Auf dem Kongress der Redenschreiber, der dieser Tage in Berlin stattfand, trug Christa Wolf diesen Text vor, den wir auszugsweise veröffentlichen.
An dem Tag, an dem ich beginne, diese Rede niederzuschreiben, hörte und sah ich folgende Meldungen: Antrittsrede eines der nominierten Präsidentschaftskandidaten der USA. »Auf einem Parteitag der unkritischen Reflexion und Huldigung«, so ein Kommentator, soll »eine einzige Rede zur Realität zurückführen«; was zwar nicht geschieht, aber es sei eine »gut geschriebene, wenn auch nicht perfekt vorgetragene Rede« gewesen, und vor allem: »Zur besten Fernsehzeit über die Sender gegangen.« Ein beträchtliches Team von Redenschreibern wird lange an diesem Text gearbeitet haben.
Am Abend in den Fernsehnachrichten: Die Shell-Mitarbeiter, die von jungen Anwohnern des Niger-Deltas als Geiseln genommen wurden, sind unversehrt wieder frei. Auf dem Bildschirm erscheint ein Dorfältester, ein würdevoller schwarzer Mann, der sagt: Unser Problem ist: Wir haben keine Stimme. - Die Region ist durch die rücksichtslose Ausbeutung ihres Reichtums Öl durch einen global agierenden Konzern zerstört, ihre Menschen sind ins Elend getrieben worden. Sie haben keine Stimme. Wir hören sie nicht.
Derselbe Tag: Ein Abgeordneter von Bündnis 90/Die Grünen meint, auf der Festveranstaltung zum zehnten Jahrestag des Beitritts der DDR zur Bundesrepublik Deutschland dürfe der frühere Bundeskanzler nicht als Redner auftreten. Wir haben erlebt, wie intensiv um diesen Punkt gestritten wurde.
Dass politische Reden nicht nur von Politikern gehalten werden, wird auch mein Beitrag belegen. Doch wer zu wem worüber öffentlich sprechen darf, wird in der parlamentarischen Demokratie kaum dem Zufall überlassen. So war es kein zufälliger Lapsus, dass zum zehnten Jahrestag des Mauerfalls im Bundestag ursprünglich kein Redner aus der DDR vorgesehen war. Der Vertreter der DDR-Bevölkerung war vergessen worden aus dem gleichen Grund, aus dem der Bundeskanzler im Frühsommer vor dem Parlament zu den in den neuen Bundesländern gleichbleibend hohen Arbeitslosenzahlen bedauernd sagte: Die sind leider noch nicht so weit wie wir.
Ein solcher Satz hätte im Deutschen Bundestag, denke ich, zu einer aufrichtigen Debatte um den mentalen Stand der deutschen Einheit führen können, mit Rede und Widerrede, mit dem Bekenntnis zu den Fremdheitsgefühlen auf beiden Seiten, auch zu Zorn und Enttäuschungen, eine Debatte ohne Unterstellungen und mit dem Mut der Rednerinnen und Redner, ohne Rücksicht auf Fraktionszwang und auf die eigene Klientel ihre Meinung zu sagen. Womit ich diese meine Wunschvorstellung von »Rede als Dialog« selbst in das Reich der Utopie verwiesen hätte. Die Reden, die wir am 3. Oktober hören werden, werden von anderer Art sein.
Ein Wort habe ich mit unserem Thema zusammengebracht, das Sie vielleicht verwundert hat: Empfindung. 1977 hat der Literaturwissenschaftler Hans Mayer, den ich einen meiner Lehrer nennen darf, in Nürnberg eine Rede gehalten, der er die Überschrift gab: »Das deutsche Selbstempfinden.« Er leitet das merkwürdig schwache Selbstgefühl von uns Deutschen, das sich in Selbsthass äußern oder zu Nationalismus aufblähen und in Hass und Gewalt gegen unsere Nachbarn, gegen Fremdes und Fremde ausbrechen kann, aus unserer Geschichte her - aus jener »deutschen Misere« seit den Bauernkriegen, die die Herausbildung einer nationalstaatlichen Basis bei den Deutschen verhindert hat - anders als bei Franzosen und Engländern. Als bei unseren westlichen Nachbarvölkern eine neue Welt mit einer großen Blüte der Kultur sich gegen das Mittelalter durchsetzte, standen, sagt Hans Mayer, die »Gedanken und Empfindungen« der deutschen Schriftsteller und Philosophen allzu oft »im Schatten einer politischen und gesellschaftlichen Niederlage«, und »im Gegensatz zu den politischen Ordnungen«. Dieser frühe Dualismus von Geist und Macht hat das deutsche Selbstempfinden an der Wurzel geschädigt, bis heute, behaupte ich.
