Angenommen, der europäisch-kanadische Handelsvertrag CETA überlebt nicht und aus dem TTIP-Deal mit den USA wird tatsächlich nichts mehr: Was ist dann gewonnen, außer dem Erfolg, zwei Verschlechterungen des Status quo verhindert zu haben?
Jener Status quo sieht so aus: Zum einen verhandelt die EU-Kommission nebst TTIP und CETA über 40 weitere Freihandelsverträge, siehe die jüngste „Überraschung“ zum Geheimabkommen mit Japan. Zum anderen sind mit den EU-Mitgliedsstaaten derzeit 1.400 bilaterale Investitionsschutzabkommen in Kraft. Drittens gelten die mehr als 60 Teilverträge der World Trade Organization (WTO) unverändert weiter.
Der aktuelle Grundlagenvertrag der EU, der Lissabon-Vertrag, verpflichtet die EU-Organe zur aktuellen Freihandelspolitik. Artikel 21 dieses Vertrages schreibt „den schrittweisen Abbau internationaler Handelshemmnisse“ vor; und der Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union verpflichtet in Artikel 206 zur „schrittweisen Beseitigung der Beschränkungen im internationalen Handelsverkehr und bei den ausländischen Direktinvestitionen sowie zum Abbau der Zollschranken und anderer Schranken“.
Der EU-Rat erteilt der Kommission bereitwillig Verhandlungsmandate, um diese vertraglichen Ziele mit allen möglichen Ländern in bilateralen Handels- und Investitionsschutzabkommen umzusetzen. 2007 wechselte die EU-Kommission strategisch von der multilateralen WTO-Ebene, nachdem der Freihandelsansatz dort faktisch zum Stillstand kam, auf die Ebene bilateraler Abkommen.
Was an CETA, TTIP und den anderen Zwangshandelsabkommen neben deren Inhalten so stört, ist ihre intransparente Beauftragung und Verhandlung, die einseitige Konsultation von Industrie-Vertretern und der Umstand, dass die Letztentscheidung nicht bei den Souveränen liegt, sondern bei ihrer Vertretung – die wiederum genau diese Spielregeln selbst beschlossen hat. Von daher braucht es zunächst einen demokratischeren Prozess für die Außenhandelspolitik der EU.
Dieser könnte so aussehen: Das Rahmenmandat im Lissabon-Vertrag, die Ziele und Grundausrichtung der EU-Außenhandelspolitik, wird erstens direkt vom Souverän erteilt. Die Ziele könnten folgendermaßen aussehen: umfassende Umsetzung der Menschenrechte, nachhaltige Entwicklung, begrenzte Ungleichheit, sozialer Zusammenhalt, Schutz der kulturellen Vielfalt. Direkte Mandate zur Aushandlung konkreter Wirtschaftsabkommen könnten zweitens nur von der direkt gewählten Instanz kommen: vom EU-Parlament. Aus dessen jeweiligen Ausschüssen für Handelspolitik, Umweltpolitik und Sozialpolitik könnten sich die Verhandlerinnen und Verhandler rekrutieren. Agieren müssten sie jedoch nach Vorgabe des Souveräns: voll transparent und breit partizipativ.
Ethischer Handel
Die Sitzungen müssen öffentlich sein, alle wahrgenommenen Kontakte zwischen den Verhandlerinnen und interessierten Gruppen würden zudem transparent dokumentiert. Dass alle betroffenen Bevölkerungsgruppen in gleichem Maße konsultiert und eingebunden werden, stellt ein entsprechendes Protokoll sicher. Und über das Endergebnis entscheidet die Instanz, in deren Namen verhandelt wird und für die das Abkommen schlussendlich gut sein soll: der Souverän, das heißt die wahlberechtigten Bürgerinnen und Bürger der EU.
So weit, so utopisch.
Wie aber könnte eine solche Demokratisierung des Prozesses erreicht werden? Eine Option wäre ein europäisches Vertragsänderungsverfahren von unten. In zahlreichen Kommunen könnten sogenannte „demokratische Handelskonvente“ organisiert werden, wie sie von der Gemeinwohl-Ökonomie-Bewegung entwickelt wurden: Aus der Gemeindebevölkerung werden 50 bis 100 Bürgerinnen und Bürger entweder nach der Methode der Bürger- und Bürgerinnenräte ausgewählt, delegiert oder direkt gewählt. Diese bearbeiten in einem „liquiden“ deliberativen demokratischen Prozess – im lebendigen Austausch mit der gesamten Bürgerschaft – die 20 Grundsatzfragen für den Handel und bereiten sie in mehreren Alternativen auf. Frage Nummer eins zum Beispiel könnte lauten: „Welchen Stellenwert hat Handel?“ Die Antwort-Optionen könnten lauten: Handel ist Selbstzweck („Freihandel“), Handel ist abzulehnen („Protektionismus“), Maximierung der Exporte, Minimierung der Importe („Merkantilismus“) oder Handel ist Mittel zum Zweck der Umsetzung der Menschenrechte und nachhaltiger Entwicklung („Ethischer Handel“). Die Optionen zu jeder Frage werden am Ende des Konvents von der gesamten Gemeindebevölkerung „systemisch konsensiert“, das heißt, auf ihren Widerstand gemessen. Es gewinnt derjenige Vorschlag, der den geringsten Widerstand erfährt.
