Aus Heldinnen der Nation wurden IWF-Jungfrauen

ASIENKRISE / FRAUEN In Südkorea werden erwerbslose Frauen bei der Arbeitslosenstatistik nicht mitgezählt, wenn sie verheiratet sind

Ökonomen gaben bereits in diesem Frühjahr Entwarnung: Der Tiger sei wieder auf dem Sprung, in Südkorea strahle die Morgenröte nach dem Tunnel der Asienkrise wie in keinem anderen krisenerschütterten Land. Anderthalb Jahre nach dem Crash im November 1997 legte die südkoreanische Wirtschaft einen spektakulären Erholungssprint vor. IWF-gestützt konnte sie einen sechsprozentigen Aufschwung aufweisen. Ausländische Investoren strömen ins Land. Soweit die Lesart von Ökonomen und Börsenbeobachtern.

Chol Soon Rhie hat eine andere. Ihre Informationsbasis sind nicht Aktienkurse und offizielle Wachstumsquoten, sondern Hunderte von Telefonanrufen pro Tag. Der Dachverband Koreanischer Arbeiterinnenvereinigungen, deren Vorsitzende Chol Soon Rhie ist, hat in vier Städten ein IWF-Krisen-Zentrum eingerichtet, wo Frauen beraten werden: Frauen, die monatelang ihren Lohn nicht ausgezahlt bekamen, denen ihre Überstunden nicht honoriert werden, die zur Kündigung gedrängt werden, denen bei der "freiwilligen Frühpensionierung" eine Abfindung versprochen wurde, die sie nie bekamen, Alleinerziehende, die ihren Job verloren haben und nicht mehr wissen, wie sie ihre Kinder satt kriegen können.

Zuverdienerin und temporäre Arbeitsmarktreserve
Diese Frauen sind es, auf deren Rücken die Krise ausgetragen und saniert wird. Acht von zehn Beschäftigten, die zu Beginn der Krise zur "freiwilligen" Kündigung aufgefordert wurden, waren Frauen. Fabriken, Banken und andere Unternehmen folgten einer klaren Rangordnung bei den Entlassungen: zuerst verheiratete Frauen mit Kindern, dann verheiratete Frauen ohne Kinder, danach ledige Frauen und erst zum Schluss Männer.

Mit Rückgriff auf den Mythos des Familien ernährers wurden bei der Verschlankung der Betriebe zunächst verheiratete Frauen nach Hause geschickt. Das führte zur Geburt einer neuen Spezies von Arbeiterinnen, den sogenannten "IWF-Jungfrauen" - junge Frauen, die sich als ledig ausgaben oder ihre Hochzeit aufschoben, um ihren Job zu behalten. Nachdem Frauen in den siebziger und achtziger Jahren, als sie den Wirtschaftsboom des Landes erarbeiteten, als "Heldinnen der Nation" und "Soldatinnen des Exports" gefeiert wurden, schürten Medienkampagnen nun in der Öffentlichkeit erneut die Meinung, dass Frauen, vor allem verheiratete, lediglich "Zuverdienerin" und temporäre Arbeitsmarktreserve sind. "Wir dachten", sagt Chol Soon Rhie "das alte Muster ›zuletzt geheuert, zuerst gefeuert‹ hätte sich historisch überlebt. Aber jetzt sind wieder Zurück-an-den-Herd-Parolen zu vernehmen."

63 Prozent aller Frauen arbeiten in Kleinbetrieben mit höchsten fünf Beschäftigten. Vor allem solche Klein- und Mittelunternehmen hat die Krise in Konkursgefahr befördert. Sie specken ab, verlangen von den verbliebenen Arbeitskräften unbezahlte Überstunden, zahlen fällige Löhne nicht aus oder setzen Familienmitglieder unbezahlt ein.

Laut offiziellen Statistiken liegt die Erwerbslosenquote jetzt knapp unter der zehn Prozent-Schwelle. Darüber kann Chol Soon Rhie nur lachen: "Wer auch nur eine Stunde im Monat arbeitet, kommt nicht in die Statistik und erwerbslose Frauen, die verheiratet sind, zählen auch nicht." Sie schätzt die Quote auf 20 Prozent, und den Frauenanteil auf mindestens die Hälfte.

Die Krise wirkt wie ein Motor, der in rasantem Tempo die Arbeitsmärkte umstrukturiert - ein Prozess, der bereits durch die Automatisierung vor der Krise begonnen hatte, aber jetzt immens beschleunigt ist. Die Zahl der Vollbeschäftigten sinkt, während die Zahl der informell Beschäftigten ebenso steigt wie die Zahl unbezahlt mitarbeitender Familienangehöriger. Zwischen 1995 und 1998 verdoppelte sich nahezu die Zahl der Teilzeitarbeitenden, fast 80 Prozent davon Frauen.