Das deutsche Selbstempfinden sammelte sich im deutschen Untertan - ein Typ, den die Literatur aufzuspüren und zu schildern begann, der sich von da an unheilvoll durch die Jahrhunderte zieht und mit dem deutsche Politiker, auch als Redner, rechnen mussten und wohl auch noch müssen: In seiner heutigen Ausformung begründet er sein Ressentiment gegen deutsche Staatsbürger anderer Herkunft mit seinem »deutschen Blut« und seiner Angst vor »Überfremdung«. Und weiß nicht, dass seine heutigen irrationalen Vorurteile in jenes 17. Jahrhundert zurückreichen, in dem Deutschland es versäumte, einen modernen Rechtsstaat wie in England und Frankreich zu entwickeln.
Reden, wie die Franzosen sie zu hören kriegen, werden in Deutschland fast nicht gehalten; eine hoch interessante Ausnahme muss ich nennen. »Mitbürger!« hebt der Naturwissenschaftler, Weltreisende, Schriftsteller Georg Forster seine »Rede über die Vereinigung des rheinisch-deutschen Freistaats mit der Frankenrepublik« an. Zeit der Handlung: März 1793; Ort der Handlung: Mainz. Forster, Präsident des Jacobiner-Clubs, spricht als Abgeordneter des »Rheinisch-deutschen Nationalkonvents«, des ersten modernen Parlaments auf deutschem Boden, aus der revolutionären Bewegung in den Rheinländern hervorgegangen. Der »jungen Freiheit« aber »drohen die Myrmidonen der Despoten«, sprich die Koalitionstruppen der deutschen Landesherren. Forster sieht keine Rettung als den Anschluss der Rheinlande an das »freie Volk der Franken«.
Georg Forster reiht sich ein in die Reihe der an den deutschen Zuständen gescheiterten Schriftsteller, an die fast anderthalb Jahrhunderte später eine andere Mainzerin, Anna Seghers, Kommunistin, Jüdin, ebenfalls im Exil in Paris, erinnern wird. Sie spricht 1935 vor dem Kongress zur Verteidigung der Kultur als deutsche Emigrantin zu 250 Schriftstellern aus 38 Ländern über den unsäglich missbrauchten Begriff »Vaterlandsliebe«. Sie entmythologisiert ihn, indem sie ihn auf seinen sozialen Inhalt prüft: »Fragt erst bei dem gewichtigen Wort ÂVaterlandsliebeÂ, was an eurem Land geliebt wird. Trösten die heiligen Güter der Nation die Besitzlosen? Tröstet die ÂHeilige Heimaterde die Landlosen?« Und sie blickt auf dreihundert Jahre deutscher Literatur zurück und erinnert an das Scheitern so vieler bedeutender deutscher Schriftsteller an den unentwickelten Verhältnissen. »Keine Außenseiter und keine schwächlichen Klügler gehören in diese Reihe«, sagt sie, »sondern die Besten: Hölderlin, gestorben im Wahnsinn, Georg Büchner, gestorben durch Gehirnkrankheit im Exil, Karoline Günderode, gestorben durch Selbstmord, Lenz und Bürger durch Wahnsinn. Das war hier in Frankreich die Zeit Stendhals und später Balzacs. Diese deutschen Dichter schrieben Hymnen auf ihr Land, an dessen gesellschaftlicher Mauer sie ihre Stirne wund rieben. Sie liebten gleichwohl ihr Land.«
Georg Büchner muss nach Belegen für große neuzeitliche Redekunst in französischen Archiven suchen, in den Protokollen vom französischen Nationalkonvent und vom Revolutionstribunal. Sie zitiert er in seinem Revolutionsstück »Dantons Tod« - Texte, die er keinem deutschen Redner unterschieben könnte, lässt er Robespierre, St. Just und schließlich Danton sprechen: »Ich werde mich in die Zitadelle der Vernunft zurückziehen, ich werde mit der Kanone der Wahrheit hervorbrechen und meine Feinde zermalmen.«
