Der Zug aus New York hat an diesem Maitag Verspätung. Um 21.30 Uhr fährt er endlich in der Station 30. Straße ein. Ich nehme ein Taxi für die abendliche Heimfahrt, aber der Fahrer kennt sich nicht aus. "Bringen Sie mich zur Subway", sage ich, und er schaut mich und meine Taschen ungläubig an. Fünf Minuten später hält er neben einem Polizisten mit Hund. "Hier ist nicht die Subway", protestiere ich. "Aber hier ist ein Polizist", sagt er, so als würde das alles erklären. Ich will nicht streiten und steige aus. Auf meine Frage nach der U-Bahn bekomme ich Polizeischutz. Ich werde einem Bahnbeamten übergeben, der mich auf eine ziemlich lange Reise schickt.
Auf dem Bahnsteig ist kein Mensch. Langsam kriecht Beklemmung in mir hoch. Die Bahnsteige gähnen mich an wie schwarze Löcher. Jedes Geräusch lässt mich zusammenzucken. Als endlich ein Zug einfährt, ist aus der Beklemmung längst Angst geworden. Die Fahrgäste scheinen stumm. Ihre Lippen kleben aneinander. Sie starren vor sich hin oder andere an. Vier Stationen lang ertrage ich die Musterung aus einem halben Dutzend Augenpaaren. Dann steige ich aus.
Die Nacht - eine Horde Stiefel stürmt die Treppe herunter
Alle Berichte über die Subway in Amerika fallen mir ein. Töten sie ihre Opfer gleich, wollen sie nur ihr Geld oder vergewaltigen sie? Schritte kommen die Treppe zum Bahnsteig herunter, wippende Schritte in ausgetretenen Turnschuhen, die in ihrem Leben keinem Pflegemittel begegnet sind. Die Schnürsenkel fehlen. Wer steckt in solchen Schuhen? Es ist ein Junge mit einem Walkman auf den Ohren, so laut eingestellt, dass die schrille Musik mühelos durch die Bahnhofsstille zu mir dringt. Der Junge hat die Augen geschlossen und bewegt sich im Takt.
Giftgrüne Stöckelschuhe stolzieren die Treppe herunter mit Absätzen, die aussehen wie Bohrer. An dem Geschöpf, dem sie gehören, ist alles mager, bis auf den riesigen Mund. Dicke geschwollene Füße in Riemchen-Sandalen stampfen hinterher. Die passenden Beine stecken in pinkfarbenen fleckigen Hosen. Eine Frau von schwer zu schätzendem Alter stochert im Papierkorb herum, holt Cola- und Seven up-Dosen heraus, wirft sie in einen schäbigen Sack und zieht diesen scheppernd hinter sich her. Ihr Lärm ist wie ein Protest gegen die Stille.
Dann kommen schwarze gepflegte Halbschuhe mit Torero-Absätzen, die bei jedem Schritt lautstark auf den Stein schlagen. Hände stecken in Taschen. Was verbergen sie darin? Die glasigen Augen verraten es nicht. Schließlich stürmt eine Horde Stiefel die Treppe hinunter. Jetzt wird es ernst. Sie umringen den Jungen mit dem Walkman, reißen ihm das Gerät vom Kopf. Er wehrt sich nicht, duckt sich nur in Erwartung von Schlägen, die nicht kommen. Wann entdecken sie mich? Werden die Turtles gleich auftauchen und diese Spitzbuben zu einem handlichen Paket für die Polizei verschnüren? Wo sind sie, die grünen Gestalten, halb Teenager, halb Schildkröte, die von der Leinwand aus die Herzen der Kinder in der ganzen Welt erobert haben? Wann erscheinen sie, um mir zu helfen? Leonardo, Michelangelo, Donatello und Raphael - wo seid ihr? Ich bin nicht April O´Nell, die hübsche TV-Reporterin von Kanal 3, aber Journalistin bin ich auch und schutzbedürftig in diesem Moment allemal. Aber sie kommen nicht, die Hüter der Gerechtigkeit. Vielleicht sind sie an einem der zahllosen anderen Orte beschäftigt, an dem sich Menschen in diesem Land zur selben Zeit in Bedrängnis befinden.