Als Ergebnis steht das Meinungsbild der Kommune zur EU-Handelspolitik. Nun hat die Kommune keinerlei politische Kompetenz auf dem Gebiet der Außenhandelspolitik – ist aber davon massiv betroffen: von der öffentlichen Beschaffung über die Bereitstellung öffentlicher Dienstleistungen bis zur Versorgung von Arbeitslosen vor Ort und Migrantinnen wie Migranten, die die „Freihandelskriege“ in ihren Herkunftsländern verloren haben.
Das lokale Konvent-Ergebnis könnte einer Delegierten „im Rucksack“ mitgegeben werden für den Bundeskonvent oder, noch besser, für den EU-Handelskonvent. Dort werden die Ergebnisse aus hunderten Gemeinden und Regionen verdichtet und die finalen Alternativen aufbereitet.
Diese werden von den Souveränen der EU-Mitgliedsstaaten abgestimmt. Das Ergebnis ist das vertragliche Fundament der EU-Außenhandelspolitik oder ein neuer Abschnitt im Grundgesetz, der die Grundlage für die handelspolitischen Entscheidungen des Bundestages bildet.
Die ersten österreichischen Gemeinden – Stopp-CETA/TTIP-Gemeinden – haben bereits Interesse an einem solchen „demokratischen Handelskonvent“ bezeugt. In Berlin laufen seit längerem Vorbereitungen für den ersten „Kommunalen Wirtschaftskonvent“ nach der Methode der Gemeinwohl-Ökonomie.
In den Konventen werden bewusst keine Detail- oder Fachfragen gestellt, sondern die großen Grundsatzfragen und ethischen Leitlinien. Zu diesen ist die Kompetenz in der Durchschnittsbevölkerung sogar höher ausgeprägt als bei den Eliten, weil diese in ihren Karrieren und Milieus einem Rückgang der Herzensbildung anheimfallen, der Sensibilisierung für zentrale ethisch-soziale Fragen und Mitgefühl also. Von daher ist der Souverän nicht nur die demokratisch besser legitimierte Instanz für völkerrechtliche Grundsatzentscheidungen, sondern auch die fachlich geeignetere.
Welche Fragen könnten nun in so einem Konvent behandelt werden oder konkret: Welche Ergebnisse sind dort zu erhoffen? Ethischer Welthandel könnte auf folgenden sechs Eckpunkten aufbauen: Zum Ersten auf dem Schutz der Werte. Die Teilnehmer und Teilnehmerinnen einer Ethischen UN-Handelszone verpflichten sich zur Umsetzung der UN-Menschenrechts-, Arbeits-, Sozial-, Gesundheits-, Umwelt-, Klimaschutz-, Steuer- und Antikorruptionsstandards und schützen sich vor Ländern, die diese nicht ratifizieren und einhalten, mit Ethik-Zöllen. Zum Beispiel könnten für jeden nicht ratifizierten Menschenrechtspakt 20 Prozent Schutzzoll aufgeschlagen werden, für jedes nicht ratifizierte Umweltschutzabkommen zehn Prozent Schutzzoll und für jede nicht ratifizierte Kernarbeitsnorm der Internationalen Arbeitsorganisation IAO drei Prozent Schutzzoll. So wird dann aus dem bisher „weichen“ UN-Recht verbindliches Völkerrecht.
Vorbild: Friedrich List
Zweiter Eckpunkt könnte die Ungleichbehandlung von Ungleichen sein: Ganz nach dem Vorbild der heutigen Handelsmächte USA, Großbritannien, Japan und Deutschland sollen ärmere Länder ihre Märkte stärker, asymmetrisch und nichtreziprok schützen dürfen, bis sie vergleichbare Entwicklungsniveaus erreicht haben.
Der deutsche Ökonom Friedrich List hat schon im 19. Jahrhundert die Idee der „Erziehungszölle“ für junge, noch nicht wettbewerbsfähige Industrien sowie das Bild der „Entwicklungsleiter“ geprägt, welche die Vorreiter-Nationen selbst genutzt haben, um sie dann den Nachfolgern unfairerweise wegzuziehen. Alle Länder sollen auf ihrem Entwicklungsweg dieselben Leitern und Hilfsmittel verwenden dürfen. Das gilt aktuell für die „Partnerschaftsabkommen“ zwischen dem Superschwergewicht EU und den afrikanischen (handelspolitischen) Fliegengewichten.