Diese Sprache kennt das deutsche Biedermeier nicht. Doch langsam, langsam zieht der deutsche Michel sich die Nachtmütze vom Kopf, und nun werden auch wieder freiheitliche Reden gehalten. Freiheit! Einheit!, rufen die Märzrevolutionäre, in der Paulskirche in Frankfurt am Main diskutieren sie über eine Verfassung für einen deutschen Bund. Wie die Achtundvierziger Revolution endete, wissen Sie. Die Revolutionäre rollten ihre Fahnen ein. Ist Ihnen auch bewusst, dass noch einmal, etwas mehr als hundertvierzig Jahre später, 1991, in der Frankfurter Paulskirche deutsche Frauen und Männer aus Ost und West den Entwurf einer Verfassung für einen »demokratisch verfaßten Bund deutscher Länder« diskutierten? »Verfassungsgebung ist ein Ausdruck gemeinsamer Selbstfindung«, heißt es in der Paulskirchenerklärung vom Juni 1991. Ja: Hier ist das deutsche Selbstempfinden einmal auf der Höhe der Zeit. Der vernünftige Bürger, die vernünftige Bürgerin artikulieren in öffentlicher Rede ihre Interessen. Vergebens, wie Sie sich wohl erinnern. Der Einigungsprozess der Deutschen verlief in repräsentativ-, nicht in basisdemokratischen Bahnen. - 1992 war ich einmal im Zeughaus in Berlin Unter den Linden in jenem Raum, in dem wiederum eingerollt die Spruchbänder und Plakate von der Demonstration am 4. November 1989 auf dem Alexanderplatz lagerten - einst beredte, nun verstummte Zeugen einer Volkserhebung.
»Reden ist Führung«? Da kommt es doch darauf an, wer führt, und wohin. Zwar verstummen die Stimmen der Vernunft in Deutschland auch in der Weimarer Republik nicht, bis sie außer Landes gejagt werden; doch das nach dem Ersten Weltkrieg tief verunsicherte, tief gedemütigte, fehlgeleitete deutsche Selbstempfinden neigt sich immer mehr jenen Stimmen zu, die ihm schmeicheln, die es mit Größenphantasien füttern und seine ohnmächtige Wut auf irrationale Ziele lenken. Es wird Sie kaum verwundern, dass ein Mann namens Adolf Hitler sich in seinem Buch »Mein Kampf« zu unserem Thema Gedanken gemacht hat. Ihm schwant, »daß alle gewaltigen, weltumwälzenden Ereignisse nicht durch geschriebenes, sondern durch das gesprochene Wort herbeigeführt worden sind«. Die bürgerliche Intelligenz protestiere gegen eine solche Auffassung ja nur, weil ihr selbst die Kraft und Fähigkeit der Massenbeeinflussung durch das gesprochene Wort ersichtlich fehle. »Die ganze Zeitungsflut und alle Bücher gleiten an den Millionen der unteren Schichten ab wie Wasser vom geölten Leder«, glaubt Hitler. Die »Beeinflussung der Willensfreiheit der Zuhörer« ist sein erklärtes Ziel.
Reden ist, nicht so selten, Verführung. Das deutsche Selbstempfinden unter Hypnose. Da hat der »Appell an die Vernunft«, den Thomas Mann noch 1930 versucht, keine Chance. »Ist das deutsch?« fragt er sich entgeistert angesichts der »Riesenwelle exzentrischer Barbarei«, der sich die Deutschen unterwerfen, und er beschwört sie, sich selber Mut machend: »Die Würde eines Volkes wie des unsrigen kann nicht die Einfalt, kann nur die Würde des Wissens und des Geistes sein, und die weist den Veitstanz des Nationalismus von sich.« Aber die zivilisatorischen Werte, die Thomas Mann anmahnt, haben ihre Bindekraft bei den Massen verloren. Seine heute berühmte Folge von Reden, »Deutsche Hörer!«, muss er aus der Emigration in Kalifornien über den Rundfunk nach Deutschland schicken, nur wenige wagten, sie zu hören. Die erste Rede, die der Autor wieder auf deutschem Boden halten kann, ist seine »Ansprache im Goethejahr«, im Juli 1949 in der Frankfurter Paulskirche, im August im Weimarer Nationaltheater; da ist, als Folge deutscher Geschichte, Deutschland gespalten, und der deutsche Dichter, der es für nötig und möglich hält, nicht nur dem Westen, auch der »Ostzone« sein Bild von Goethe vorzutragen, ist eben deshalb wüsten Beschimpfungen ausgesetzt. In manchen Dingen ist das deutsche Selbstempfinden, gerade weil es gespalten ist, hoch sensibel.