Eine Ratte huscht von der Treppe ins Dunkle und verschwindet. Es ist nicht Splinter, der weise Führer der Turtles und Meister der japanischen Kampftechniken. Es ist einfach nur eine Ratte, und eine ziemlich kleine und dünne dazu. Die Armen Philadelphias lassen dem Ungeziefer offenbar wenig Abfälle übrig.
In den nächsten Zug steige ich ein und setzte mich zu einer schwarzen Familie, die mit einem einjährigen Kind unterwegs ist. Ich unternehme den krampfhaften Versuch zu lächeln. Sind die anderen nicht nur stumm, sondern auch blind? Keiner lächelt zurück. Dann endlich verzieht das Kind den Mund ein ganz klein wenig und streckt die Hände nach meiner Brille aus. Für Sekunden entspannen sich meine Muskeln. "Niemals jemanden nach dem Weg fragen!" hat man mir eingeschärft. Ich tue es dennoch. Wenn der Mann Recht hat, bin ich völlig falsch. Die Taschen an meinen immer länger werdenden Armen haste ich die Treppen hinauf, will einen Bahnbeamten fragen. Er sitzt hinter abgedunkelter Scheibe aus kugelsicherem Glas und nuschelt durch ein winziges Sprachloch unverständliches Zeug. Noch einmal reicht die Kraft zur Wut, und ich erhalte die Auskunft noch einmal, steige wieder in einen Zug und gelange gegen Mitternacht in einen Ort mit dem schönen Namen Fern Rock. Ein Zweieinhalb-Zentner-Mann schiebt sich und seinen enormen Bauch über den Bahnhof, der Revolver steckt sicher im Gurt, der Schlagstock schwingt angriffslustig in der Hand. Er ist kein Turtles, aber immerhin ein Ordnungshüter. Sein Anblick, so ekelerregend ich ihn in jedem Hollywood-Streifen auf einer Berliner Leinwand empfunden hätte, ist zu dieser mitternächtlichen Stunde geradezu erlösend. Die Auskunft, die ich kurz darauf von einem aufgeweckten jungen schwarzen Bahnbeamten erhalte, ist es nicht. Ich habe mich total verfahren und befinde mich eine gute halbe Autostunde von meinem Ziel entfernt. "Sie können hier nicht mehr weg", sagt er in einem Ton, der keinen Widerspruch duldet. "Haben Sie niemand, der Sie hier abholen kann?" Ich telefoniere. Hilfe ist unterwegs. Die Angst weicht der Erschöpfung, und ich zittere vor Kälte in der lauen Frühsommernacht von Philadelphia. Die letzte Hürde ist der Bahnhofsausgang. Auf den Bänken liegen ein paar Junkies herum. Wie im Zeitlupentempo fährt ein klappriger Straßenkreuzer vorbei auf der Suche nach Kundschaft. Der nächste Wagen hält. Es ist der, auf den ich gewartet habe. Ich bin der nächtlichen Subway Philadelphias entkommen.
Vielleicht ist es derselbe Zug, in den ich am nächsten Morgen steige, zusammen mit vielen anderen Damen und Herren, die auf dem Weg in die City sind. Sie haben ihre Honda, Toyota, Buick, und Cadillac am Bahnhof auf einem großzügig angelegten Parkplatz abgestellt und bevorzugen zur Weiterfahrt die bequeme Bahn, um diese Zeit fast ein Zug wie überall auf der Welt, mit Menschen, die zur Arbeit ins Büro fahren, Studenten auf dem Weg zur Universität, Touristen mit Einkaufsgelüsten, Leuten, die ununterbrochen reden müssen, wie aufgezogen, und solchen, die immer lesen und von einem unsichtbaren Geist stets im rechten Moment ans Aussteigen erinnert werden.
Und dann sind da welche, die selbst im Zug arbeiten, den Laptop auf den Knien, den Blick starr auf den Bildschirm oder auf Aktennotizen geheftet. Der Schaffner, der hier in Philadelphia noch von Abteil zu Abteil läuft, hat sich längst daran gewöhnt, dass sie ihre Fahrkarte irgendwo sichtbar befestigen, er sie nimmt, umständlich locht und dann zurücksteckt ohne ein Wort, ohne geringste Störung.
