Beharrlich zeigt die Tendenz nach unten. Seit Jahrzehnten sinkt die Zahl der neu abgeschlossenen Lehrverträge in Deutschland. 2015 schlossen nur noch 522.000 neue Lehrlinge Verträge mit Ausbildungsbetrieben, ein historischer Tiefststand. So wenig Azubi-Beginner hatte es zuletzt 1971 gegeben. Seit längerem herrscht deswegen großes Wehklagen. Die deutsche Berufsbildung von Lehrlingen zu Facharbeitern, heißt es, drohe zu sterben.
Und dann das.
Im Juli setzte die Zentrale des Deutschen Handwerks, ein glitzernder Bau unweit des Berliner Fernsehturms, eine Meldung ab, die kaum zu glauben war. Sie berichtete von 6,9 Prozent mehr Ausbildungsverträgen bei Schreinern, Bäckern, Metallbauern und anderen Handwerkern. Ein Paukenschlag für ein Segment, in dem man zuletzt Steigerungsraten im Promillebereich mit Freibier bejubelte. Bayern setzte noch einen obendrauf: 12,5 Prozent mehr Ausbildungsverträge im dortigen Handwerk. Mit der bayerischen Zahl war klar: Berlin hat keine Falschmeldung abgesetzt. Der Abwärtstrend in der beruflichen Bildung scheint gestoppt.
Weltfirma statt Volksfront
Wer wissen will, woher der neue Jubel nach Jahren des Jammers kommt, muss in die F-Klasse der Berufsschule 2 in Nürnberg gehen. Da sitzen 17 junge Kerle aus Asmara in Eritrea oder aus dem syrischen Aleppo. Es sind Flüchtlinge zwischen 15 und 21 Jahren. Sie haben Zuflucht in Deutschland gefunden, und man kann sich prima mit ihnen unterhalten. Ihre Lehrerin hat ihnen gründlich Deutsch beigebracht. Wer nach der Pause zu spät in die Klasse kommt, den ermahnt die blonde zierliche Frau scharf.
Von den 17 jungen Männern haben zehn einen Ausbildungsplatz. Es sind Verträge für ein Gewerk, das ihnen die Türen für ein neues Leben weit aufstößt: Sie bekommen Jobs in der bärenstarken Metall- und Elektrobranche Bayerns. Kidan etwa und Sameel wussten in Eritrea nicht, ob sie fünf Monate oder fünf Jahre Dienst tun müssen, wenn die „Volksfront für Demokratie und Gerechtigkeit“ sie zu den Waffen ruft. In Nürnberg stehen ihnen plötzlich Weltfirmen offen. Sie und die anderen haben Ausbildungsplätze bei Diehl – einem weltweit operierenden Industriekonzern mit drei Milliarden Euro Umsatz –, dem globalen LKW- und Bus-Hersteller MAN, bei Siemens oder der Deutschen Bahn bekommen. Sie müssen nicht mehr herumsitzen in engen Sammelunterkünften, sondern sie erlernen einen Beruf und verdienen eigenes Geld. Für sie hat Handwerk einen goldenen Boden.
Und sie stellen umgekehrt die goldene Generation von Auszubildenden für eine Branche und einen Bildungszweig dar, dem der Nachwuchs ausgeht. Mitte der 1980er Jahre gab es mit 723.000 neuen Lehrlingen den historischen Höchststand, damals allein in Westdeutschland. Bis Ende der 1990er ging es runter auf 635.000 neue Azubiplätze – inklusive des Ostens der Republik. Inzwischen haben die Erstsemester an den Unis die neuen Azubis eingeholt. Die duale Ausbildung, Grundlage des Wirtschaftswunders made in Germany, hat die Schwindsucht.
Flüchtlinge auf dem Arbeitsmarkt: Das sind die Zahlen
Vor einem Jahr dominierte der große Anstieg der Zahl von in Deutschland um Asyl suchenden Menschen alle öffentlichen Debatten. Jetzt, da viele Flüchtlinge nach Abschluss ihres Verfahrens etwa in staatliche Fördermaßnahmen kommen, werden erste Folgen der Fluchtmigration in den Ar-beitsmarktdaten ablesbar.
Seit kurzem veröffentlicht die Bundesagentur für Arbeit überhaupt gesonderte Statistiken zu Menschen aus den „nichteuropäischen Asylherkunftsländern“ Irak, Iran, Afghanistan, Eritrea, Nigeria, Pakistan, Somalia sowie Syrien. Demnach waren im Mai 2016 in Deutschland rund 100.000 Menschen aus diesen acht Ländern sozialversicherungspflichtig und knapp 37.000 weitere geringfügig beschäftigt. Auch schon länger hier Lebende aus den genannten Staaten werden mitgezählt, Folgen der Fluchtmigration für den Arbeitsmarkt lassen sich dennoch ablesen: So ist die Zahl der Arbeitslosen aus den acht Staaten bis Juli 2016 auf 157.000 gewachsen – 80.000 Arbeitslose mehr als im Vorjahr. Insgesamt rechnet die Bundesregierung mit einem Anstieg der Zahl der Arbeitslosen von derzeit rund 2,7 auf 3,1 Millionen bis 2020. Inzwischen haben 411.474 Flüchtlinge Anspruch auf Leistungen nach dem zweiten Sozialgesetzbuch wie Arbeitslosengeld II: Dadurch ist ihr Anteil an allen SGB-II-Berechtigten in Deutschland von 3,8 Prozent 2015 auf 6,9 Prozent im Juli 2016 angewachsen.