Vierzig Jahre lang wird es in zwei unterschiedlichen Ausformungen vorkommen, und es wird, in der westlichen Hälfte, eher gepflegt, in der östlichen offiziell zunehmend geleugnet werden. Ein Dichter wiederum, Bertolt Brecht, bringt 1952 diesen Zustand und den Vorschlag zu seiner Überwindung auf acht Zeilen:
O Deutschland, wie bist du zerrissen
und nicht mit dir allein!
In Kält' und Finsternissen
Läßt eins das andre sein.
Und hättst so schöne Auen
Und reger Städte viel;
Tätst du dir selbst vertrauen
Wär alles Kinderspiel.
Reden ist auch Kampf um Deutungsherrschaft. Dieser Kampf wurde in den beiden Deutschländern in einer Unzahl von Reden ausgetragen; es könnte erhellend sein, dieses Ringen um Deutungshoheit über die Geschichte durch eine Gegenüberstellung bezeichnender Reden ost- und westdeutscher Politiker zu belegen. Aus eigener Erfahrung kann ich bezeugen, dass Reden hochgestellter Repräsentanten in der DDR als wichtige Dokumente behandelt wurden, die zu kritisieren ein Sakrileg war, und: Je tiefer die Widersprüche einer Gesellschaft, je weniger die Herrschenden bereit sind, sie wahrzunehmen, sie zu benennen, an ihrer Lösung zu arbeiten, desto nötiger wird eine Lebenslüge gebraucht, sie zu übertünchen, desto hohler, desto pathetischer werden die Reden ihrer Repräsentanten. Und je realitätsgerechter ein Politiker denkt und handelt, desto unprätentiöser kann er sprechen. Im August 1970 sagte Willy Brandt, damals Kanzler der Bundesrepublik Deutschland, in Moskau bei Abschluss jenes Vertrages, der die Unverletzlichkeit der europäischen, also auch der deutschen Ostgrenzen festlegte: »Dieses Jahrhundert - von Blut und Tränen und harter Arbeit gezeichnet - hat uns Nüchternheit gelehrt.« Und er wendet sich an die zu erwartenden Kritiker im eigenen Land: »Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger, mit diesem Vertrag geht nichts verloren, was nicht längst verspielt worden war.« Mit diesem schlichten Satz mutet er seinen Deutschen das vielen noch schwer einsehbare Fazit einer geschichtlichen Epoche zu.
Unter den Reden, die in meinem Leben eine Rolle gespielt haben, kann ich bezeichnenderweise nicht nur deutsche Reden nennen, sondern muss die Rede von Nikita Chrustschow auf dem XX. Parteitag der KPdSU erwähnen mit ihren Enthüllungen über die Verbrechen des Stalinismus, eine Rede, die zwar - dies ist ja das Schicksal vieler Reden und vieler Redner - nicht die notwendigen gesellschaftlichen Konsequenzen zeitigte, aber bei vielen nicht nur in der DDR eine tiefe Erschütterung hervorrief und kritisches Denken provozierte. Als Zeugnisse für die immense Bedeutung von Reden auch in der Lebenszeit meiner Generation können auch die Reden von Michael Gorbatschow gelten, die an Nüchternheit nichts zu wünschen übrig ließen und gerade dadurch Hoffnungen weckten, die ihr Träger allerdings nicht einlösen konnte. »Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben« - dieser ihm zugesprochene Satz kann auch über seinen eigenen politischen Bemühungen stehen. Er sprach ihn Anfang Oktober 1989 in der Nähe des Alexanderplatzes in Berlin, wo sich schon die Demonstranten rüsteten. Es begann eine der seltenen Volkserhebungen in der deutschen Geschichte, die jene, die daran teilnahmen, zu besonnen und reif politisch Handelnden und oft auch zu überzeugenden Rednern machte. Für kurze, unvergessliche Wochen fiel das »deutsche Selbstempfinden« - oder sage ich richtiger: das ostdeutsche Selbstempfinden? -, mit der Forderung des Tages zusammen. »Wider den Schlaf der Vernunft« hieß eine große Veranstaltung der Berliner Intellektuellen in einer Kirche, ein Redemarathon über viele Stunden. Vernunft waltete bei den Demonstrationen, aber auch Witz, Heiterkeit, Sarkasmus, Humanität und, ja, endlich: jenes Selbstvertrauen, an dem es uns in unserer Geschichte so oft gemangelt hat. Von diesem Selbstvertrauen getragen, artikulierten die Rednerinnen und Redner die Forderungen des Souveräns, des Volkes, und »führten das Land zur Realität zurück«.