Der Tag - ein Flugzeug fliegt durch die Etagen
Ein dunkelhaariger Mann mit Dreitage-Bart verbringt die Fahrt in einer hektisch anmutenden und in deutsch geführten Debatte darüber, wo es zur Zeit die besten und billigsten Jeans gäbe und wo man noch eine preiswerte Unterkunft in New York bekommen könne. Er ist jetzt schon so nervös, als hätte ihn der deutsche Zoll bei der Einreise gerade gefragt, was er mit 100 Paar neuen Levis wolle. Die braunen Augen suchen unruhig nach einem Halt. Die Füße tun es auch. Einer trifft mich. Unser darauffolgender kurzer Wortwechsel mobilisiert meine Banknachbarin zu der Frage, ob ich etwa aus Deutschland sei. Meine zustimmende Antwort entlockt ihr Begeisterung. In wenigen Sätzen zeichnet sie das Bild von einem sauberen, korrekten Staat ohne Skandale, die den Bürger jeden Tag an der Politik zweifeln lassen. Die verbleibende Fahrzeit reicht nicht, um ihr die Illusionen zu nehmen, zumal sie prompt alle üblen Washingtoner Storys der vergangenen Jahre aufzählt, von miesen Geschäften mit US-Kriegsmaterial bis zu massiven Belästigungen von Frauen in der Armee.
Mitten in unserem Gespräch trifft mich ein aufgebrachter Blick aus der vorderen Reihe. Dann, abgewendet, spuckt ein grauhaariger Mann mit schmalem Gesicht seine Wut aus: "Immer noch besser ein paar Skandale als dieser Haufen Nazis in Deutschland - Ihr habt nämlich nichts gelernt", sagt er, dreht sich um und ist zu keinem weiteren Wort bereit. Er reflektiert im Grunde nur, was die US-Medien mindestens einmal pro Woche auf allen ihren Kanälen tun - an Hitler erinnern und zeigen, wie ungerührt die Masse der Deutschen zuweilen NPD-Aufmärsche und Ausländerfeindlichkeit hinnimmt. "You are wischi-waschi", kommentiert ein Jüngling meinen kläglichen Versuch der Erklärung und die Aufforderung, Deutschland etwas gerechter zu betrachten.
In dem Bewusstsein, nach der Überzeugung mindestens dieses jungen Mannes zu einem Wischi-Waschi-Volk zu gehören, das alles hinnimmt, steige ich aus. Es braucht schon den erhebenden Blick auf die Wolkenkratzer dieser Stadt, um diesen Gedanken fortzuschieben. Philadelphias Hochhäuser spielen das unendliche Spiel mit den sich verwandelnden Fassaden. Eben noch schaust du auf ein gläsernes Etwas und erblickst darin die Front des Rathauses, 50 Schritt weiter erschrickst du beim Blick zurück über den Wandel des altehrwürdigen Gebäudes in ein schäbiges Hotel, und Sekunden später - aus wieder anderer Perspektive - ist auch dies verschwunden, und es spiegelt sich nur noch blauer Himmel in den Scheiben. Wolken huschen von Fenster zu Fenster, ein Flugzeug fliegt durch die Etagen.
Nach einem Tag mit vielen Terminen haste ich am späten Nachmittag erneut zum Zug, der sich um die fünfte Stunde in der Grauzone zwischen anheimelnder Geschäftigkeit und angsteinflößender Leere befindet. Die silbergraue Schlange verlässt die City, bewegt sich schnell durch ein Industriegebiet mit dunklen, hässlichen Gebäuden. Verfallene Fabriken, bröckelnder Putz, zerschlagene Scheiben und Pyramiden von Schrott lassen kaum noch ahnen, dass dies einmal der Workshop der Welt war, die drittgrößte Metropole des britischen Empire. Eine in der feuchtwarmen Luft üppig gedeihende Vegetation deckt die abrissreifen Schandflecke der Stadt dürftig zu. Dann sind wir wieder in den Vororten, wo die Häuser durch Alarmanlagen geschützt sind und in vielen Gärten die amerikanische Flagge weht. Auf dem Bahnhof, der um diese Zeit noch belebt ist, ruft man sich ein "See you" zu, steigt ins Auto und fährt die letzten Meter nach Hause. - Wenn der Zug von der Endstation zurückkehrt, wird er ein anderer sein.
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