Reise ans Ende des Rechts

Kriminalität Die alltägliche Gewalt in Südafrika zermürbt die Gesellschaft. Viele fordern die Rückkehr zur Todesstrafe
Ausgabe 16/2013

Jeden Tag werden in diesem Land 42 Menschen umgebracht. Alle neun Minuten wird eine Frau vergewaltigt. Jeder dritte Mann bekennt sich laut einer von der Regierung in Auftrag gegebenen Studie zu mindestens einer Vergewaltigung in seinem Leben. Das sind zwar weniger Morde als noch vor zehn Jahren, 28 Prozent weniger laut Angaben der Polizei, aber es sind noch immer viel zu viele.

Kaum ein Tag vergeht, an dem in Südafrika nicht ein schweres Verbrechen auf einer der ersten Zeitungsseiten beschrieben wird. Die gefühlte Kriminalität ist höher als die tatsächliche. Die Medien tragen ihren Teil dazu bei, schwelgen bisweilen in der detailgetreuen Wiedergabe von Gewaltexzessen. Auf der anderen Seite geben sie den ansonsten anonymen Opfern Namen und ein menschliches Antlitz. Wohlhabende Südafrikaner aller Hautfarben flüchten sich heute noch öfter als vor zehn Jahren hinter Mauern und Elektrozäune und lassen ihr Anwesen von bewaffnetem Sicherheitspersonal schützen. In Johannesburg ist die Angst besonders groß.

Ich habe diese Stadt hinter mir gelassen und mich auf eine lange Fahrt durchs Land begeben. Die Morgenzeitungen mit der Meldung über die Vergewaltigung einer über 90-jährigen Frau sind im Hotel geblieben. Mein Bedarf an solchen Geschichten ist seit der wochenlang nicht abreißenden Berichterstattung über den Fall des Sportstars Oscar Pistorius mehr als gestillt. Pistorius, der seine Freundin versehentlich erschossen haben will, weil er sie für einen Einbrecher hielt, genoss anfangs noch die Verehrung eines Idols. Am Ende titelte die Tageszeitung Sowetan: „Er soll im Gefängnis verrotten!“

Nicht länger verstecken

Noch gibt es in diesem Land ein Leben fernab der Zäune, hinter denen die Angst wohnt, ein Leben mit Häusern, deren Türen offen stehen. Und wenn man vor diesen Türen steht, wird der Blick nicht durch Mauern abrupt gebremst, sondern kann in die Weite schweifen über üppiges Grün und rote Erde bis zu den Bergen am Horizont. Da will ich hin und fahre also nach Mpumalanga, will weiter nach KwaZulu-Natal bis hinunter in den tiefen Süden nach Kapstadt in der Provinz Western Cape. Jeden Tag, so weit, wie ich komme. Ich lasse zunächst alle Anhalter entlang der Straße stehen, egal wie sie gekleidet sind, egal wie ihre ausgestreckten Arme und winkenden Hände um eine Mitfahrgelegenheit bitten. Es gibt ja die Kleinbusse, beruhige ich mein rebellierendes Gewissen. Irgendeiner wird sie mitnehmen. Aber was bedeutet diese Verweigerung eigentlich? Ich unterstelle jedem einzelnen, er werde mich überfallen, mir mein Geld, mein Gepäck stehlen oder mir noch Schlimmeres antun. Es hilft auch nicht, dass ich mir sage, ich hielte auch in Deutschland nicht oft an, um Anhalter mitzunehmen. Ich weiß doch, wie sehr diese Menschen hier auf eine Mitfahrgelegenheit zur Arbeit oder in die nächste Stadt angewiesen sind.

Und dann steht sie da: eine junge, sehr schlanke Frau. Sie trägt ein gelbes T-Shirt zu einem langen, bunt bedruckten Rock. In der Hand hält sie ein Bündel. Sie winkt nicht. Sie schaut nur. Es ist, als würde ihr Blick durch die Frontscheibe in mein Herz dringen. Ich kann nicht anders und halte an. Sie will nach Port Shepstone, das liegt auf meinem Weg. Ich frage sie, ob sie dort arbeitet. Nein, sie wolle eine kranke Verwandte besuchen und gegebenenfalls deren Arbeit vorübergehend übernehmen, damit der Job nicht verloren geht. Ich erzähle ihr, dass ich eine deutsche Journalistin bin, die über ihr Land schreibt. Und ich gestehe, dass ich lange gezögert habe, jemanden mitzunehmen.