Einige der Betriebe boten den Frauen bei der Kündigung gleich einen Job als Teilzeit- oder Gelegenheitsarbeiterin an - mit erheblichen Schönheitsfehlern: Der Stundenlohn liegt etwa 30 Prozent niedriger als der alte Tariflohn, kein bezahlter Urlaub, selten Kranken-, Unfall- oder Rentenversicherung. Andere Frauen gingen zu privaten Arbeitsvermittlern oder Leiharbeitsfirmen und wurden von denen erneut an ihren alten Arbeitgeber als Tagelöhnerin vermittelt. Sie verdienen mit der gleichen Arbeit jetzt noch 60 Prozent des vorherigen Einkommens.

Durch den gesamten Dienstleistungssektor geht ein kapitaler Ruck, mit dem sich informelle Beschäftigungsverhältnisse ausbreiten. Im Finanz- und Versicherungssektor wird Vollbeschäftigung systematisch in Teilzeitarbeit heruntergebrochen. Fast alle Teilzeitarbeitenden in Banken sind Frauen. Das Absurde ist, dass sie fast genau so viele Stunden arbeiten wie ihre vollbeschäftigten männlichen Kollegen - allerdings geringer entlohnt und sozial ungesichert. Das zeigt, dass es den Finanzinstituten nicht primär um Flexibilisierung geht, sondern um Herstellung billigerer und ungeschützter Beschäftigungsverhältnisse.

"I'm fired"-Haltung überwinden und Beschäftigungsprogramme auflegen
Seit die Entlassungswelle auch die männliche Stammbelegschaft erfasst hat, nehmen die Hilferufe von Frauen bei der bekannten Korean Women's Hotline, einer Unterstützungsorganisationen für Frauen, die männlicher Gewalt in der Familie oder anderswo ausgesetzt sind, zu. Sie spiegeln, wie unterschiedlich Männer und Frauen den Erwerbslosenschock verarbeiten. Frauen versuchen sehr schnell, irgendeine andere Verdienstmöglichkeit aufzutun, egal ob schlechter bezahlt oder unter ihrem Qualifikationsniveau. Männer reagieren dagegen tief gekränkt auf ihre Entlassung und ihre Identität, die in dem Selbstverständnis als "Firmen-Mensch" ankerte, kollabiert. Korean Women's Hotline verbucht einen deutlichen Anstieg von ernsten Ehekrisen, von Gewalt gegen Frauen und Kinder und von Scheidungen. Gleichzeitig lief in den Medien eine Kampagne, um Frauen zu mobilisieren, ihre psychisch destabilisierten Männer wieder "aufzumuntern".

Die Organisation fürchtet sogar, dass sich die sozialen Auswirkungen der Krise noch verschärfen werden. Familien von entlassenen Mittelschichtsmännern leben jetzt noch von der Kompensation, die diese bekommen haben. Wenn die aufgebraucht ist, beginnt die Not. Im letzten Winter war die neue Armut bereits überall sichtbar: Obdachlose in der U-Bahn in Seoul, Bettlerinnen am Straßenrand.

KWAU, ein Dachverband von Frauenorganisationen, setzte bei der Regierung durch, dass 10.000 erwerbslose Alleinerziehende im Winter Unterstützung aus einem Sozialfonds bekamen, was sie und ihre Kinder wenigstens vor dem Hungern bewahrte. Ein Fünftel der erwerbslosen Frauen sind "Haushaltsvorstand" und Alleinverdienerinnen. Jetzt drängt KWAU die Regierung, Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen für Frauen einzuführen. Bisher gab es Beschäftigungsprogramme nur für Männer. Der Verband der Arbeiterinnen-Vereinigungen bietet Frauen Fortbildungskurse an. Nicht nur für Computer-Training und hausarbeitsnahe Kurse wie Blumenstecken und Kochen ist die Nachfrage groß, sondern auch für Nähkurse - erstaunlicherweise von Frauen, die zehn oder fünfzehn Jahre lang in der Bekleidungsindustrie für den Export gearbeitet haben. Dort machten sie jedoch tagaus tagein nichts anderes, als Millionen Nähte von Kleidern und Hemden zu schließen. Nun wollen sie endlich lernen, ein ganzes Kleid oder eine Hose zu schneidern, um eventuell auch selbständig arbeiten zu können.

Das Unterstützungsnetzwerk für Frauen, dass verschiedene Frauenorganisationen in Südkorea als Reaktion auf die Krise aufgebaut haben, wird engmaschiger. Es drängt die Regierungen, gegen die systematische Benachteiligung von Arbeiterinnen in der Privatwirtschaft einzuschreiten und hilft Frauen, von einer "I'm fired"-Haltung ("Ich bin gefeuert worden") zu einer "I'm fighting-Haltung" ("Ich kämpfe") zu kommen. Die soziale Krise ist jedenfalls in Korea noch keineswegs überwunden, auch wenn die Aktienkurse wieder klettern. Im Gegenteil: Es zeichnet sich ab, dass die Krise die Gesellschaft polarisiert und eine neue soziale Ungleichheit geschaffen hat. Höchstwahrscheinlich nicht vorübergehend, sondern auf Dauer.

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