In der Kaiserin-Augusta-Schule in Köln kann man einen Blick in die Zukunft des Lernens wagen. In der sechsten Klasse von André Spang sollen Schüler an diesem Vormittag einen eigenen Song entwerfen. Der Unterricht sieht anfangs sehr konventionell aus – bis Spang einen schwarzen Rollkoffer öffnet. Darin befinden sich Tablets. Es gibt ein kurzes Gedränge. Und die Schüler flippen regelrecht aus, als sie endlich die kleinen Computer benutzen dürfen.
Jetzt gibt es kein Klassenzimmer mehr, alle ziehen sich mit ihren Geräten zurück. Viele gehen raus auf den Flur, manche wechseln in einen anderen Raum. Sie wählen sich eine Grundmelodie aus, dazu einen Rhythmus, dann singen sie ihren Song in das Tablet-Mikrofon und speichern das alles ab. Alpay (Name geändert) hat einen Rap aufgenommen. Unter analogen Lernbedingungen würde seine Großmutter in der Türkei das Lied wohl nie zu hören bekommen. Jetzt kann er es stolz binnen weniger Minuten verschicken, und sein Cousin spielt es der Oma vor.
Spang, im Netz besser als @tastenspieler bekannt, ist einer der deutschen Lehrer, für die multimediales Lernen mit digitalen Geräten etwas ganz Normales ist. „Wir üben natürlich auch auf den richtigen Instrumenten, ich finde das sehr wichtig“, sagt der Oberstudienrat, der auch ausgebildeter Pianist ist. „Wir können aber in der Schule nicht mehr so tun, als wären wir noch im 19. Jahrhundert.“
Was sich in der sechsten Klasse in Köln so gut anhört, ist in Wahrheit ein erbittertes Streitthema: Wie viel digitales Lernen mit Tablets, Apps und Wikis sollen Schulen ermöglichen? Darüber ist eine Art Kulturkampf entbrannt. In der Schlacht um Digitalien stehen sich zwei Fronten gegenüber. Hier die Propagandisten eines Lernens 2.0, die von der kollaborativen Kreativität schwärmen – und ein Tablet für jeden deutschen Schüler fordern. Dort Kritiker wie der Lehrerverbandspräsident Josef Kraus, der vor einer „Zwangsdigitalisierung“ warnt. Er sorgt sich, dass die Konzentrationsfähigkeit der Schüler durch die neuen Medien abnimmt und der Unterricht oberflächlicher wird.
Daddeln in der Schule
Saskia Esken ist Bundestagsabgeordnete der SPD und so etwas wie der Shootingstar der Szene, die das digitale Lernen gutheißt. Esken ist Informatikerin, Mutter dreier Kinder und erst seit 2013 im Deutschen Bundestag. Zusammen mit ihrem CDU-Kollegen Sven Volmering hat sie den Antrag einer „digitalen Agenda“ für Deutschlands Schulen eingebracht – und die beiden haben eine satte Mehrheit des Parlaments so gut wie sicher. Schulen sollen ans Breitbandnetz angeschlossen werden, pädagogische Computerspiele (serious games) Einzug in die Klassenräume halten und die Bundesregierung wird aufgefordert, einen digitalen Pakt mit den Ländern zu schließen. „Das Thema ist heiß“, sagt Esken.
Es ist aber auch lauwarm. Eskens Antrag wird nämlich im föderalen Bildungstreibsand irgendwo zwischen Bund und Ländern versickern. Ein Land wie die Türkei kann mit Branchengrößen wie Apple und Samsung über die Lieferung von 15 Millionen Schultablets als Gesamtpaket verhandeln. Deutschland kann es nicht. Es ist gefesselt in einer Kleinstaaterei, die zurückgeht bis zum Deutschen Bund von 1815.