Ja: Wenn das oberste zuunterst, und besonders, wenn das unterste zuoberst gekehrt wird, dann erheben bisher Schweigende ihre Stimme, dann reden auch Frauen auf Straßen und Plätzen, wo doch bisher bei allen bedeutenden Anlässen am Rednerpult, hinter dem Katheder, auf der Tribüne, am Mikrofon - ein Mann stand. (Übrigens: Gibt es auch Redenschreiber i n n e n - etwa gar für männliche Redner?) - Viele der Rednerinnen und Redner von damals sind inzwischen wieder verstummt, die Aktivisten jener Wochen im Herbst '89 haben die Deutungshoheit über ihre Geschichte verloren oder abgegeben; dafür Gründe zu suchen, ist nicht das Thema dieser Rede. Mein Thema ist die Redenkultur der Deutschen, und die kam nun allerdings im letzten Jahrzehnt zu neuer Blüte. Bände gesammelter Reden, die in Berlin, in Dresden, in Weimar, in Frankfurt am Main - allerdings in geschlossenen Räumen vor einem begrenzten Publikum - von Frauen und Männern aus Ost und West gehalten wurden, stehen in meinen Regalen - Reden übrigens, die meistens nicht »führen« wollen, Reden, in denen die Gesellschaft sich über wichtige Fragen mit sich selbst verständigt; in denen sie versucht, sich in ihrer neuen, nicht nur vergrößerten, sondern qualitativ veränderten Gestalt überhaupt erst kennenzulernen - ein sehr konfliktreicher Prozess; Reden, die das neue deutsche Selbstempfinden an demokratischen Werten prüfen und es - endlich! - einem europäischen, einem Weltempfinden zugesellen.
So wäre alles in Ordnung? Ende der deutschen Misere? Das deutsche Selbstempfinden in einem stabilen, gelassenen, sich selbst wohltätigen und für alle Nachbarn ungefährlichen Nationalgefühl aufgehoben? Keine Rede, keine Reden mehr von wunden Punkten?
Doch wohl nicht. In den letzten Jahren sind es ja gerade Reden gewesen, die, wenn auch ungewollt, an jene wunden Punkte gerührt haben. Erinnern Sie sich an die Aufregung nach der Rede des damaligen Bundestagspräsidenten Philipp Jenninger im November 1998 zum Gedenken an den 50. Jahrestags der Reichspogromnacht? Dass er zurücktreten musste, weil er den Zuhörern den Eindruck vermittelte, er wolle sich in die Deutschen der Nazizeit einfühlen und für ihr Handeln und Nichthandeln Verständnis erwecken? Oder denken Sie an die Rede Martin Walsers im Herbst 1998 in der Paulskirche, die eine erbitterte kontroverse, emotional aufgeladene Debatte auslöste, weil ein Teil des Publikums bestimmte Formulierungen Walsers als Plädoyer für einen Schlussstrich unter die Auseinandersetzung mit den deutschen Verbrechen in der Zeit des Nationalsozialismus verstand. Beide Redner hatten neuralgische Punkte im deutschen Selbstverständnis - und nicht nur im deutschen - berührt und haben eine »Normalität« des Verhaltens vorausgesetzt oder eingefordert, die es von Deutschen gegenüber dieser Vergangenheit so einfach nicht geben kann. Das Beispiel einer achtsamen, emotional und intellektuell glaubwürdigen Rede zum Thema der deutschen Vergangenheit gab Richard von Weizsäcker am 8. Mai 1985, Sie werden sich daran erinnern. »Rede, daß ich dich sehe!«, hat der Schriftsteller Johannes Bobrowski in seinem Roman Litauische Claviere gefordert. In dieser Rede »sah« man den Redner.