Zum Shopping in die Stadt

Nmonho – so ihr Name, den auszusprechen ich üben muss – verschränkt die Arme vor der Brust und schaut aus dem Fenster. Habe ich etwas Falsches gesagt? „So ist das in diesem Land“, sagt sie später mit Bitterkeit in der Stimme, „die Verbrechen geschehen scheinbar alle in den großen Städten. Tag für Tag wird darüber berichtet. Wir auf dem Land sind weitgehend unsichtbar. Glauben Sie, hier sei es besser?“

Und dann erzählt sie – von einer 13-Jährigen, die von einem Mann aus ihrem Dorf vergewaltigt wurde. Ihre Familie brachte sie ins Hospital und zur Polizei, aber niemand nahm sie ernst. Auch als sie genau sagen konnte, wo der Täter wohnte, wurde der nicht vernommen. Sie erzählt auch von einem fünfjährigen männlichen Vergewaltigungsopfer, dessen Mutter den Täter nicht mal anzeigte. Oder von einer 17-Jährigen, deren Onkel das Mädchen im Auto mitnahm, es unterwegs missbrauchte, dann zum Shopping in die Stadt und wieder nach Hause brachte. „Er wusste genau, ihm würde nichts passieren.“ Warum nicht?, will ich wissen. Die Täter seien oft Familienmitglieder oder Landsleute aus einer anderen Provinz. Die liefere man nicht aus. „Oder man ist abhängig. Nicht selten ist der Täter derjenige, der das Geld nach Hause bringt.“ Die meisten Männer fänden es ganz normal, eine Frau auch gegen ihren Willen zu nehmen.

Während Nmonho erzählt, ist ihre Stimme lauter geworden, sie wirkt nun gar nicht mehr zart und schüchtern. „Wir müssen das machen wie in Indien. Die Frauen dort lassen sich das auch nicht länger gefallen.“ Ich bin überrascht, dass sie davon gehört hat und noch überraschter, als sie von einer Selbsthilfegruppe erzählt, in der sich Frauen vereint haben, um Opfern Mut zu machen gegen männliche Übermacht in einer patriarchalischen Gesellschaft. Solche Gruppen gibt es überall im Land. So berichtete die Zeitung New Age über Frauenaufruhr in der Nähe von Kroonstad. Dort war auch ein Mann aufgetreten. „Als Väter müssen wir uns verändern und damit unseren Kindern ein gutes Beispiel geben für das Verhältnis zwischen beiden Geschlechtern“, wurde er zitiert. Es gab viel Beifall.

An einer Tankstelle machen wir eine Pause, und ich lade sie zum Tee ein. Danach will ich nichts mehr hören von Vergewaltigungen, weil es so zornig und hilflos macht. Wie viele Jahre wird es brauchen, bis eine neue Generation von Männern heranwächst, die ein anderes Frauenbild in sich trägt? Wie viel Bildungsarbeit wird dazu nötig sein? Wie viel ökonomischer Fortschritt? Wie hatte doch Ray McCauley vom National Religious Leaders Council gesagt? „Vergewaltiger sind auch Erziehungsprodukte; einige besuchen regelmäßig die Kirche oder eine Moschee. Was hören sie dort über die Würde der Frau und die Heiligkeit des Lebens?“

Ich schalte das Radio ein. Vielleicht bringt es uns auf ein erfreulicheres Thema. Auf SAFM, einem Nachrichtenkanal, läuft der Morning Talk, der sich mit der Frage beschäftigt, ob Südafrika die Todesstrafe wieder einführen sollte. Sie wurde nach dem Ende der Apartheid mit der 1996 verabschiedeten Verfassung abgeschafft. Ich will einen anderen Sender suchen. „Bitte nicht“, sagt Nmonho ganz leise. „Viele Menschen denken, das sei die einzig richtige Antwort auf die ganze Gewalt.“ An der Talkrunde nehmen ein Pfarrer, eine Meinungsforscherin und jemand aus dem Justizministerium teil. Bald schalten sich diverse Hörer in die emotionsgeladene Debatte ein. Die Demoskopin erzählt, dass bei einer Umfrage unter 7.000 Jugendlichen über 70 Prozent für die Todesstrafe plädierten. Die Zahl der Befürworter wachse unter dem Eindruck der Kriminalität stetig, nicht nur unter Jugendlichen. Der Pfarrer, einst führendes Mitglied in der 2005 aufgelösten National Party, argumentiert mit dem Alten Testament. In der Bibel stehe ganz eindeutig, dass jemand, der einem anderen Menschen das Leben nimmt, dafür mit dem eigenen Leben zahlen müsse. Die Mehrheit der Befürworter hoffe ja, dass härtere Strafen weniger Verbrechen zur Folge hätten. Ihm gehe es nur um das „Auge-um-Auge-Prinzip“. Vergeblich verweist ein Vertreter des Justizministeriums auf die allgemeine Erfahrung, wonach Todesurteile nirgendwo zu weniger Tötungsdelikten geführt hätten. Hörer wenden empört ein, das sei schließlich noch kein Beweis dafür, dass es in Südafrika nicht funktionieren werde. Wenn eine Mehrheit das wolle, müsse sich ein demokratischer Staat danach richten.