Dennoch ist die Digitalisierung der Pädagogik auch hierzulande überfällig. Der wirtschaftlich stärkste Staat Europas steht vor einer Zeitenwende. Während 80 Prozent der Schüler mittlerweile das Internet mit ihren Smartphones jederzeit bei sich haben, hinken die Schulen weit hinterher. Kreidezeit heißt das Stichwort. Gemeint ist eine Schule, die noch an den Schiefertafeln aus dem 19. Jahrhundert unterrichtet und das 21. Jahrhundert in Computerlabore mit eng begrenztem Stundenschlüssel einsperrt. Smartphones unterliegen an Schulen oft einem strikten Verbot. Inzwischen schaffen sich Schulen Tresore an, um die teils ziemlich teuren Geräte, die sie ihren Schülern abnehmen, sicher verwahren zu können. Schulen geben also lieber Geld aus, um die böse Technik abzuwehren, anstatt sie als Lernmittel zu integrieren.
Der Nutzen des digitalen Lernens soll weit darüber hinausgehen, als dass der 12-jährige Alpay seiner Großmutter Musikdateien in die Türkei schickt. Auf Blogs oder sogenannten Wikis kann man von überall her gemeinsam an einem Dokument arbeiten. „Die neue Lern-und-Lehrkultur ist vernetzt, offen und integrativ“, sagt André Spang und zählt auf, was diese Kultur fördern soll: das kritische Denken der Schüler, das Zusammenarbeiten, die Kommunikation und die Kreativität.
Das Lernen mit den digitalen Geräten wäre nicht nur eine Ergänzung des Lernens à la Feuerzangenbowle, sondern würde auch den Wissenserwerb revolutionieren. Aus dem tiefen Verstehen und der Persönlichkeitsbildung eines Wilhelm von Humboldt wird copy, paste, remix und share. In Schulen, die ganz auf das digitale Lernen umgestellt haben, finden sich oft keine Klassenzimmer im herkömmlichen Sinn mehr. Es existieren keine Schulbücher, keine Hefte, keine Schulfächer und selbst Lehrer gibt es nicht immer. Der örtliche Zusammenhang des Lernens löst sich auf – und auch der soziale. Schulforscher Richard Heinen vom Learning Lab der Universität Duisburg-Essen hört solche futuristischen Szenarien nicht so gern. „Es gibt gar kein digitales Lernen“, sagt er. „Allenfalls ein Lernen für die digitale Gesellschaft.“
Fragt man den Kölner Tablet-Pionier Spang, was für das digitale Lernen nötig ist, antwortet er: „Lernen 2.0 ist dann möglich, wenn ein stabiles Netz in der richtigen Geschwindigkeit und allen Lernenden sowie Lehrenden Tablets zur Verfügung stehen.“ Außerdem brauche die „neue Lehr- und Lernkultur nachhaltige Mediengrundbildung in der Pädagogik und die Einforderung von Kompetenzen des 21. Jahrhunderts bei Lehrenden“. Andere Leute sagen das so: Lehrer haben oft schlicht keine Ahnung vom Netz.
Der technologische Stand deutscher Schulen im Jahr 2015 sieht so aus: Es gibt nicht genug Internetanschlüsse, es fehlen die digitalen Endgeräte – und Lehrer, die mit den Multimedia-Gadgets überhaupt umgehen könnten. 80 Prozent der Schulen, schätzt Schulberater Heinen, wollen mit dem Internet nichts zu tun haben.
Eine lähmende Pattsituation ist damit entstanden. Die Schule kann nicht die letzte analoge Insel einer Gesellschaft bleiben, in deren Städten bald flächendeckend WLAN verfügbar sein soll. Die öffentliche Debatte aber wabert zwischen der „digitalen Demenz“, vor der der Hirnforscher Manfred Spitzer warnt – und der Prophezeiung eines völlig neuen digitalen Zeitalters. „Der digitalen Bildung kommt die Aufgabe zu, die Menschen mit der Aneignung einer digitalisierten Welt zu einer souveränen Teilhabe an ihr zu ermächtigen“, schrieb Saskia Esken gerade in einem Beitrag für den Berliner Tagesspiegel. Spitzer und Esken, das ist die Spannbreite zwischen digitalem Gulag und digitalem Paradies.