Die wunden Punkte eines Gemeinwesens erkennt man häufig gerade daran, dass über sie öffentlich und intern geschwiegen wird. Helmut Kohl wird also am Tag der deutschen Einheit in Dresden keine Rede halten - dort, wo er vor zehn Jahren den gutgläubigen Ostdeutschen »blühende Landschaften« versprach und sie dadurch nachhaltig enttäuschte. Nicht deshalb ist er als Redner nicht eingeladen. Er sei »zur Zeit kein Vorbild«, hören wir. Er stelle sein persönliches Ehrenwort über die Verfassung - ein vergleichsweise weniger bedenkliches Vergehen, finde ich, gemessen an der Tatsache, dass der damalige Bundeskanzler während seiner Amtszeit sich und seine Partei - auch mit Hilfe illegaler Geldmanipulationen - der demokratischen Kontrolle über die Art und Weise seiner Machtausübung entzog. Wird diese beunruhigende Tatsache vielleicht lieber beschwiegen, weil sonst die Deformation des Parteienstaates auf Kosten der Demokratie öffentlich zur Sprache kommen müsste? Weil sonst, auf diesen Staat bezogen, evident würde, was Helmuth Plessner einst vom Reich Bismarcks sagte: »Es stand für nichts, von dem es überragt wurde.« Dies aber wäre ein Thema für einen anderen Tag.
Eine andere Rede, die nicht gehalten wird, wäre nach meiner Meinung spätestens fällig gewesen, als die Beweise dafür auf dem Tisch lagen, dass der Kosovo-Krieg, der offiziell nicht einmal »Krieg« heißen sollte, unter falschen Voraussetzungen begonnen worden war. Der deutschen Bevölkerung waren, um sie auf die Teilnahme an diesem ersten Krieg in der deutschen Nachkriegsgeschichte einzustimmen, falsche, zumindest unvollständige Informationen geliefert worden - in Reden, denen also nicht zu trauen war. - Auch ungehaltene Reden können wirken, allerdings in unerwünschter Richtung. Sie lockern die Bindungen innerhalb der Gesellschaft, welche durch geglückte, wahrheitsgemäße Reden gefestigt werden können.
Erinnert sich noch jemand an die Rede von Günter Grass vor wenigen Jahren - wiederum übrigens in der Paulskirche - in der er vor den Folgen der Einschränkung des Asylrechts in Deutschland warnte? An die Schmähungen, die ihm zuteil wurden? An das jahrelange Zurückweichen vieler Politiker vor ausländerfeindlichen Strömungen in der Bevölkerung um der Wahlergebnisse willen? Die Auseinandersetzung darüber, dass Deutschland ein Einwanderungsland ist, hätten die Politiker nicht scheuen dürfen, dann könnten sie jetzt glaubwürdiger von dem Mann, der Frau auf der Straße die allerdings sehr nötige Zivilcourage gegen rechte Gewalt einfordern.
Mein Eindruck ist, wir leben in einer Gesellschaft, in der die Bindungen sich lockern, in der die gern beschworene Wertegemeinschaft für eine immer mehr schwindende Zahl von Personen verbindlich ist. Für jedermann sichtbar bei den Jugendlichen, die - auch für mich erschreckend - dieser Gemeinschaft und ihren Werten offen, brutal und höhnisch den Kampf ansagen. Doch an der sogenannten Spitze der gesellschaftlichen Hierarchie, werden diese Werte genauso zynisch missachtet - heimlich und ohne offene Kampfansage -, wenn es um rücksichtslose Profitmaximierung geht. Wie aber soll man erziehen, fragte schon Ingeborg Bachmann »halb auf die wölfische Praxis, und halb auf die Idee der Sittlichkeit hin«.
Ich wünsche mir Redner und Rednerinnen, die den Mut haben, dieses Zusammenhänge offenzulegen und sie nicht in Sonntagsreden verschleiern; die die strukturelle Gewalt in unserem Gemeinwesen, das auf Stärke, Kampf, Sieg, Konkurrenz im Weltmaßstab, auf unbegrenztes Wachstum, auf Profit, Leistung und Karriere programmiert ist, verknüpfen mit dem dumpfen Hass jener, denen alle diese hoch gepriesenen Ziele und das mit ihnen verbundene Ansehen unerreichbar sind. Und ich stelle mir vor, dass ein Politiker, der als Redner die Wurzeln der schwindenden Integrationskraft unserer Gesellschaft aufdeckte, die ja zugleich die Gründe für die schwindende Bewohnbarkeit unseres Planeten sind - dass ein solcher Politiker seiner Glaubwürdigkeit wegen vielleicht sogar die Chance hätte, gewählt oder wiedergewählt zu werden.
Utopie, wiederum? Wunschdenken? Wünschen ist nicht verboten, hat meine Großmutter immer gesagt. Und im Übrigen berufe ich mich auf Hamlet: »Nur reden will ich Dolche, keine brauchen.«
Was ist Ihre Meinung?
Kommentare einblendenDiskutieren Sie mit.