Um Geflüchteten die Arbeitsaufnahme zu erleichtern, wurde gerade die Vorrangprüfung für drei Jahre ausgesetzt. Nur in einzelnen Bezirken Bayerns, Nordrhein-Westfalens und in Mecklenburg-Vorpommern gilt sie weiter. Eine Prüfung auf unerlaubt ungünstigere Beschäftigungsbedingungen gibt es auch in Zukunft flächendeckend.
Die Sprecher des Handwerks sind noch zurückhaltend. Sie wissen nicht genau, woher das plötzliche Plus bei den Azubis kommt. Sind es Kampagnen wie zum Beispiel „Elternstolz“, die Eltern in Bayern mit bunt bebilderten Erfolgsgeschichten erzählt, dass ihre Kinder in der Ausbildung bessere Chancen haben als an den überfüllten Universitäten? Oder ist es die neue Eigenart der Handwerksbetriebe, einem geeigneten Bewerber schon am Tag nach dem ersten Kennenlernen den Vertrag auf den Tisch zu legen? „Die Betriebe schließen schneller ab“, berichtet ein Kammerfunktionär. Der Blick in die Betriebe, Berufsschulen und Bilanzen vor Ort zeigt, woher das Azubi-Wunder kommt: Es sind die Flüchtlinge, die wie eine Frischzellenkur für die malade Berufsausbildung wirken.
Bayern macht vor, wie man integriert. In berufsvorbereitenden Kursen quer über das Bundesland lernen 9.700 Flüchtlinge und Asylbewerber, die darauf warten, Lehrstellen anzutreten. Zum Vergleich: Das gesamte deutsche Handwerk bietet im Rahmen des „Nationalen Pakts für Ausbildung“ gerade mal 1.000 jungen Leuten mit Fluchtgeschichte Kurse an. In diesen groß angekündigten Praxisschleifen des Bundesbildungsministeriums werden Jugendliche vier bis sechs Monate auf die Berufsbildung vorbereitet. Für die meisten Flüchtlinge ist das viel zu kurz.
In Bayern hingegen hat man verstanden, dass man jungen Männern, die oft Monate auf der Flucht waren und eine geordnete Berufsbildung nicht kennen, allein mit einer Schnellbeschulung in Deutsch nicht gerecht wird. In München, Augsburg oder Würzburg dauern die Qualifizierungen viel länger und sind gründlicher – deswegen kann man sich mit den angehenden Azubis in Nürnberg auch so gut verständigen. In den letzten beiden Jahren haben die bayerischen Berufsschulen auf diese Art eine kleine Reservearmee künftiger Azubis herangezogen. Sie warten nur darauf, den bayerischen Ausbildungsmarkt zu stürmen. Rund 80.000 neue Lehrstellen werden in Handel, Industrie und Handwerk in Bayern jedes Jahr neu besetzt. Die knapp 10.000 Flüchtlinge in den berufsvorbereitenden Kursen könnten also rechnerisch 12,5 Prozent der Plätze belegen.
In der Nürnberger F-Klasse meldet sich Hamdi aus Somalia zu Wort. Er wundert sich, dass die Handwerksbetriebe und selbst die Industrie so um sie, die Flüchtlinge, buhlen. Die Ausbilder und Meister, die Lokalpolitiker und die Kammermenschen seien sehr freundlich mit ihnen, berichtet Hamdi. „Sonst sind die Leute hier nicht immer so nett“, sagt der 20-Jährige. „Was machen die jungen Deutschen, warum gehen die alle in die Hochschulen?“
Hamdis Frage treibt auch Bürger und Experten in Deutschland um. Die Antwort ist freilich klar. Wer das Abitur in der Tasche hat, der löst damit das Ticket fürs Studium. Und das Abitur bekommen derzeit viele in Deutschland. 2011/12 kratzte die Zahl der Abiturienten erstmalig die 60-Prozent-Marke eines Jahrgangs; damals waren die doppelten Abiturjahrgänge dafür verantwortlich, die im Zuge der Verkürzung des Abiturs entstanden. Dieses Jahr nun ist erstmals damit zu rechnen, dass auf ganz normalem Wege an die 60 Prozent eines Jahrgangs das Abitur erreichen. Das lässt sich aus den Zahlen der Schüler ableiten, die laut Statistischem Bundesamt aus den elften und zwölften Klassen in die Abschlussklassen des Jahres 2016 aufgerückt waren – 470.000 Abiturienten waren es. Vergangenes Jahr lag die Zahl der Abiture nur bei 440.000
Damit haben sich, betrachtet man die langfristige Entwicklung, die Proportionen zwischen beruflicher und allgemeiner Bildung vollkommen verschoben. 1968 lag das Verhältnis bei 9:1, das bedeutet: 1,8 Millionen Lehrlingen standen damals nur 200.000 Studenten gegenüber. Heute ist das ganz anders. Nun werden nur noch 1,4 Millionen Lehrlinge gezählt – aber 2,8 Millionen Studierende. Kein Wunder also, dass Bildungsforscher und Kammerpräsidenten warnen: Was sich im Bildungswesen zuträgt, ist eine schleichende Revolution, eine tektonische Plattenverschiebung. Wenn sie nicht gestoppt wird, könnte sie die hoch gelobte duale Ausbildung zerstören. Seit etwa drei Jahren werben Regierung und Wirtschaftsverbände dagegen an. Die Vorsitzende des Bildungsausschusses im Bundestag, Patricia Lips (CDU), brachte gar Zwangsmaßnahmen ins Spiel, um den Helden des Wirtschaftswunders künstlich zu beatmen, den ausgebildeten Facharbeiter: Unter Umständen müsse man die Abiturquote wieder senken, sagte Lips.