Drittens dürfen die Globalisierung und das Handelssystem nicht zur „goldenen Zwangsjacke“ werden. Letztere propagiert der US-Journalist Thomas Friedman: Allein durch die Deregulierung von Güter- und Finanzströmen, Privatisierungen, Sozialabbau und die Beschränkung staatlicher Ausgaben würden Armutsbekämpfung und Anhebung des Lebensstandards ermöglicht.
Das dementsprechende One-size-fits-all-Modell der WTO jedoch schränkt den Handlungsspielraum der WTO-Mitglieder massiv ein. Insbesondere darf keinem Land verboten werden, Investitionen zu regulieren, öffentliche Dienstleistungen bereitzustellen, lokale Unternehmen zu bevorzugen oder öffentliche Aufträge an ethische Kriterien zu knüpfen. Jedes Land muss sich so weit öffnen dürfen, wie es für seine Bedürfnisse angemessen ist.
Resilienz und kulturelle Vielfalt könnten den vierten Eckpunkt bilden: Entgegen dem Dogma der internationalen Arbeitsteilung und Spezialisierung, dessen Gipfelpunkt wäre, dass jedes Produkt nur noch in einem Land hergestellt würde oder dass alles, was irgendwo auf der Welt produziert wird, auch exportiert wird, ist es vielmehr erstrebenswert, dass alle Länder in vielen Branchen, speziell in der Grundversorgung mit Nahrung und Energie, unabhängig sind und sich primär mit Spezialitäten über den Weltmarkt versorgen. Der Weltmarkt sollte grundsätzlich das Salz in der Suppe lokal-regionalen Wirtschaftens sein, und nicht umgekehrt. Der Weltmarkt sollte ergänzen und stimulieren, nicht aber verdrängen und dominieren.
Damit die Eckpunkte drei und vier nicht zu neomerkantilistischen Konkurrenz-Strategien verleiten, sollten sich alle Teilnehmer-Staaten einer ethischen Welthandelsordnung zu ausgeglichenen Leistungsbilanzen verpflichten – dies wäre der fünfte der hier vorgeschlagenen Eckpunkte. Dann können autonome Schutz-Maßnahmen nicht auf Kosten anderer gehen.
John Maynard Keynes hat einst mit der „Internationalen Clearing-Union“ (ICU) ein geniales Modell entworfen, wie alle Staaten eine ausgeglichene Leistungsbilanz erreichen könnten. Der internationale Handel wird über ein Handelskonto bei der ICU abgewickelt. Abweichungen von ausgeglichenen Handelsbilanzen führen zu Auf- oder Abwertungen oder zu Strafzahlungen. So gleichen sich die Leistungsbilanzen aus und das Gesamtsystem bleibt, anders als heute, im Gleichgewicht.
Der sechste Punkt wäre die Begrenzung der Macht und Größe von Konzernen, um den Weltmarkt vor Oligopolbildung und Vermachtung zu schützen. Hierfür könnte der Zugang zur ethischen Handelszone auf Firmen begrenzt werden, deren Umsatz oder Bilanzsumme 50 Milliarden Euro und deren Anteil am Weltmarkt einen halben Prozentpunkt nicht überschreitet. Zudem sollen alle Unternehmen, die Zugang zum Weltmarkt anstreben, eine Gemeinwohl-Bilanz erstellen müssen. In dieser werden die Folgen ihrer Aktivitäten ersichtlich: für Mitarbeiterinnen, Lieferanten und Kunden etwa. Die Auswirkungen auf die Umwelt, die Lohnspreizung im Betrieb, die Verwendung von Gewinnen, Stand von Diversität und Gleichstellung – all das kann in eine Gemeinwohlbilanz einfließen, wie sie schon heute hunderte Firmen in Europa nutzen. Für einen ethischen Welthandel könnte die Maxime dann sein: Je besser das Ergebnis der Gemeinwohlbilanz, desto günstiger der Marktzugang.
Und je geringer die ethischen Leistungen, desto teurer wird es – bis zur Nicht-Verlängerung der „Lizenz zum Handeln“. Es geht um anderen Regeln als beim Freihandel: Ethischer Handel dient den Werten und Zielen der Staatengemeinschaft.
Ich habe solche Grundsatzfragen versuchsweise an der Wirtschaftsuniversität Wien und in Vortragsforen durchgespielt. Die Ergebnisse – ethischer Handel ging als haushoher Gewinner hervor – bestärken mich, dass dem Souverän diese Aufgabe zuzumuten ist und dessen Entscheidungen zumindest weniger schlecht sein werden als die heutige EU-Außenhandelspolitik.
Nun kommt es auf aktive Citoyens und Citoyennes an, solche demokratischen Handelskonvente zu Hause zu initiieren und damit jeweils einen weiteren Baustein zum Gesamtkunstwerk beizutragen.
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