erbes verschrieben hat. Am 6. Oktober wird ihn Außenminister Frank-Walter Steinmeier für sein Engagement mit dem Deutschen Afrika-Preis auszeichnen.Haidaras Einsatz hat unvorstellbaren Schaden von den Handschriften abgewendet, die Teil des UNESCO-Weltkulturerbes sind. Unter den Dokumenten sind einzigartige Geschichtszeugnisse, die weit über Malis Grenzen hinaus und vom 12. bis zum frühen 20. Jahrhundert reichen, hatte doch Timbuktu über Jahrhunderte hinweg große Bedeutung als Knotenpunkt von Handelsstraßen und als Stätte von Wissenschaft und Bildung. In den Bibliotheken und privaten Archiven von Timbuktu lagerten deshalb Beweisstücke für eine geschriebene Geschichte Afrikas und für das kulturelle Gedächtnis des Kontinents, die bis zum Ende der Kolonialzeit ignoriert worden waren.Abdel Kader Haidara ist überzeugt, dass in diesen Schriften mehr und bessere Lösungen für Afrikas Probleme enthalten sind als Weltbank und IWF, die einstigen Kolonialmächte, und angeblich auf Augenhöhe verhandelnde Politiker den afrikanischen Staaten bieten können. „Es wurde lange gelehrt, Afrika habe weder eine geschriebene Geschichte noch eine Zivilisation“, sagt er. „Diese Lehre wurde durch die Entdeckung der Handschriften nach der Kolonialzeit widerlegt. Die Handschriften sind voll von wichtigen potenziellen Antworten auf unsere täglichen Probleme – von der Korruption über gewaltsame Auseinandersetzungen zwischen Ethnien bis hin zu den Kriegen, die afrikanische Staaten erschüttern.“ Als Beleg führt er zwei Manuskripte aus seinem Bestand an. Das eine handelt von den Menschenrechten, angefangen bei den Rechten eines Ungeborenen im Mutterleib. Das andere stammt aus dem 17. Jahrhundert und befasst sich bereits mit dem Kampf gegen Machtmissbrauch und Korruption.FamilienpolitikDem Schicksal der Schriften hatte sich Haidara, dessen Vater ebenfalls Archivar war, bereits vor Jahrzehnten verschrieben. Damals arbeitete er im staatlichen Ahmed-Baba-Institut und hatte die Vision, die Manuskripte aus zum Teil nicht sachgemäß gelagerten Familienbeständen zusammenzuführen und so für die Forschung und öffentliche Nutzung zu bewahren und besser zugänglich zu machen. Der damalige südafrikanische Präsident Thabo Mbeki unterstützte das Projekt finanziell großzügig mit dem Ziel, in Timbuktu ein Zentrum der afrikanischen Renaissance aufzubauen. Doch Haidara entschied sich anders. Sein Vertrauen in den Staat als Hüter der Kultur und in dessen Fähigkeit und Bereitschaft zur dauerhaften Lösung dieser Herkulesaufgabe schwand.Er verließ das Ahmed-Baba-Institut und übernahm die Verantwortung für die von seinem Vater aufgebaute Mamma-Haidara-Bibliothek. Von nun an plädierte er dafür, die Handschriften auch weiter im Rahmen von privaten Familiensammlungen zu konservieren. Schließlich, so argumentiert der 47-Jährige, seien die Manuskripte über Jahrhunderte hinweg immer wieder von ihren Inhabern erfolgreich versteckt und gegen Begehrlichkeiten verschiedenster Art verteidigt worden.Wo genau die Handschriften seit der Evakuierung lagern, will Haidara nicht preisgeben. An einem geheimen Ort in der Hauptstadt Bamako werde unter Hochdruck und mit großem Enthusiasmus an der Digitalisierung der Dokumente gearbeitet. Finanziell unterstützen ihn dabei das deutsche Auswärtige Amt sowie Stiftungen aus Europa und den USA. „Die Digitalisierung“, sagt Haidara, „macht es heute möglich, auch getrennt lagernde Schätze einer breiten Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Das ist in Afrika noch wichtiger als in Europa, weil viel weniger Afrikaner die Chance zu Archiv- und Museumsbesuchen haben.“Haidara ist Vater von sechs Kindern. Bildung, das merkt man im Gespräch mit ihm, liegt ihm am Herzen. Die nachwachsenden Generationen benötigen seines Erachtens ein stärkeres Selbstwertgefühl, eine von Stolz auf die eigene Kultur geprägte afrikanische Identität. Auch dazu, glaubt er, könnten die Archive mit ihren Schriften beitragen, die im Schulunterricht und für Studierende an Universitäten durch das Internet zugänglich gemacht werden sollen. Er weiß, dass Mali von Ideen, wie sie in Europa bezogen auf das Archivwesen erörtert werden, weit entfernt ist.Anders als etwa in den Niederlanden, wo Bert Looper überzeugt ist, dass es innerhalb von 20 Jahren keine Archive mehr geben wird beziehungsweise dass sie in „Historische Zentren“ eingeschmolzen werden, wird Mali seine Archive noch Jahrzehnte behalten. Looper, der in Friesland Generaldirektor eines solchen Zentrums ist, zählt zu den prominenten Wortführern in der Debatte um die Zukunft des Archivwesens. In Mali steht zunächst mit großer Dringlichkeit ganz banal die Rettung der Manuskripte vor dem Zerfall zu Staub oder vor dem Verschimmeln auf der Tagesordnung. Einig ist Abdel Kader Haidara mit dem Kollegen aber darin, dass Archivare immer stärker Türhüter sein werden, deren vornehmste Aufgabe darin bestehen wird, neue Zugangsmöglichkeiten durch digitale vernetzte Datenbanken für künftige Generationen zu schaffen.