Aber alle Maßnahmen und Gedankenspiele fruchteten bislang nicht. Ist es da Zufall, dass ausgerechnet im Jahr eins nach der Ankunft von einer Million Flüchtlingen und hunderttausenden Jugendlichen im ausbildungsfähigen Alter plötzlich ein so stabiler Negativtrend der Ausbildung gebrochen wird?
Überall in der Republik wird herumprobiert, um Flüchtlinge in Arbeit und Ausbildung zu integrieren. In Dortmund üben Azubis der Stadtwerke in einem vierwöchigen Kurs mit Flüchtlingen. In Norderstedt in Schleswig-Holstein treffen sich Betriebe, Arbeitsagentur und Flüchtlinge zu einem Runden Tisch im Rathaus. Im nordrhein-westfälischen Jüchen bietet der Bauhof Minijobs für Geflüchtete an. Aber das sind alles nur Projekte.
Anders in den deutschen Boomregionen. In den Maschinenräumen der nach China und den USA drittgrößten Exportwirtschaft der Welt setzt man voll auf die Flüchtlinge. Im bayerischen Gersthofen zum Beispiel, vor den Toren Augsburgs, bemüht sich die Industrie- und Handelskammer (IHK) um die neu Zugewanderten, die für eine Lehrstelle in Frage kommen könnten. Das geschieht nicht erst seit gestern. Bereits 2014 startete die IHK Schwaben das Projekt „Junge Flüchtlinge in Ausbildung“, damals noch bezogen auf junge unbegleitete Flüchtlinge. Rund 100 Betriebe der Region beteiligten sich daran. Sie boten zunächst 150 Praktikumsplätze an, damit sich Bewerber und Ausbilder kennenlernen können. Inzwischen zählt man in Schwaben 340 Praktikumsplätze für Flüchtlinge. Auch die Zahl der Jugendlichen, die von dort aus Lehrstellen ergattern, verdoppelt sich jedes Jahr. 2014 waren 30 geplant, 2015 wurden bereits 60 Plätze realisiert. Bis 1. September dieses Jahres sollen es 100 neue Lehrlinge sein, die vor kurzem noch auf der Flucht waren.
Das Projekt ist nun Vorbild für die Industrie- und Handelskammern ganz Deutschlands. Der Präsident von deren Dachverband DIHK, Eric Schweitzer, hat Bayerisch-Schwaben zum Musterland erklärt. Wer mit der Verantwortlichen vor Ort spricht, merkt, wie sehr sich Sprache und Sichtweise dort erweitert haben. Projektleiterin Josefine Steiger will die Unternehmen „interkulturell sensibilisieren“. Eigens dazu werden Seminare angeboten – für die Ausbilder. Steiger spricht nicht mehr von der Rettung des Ausbildungssystems, sondern von Schicksalen.
Das ist erst der Anfang
Steiger kennt die Biografien von einzelnen Lehrlingen. Sie weiß die Vornamen jener Flüchtlinge, die in Gersthofen für Furore sorgen. Etwa Rico, ein junger Mann aus dem Kongo, der eine Ausbildung als Industriemechaniker begonnen hat. Die dreieinhalbjährige Lehrzeit wurde bei ihm um ein Jahr verkürzt. Industriemechaniker, das ist einer der anspruchsvollsten Berufe der dualen Ausbildung; verkürzen dürfen nur die Besten. Rico ist einer von ihnen.
Im Bereich der Industrie- und Handelskammern Bayerns werden jedes Jahr etwa zehn Prozent aller neuen Lehrstellen der gesamten Republik geschaffen. Hier sieht man die Flüchtlinge „als eine wichtige und interessante Bewerbergruppe“, sagt Hubert Schöffmann. Der Berufsbildungsexperte der bayerischen Industrie- und Handelskammern glaubt, dass der eigentliche Zuwachs von 2017 an erfolgen werde. „Das wird zwar kein Spaziergang“, sagt er, „aber es ist gut investiertes Geld.“
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