Wen will Zuma beruhigen?

Und wie denkt meine Mitfahrerin darüber? „Manchmal wünsche ich den Kerlen schon den Tod, von denen ich weiß, dass sie jemanden vergewaltigt haben. Danach ist keine Frau mehr die, die sie vorher war. Das ist, als habe man die Person umgebracht. Aber dann stelle ich mir vor, ein paar von den Jungen oder Männern, die bei uns Mädchen vergewaltigt haben, würden deshalb zum Tode verurteilt. Dann sehe ich ihre Mütter weinen, und ich sehe die Mädchen, denen es durch den Tod der Täter ja nicht besser ginge. Polizeiliche Verfolgung – ja, Bestrafung – ja, aber den Tod? Ich denke, das würde uns allen nicht helfen.“

Der Morning-Talk wird alle halbe Stunde von Nachrichten unterbrochen. Gleich zu Beginn geht es um den Mord an einem ANC-Politiker. Als Verdächtiger sei jetzt ein anderer ANC-Politiker verhaftet worden. Die nächste Meldung befasst sich mit dem Prozess gegen die Polizisten, die für den Tod eines mosambikanischen Taxifahrers verantwortlich gemacht werden. Zudem wird über eine von Ausschreitungen begleitete Demonstration berichtet. Hörer der Talk-Sendung reagieren sofort auf die Nachrichten.

Aus der Debatte über die Wiedereinführung der Todesstrafe wird schnell ein Streit über Gewalt ganz allgemein: Gewalt als Mittel im Kampf gegen politische Gegner, Gewalt in der Familie, Gewalt durch die Polizei, die eigentlich für Ordnung und Frieden sorgen soll. Stattdessen sind mehr als 500 Fälle bei Gericht anhängig, in denen Polizisten des Mordes und anderer schwerer Verbrechen angeklagt sind. Das Forschungszentrum CSVR warnt vor einer Rückkehr zu den Tagen der Apartheid, als die Polizei traurige Berühmtheit wegen ihrer Brutalität im Umgang mit schwarzen Bürgern und politischen Aktivisten erlangte. Einige Hörer sehen in der allgemeinen Gewalt ein Erbe aus dieser Zeit. Diesen Nachlass gibt es, aber viele Täter von heute haben die Apartheid nicht erlebt. Sie erklärt also bei Weitem nicht jegliche Gewalt und entschuldigt sie schon gar nicht.

Nmonho ist eingeschlafen. Ich schalte das Radio ab und genieße die Stille, das Licht, den Himmel über den türkis- oder sandfarbenen Häusern und den Blick auf den Indischen Ozean. Am Reiseziel wecke ich sie ganz vorsichtig. Hat sie eine Adresse? Ja, aber ich solle sie nicht dorthin fahren. Den Rest schaffe sie allein. Wir umarmen uns. Was weiß ich nach den wenigen Stunden unserer gemeinsamen Fahrt über sie? Nicht einmal, ob sie selbst auch vergewaltigt wurde. Ich habe mich nicht getraut, das zu fragen.

Tage später lese ich im Citizen, Präsident Jacob Zuma habe im Gespräch mit traditionellen Führern davor gewarnt, von Südafrika ein Bild zu zeichnen, in dem Verbrechen dominierten. „Im Großen und Ganzen sind wir ein friedliebendes Volk.“ Die Südafrikaner dürften das Vertrauen in ihre eigene Menschlichkeit und in ihre Fähigkeit zur Veränderung nicht verlieren. Er verwies auf die stetig sinkende, wenn auch noch immer zu hohe Zahl an Straftaten. Er habe deshalb nicht nur eine konsequente Verfolgung der Täter, sondern auch Prävention angeordnet. „Wir bauen eine Kultur der Verantwortung und des gegenseitigen Respekts auf.“

Wen wird er damit beruhigen? Die eigenen Bürger? Oder eher sich selbst?

Christa Schaffmann ist freie Autorin und hat längere Zeit den Süden Afrikas bereist

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