Ein Riesengeschäft
Die Fans der computerisierten Bildungsrevolution haben es aber auch sich selbst zuzuschreiben, dass man ihren Utopien nicht mehr recht trauen mag. Zum Beispiel in der Frage des Geldes: Was würde es eigentlich kosten, alle Schüler mit einem Tablet auszustatten? Auf diese naheliegende Frage können weder Politik noch Wirtschaft eine Antwort geben. „Ich weiß ganz ehrlich nicht, was es kostet“, sagt die Bundestagsabgeordnete Esken. Ein Sprecher von Bitkom, dem Branchenverband für die Telekommunikationsindustrien, der die Ausstattung aller Schüler mit Tablets vehement fordert, behauptet, der Verband habe die Kosten noch nicht berechnet. Selbst die Bertelsmann-Stiftung, die sonst alle Antworten auf Schulfragen zu kennen beansprucht, nennt keine Zahlen. „Wir haben jetzt eine Studie in Auftrag gegeben“, teilt der zuständige Referent mit.
Dabei kann jedermann solide schätzen, wie teuer Tablets für alle die Bundesrepublik kommen würden. Je nachdem, welche realistischen Preise man für das einzelne Gerät, die Kosten der Infrastruktur an der Schule und die Fortbildung ansetzt, kommt eine Summe zwischen fünf und sieben Milliarden Euro heraus. Vielleicht liegt die Zurückhaltung der Digital-Propagandisten bei der Preisbestimmung auch daran, dass eines evident ist: Die fünf bis sieben Milliarden werden nur der Preis für die Erstausstattung sein, die Folgekosten sind enorm. „In drei bis vier Jahren sind die Geräte ohnehin wieder veraltet“, sagt jeder, der sich halbwegs auskennt.
Ein Milliardenmarkt tut sich auf – und die großen Konzerne stehen bereit. Apple, Microsoft, Intel, Google, Samsung, und wie sie alle heißen, haben jeder eine fertige Lösung für die Schulen. Der Nachteil der Gesamtpakete, die da geschnürt werden: Jedes von ihnen mutet an wie ein goldener Käfig – wer sich einmal einem Anbieter, einem Endgerät oder einem Betriebssystem verschrieben hat, kann nicht mehr ohne Weiteres wechseln.
Richard Heinen begleitet Schulen, die digitale Technologien einführen. Er schätzt, dass es 10 bis 15 Jahre dauert, bis sich das digitale Lernen nachhaltig in einer Schule verbreiten kann. „Es reicht nicht, den Lehrern die Infrastruktur vor die Nase zu setzen“, sagt Heinen. Der wissenschaftliche Mitarbeiter der Uni Duisburg-Essen hat beobachtet, dass es darauf ankommt, mit einem „kreativen Kern von fünf bis zehn Lehrern“ das Arbeiten mit Tablets zu beginnen. Ein Teil der Pädagogen stehe der Technologie skeptisch bis feindlich gegenüber. Diese Klientel ist schwer zu begeistern, vor allem nicht mit den üblichen Fortbildungen. Die gelten als schwerfällig, weil die Leiter der Lehrerseminare sich oft selbst nicht mit der Technologie auskennen.
Es geht aber auch unkompliziert. Und wieder einmal findet sich in Finnland dafür ein gutes Beispiel. An der Olari-Oberschule in Espoo nahe Helsinki gibt es seit nunmehr fünf Jahren Tablet-Computer, die sich quer durch alle Fächer ausgebreitet haben. Schulleiterin Kaisa Tikka besorgte erst einer Gruppe interessierter Lehrer Tablets, um deren pädagogisches Potenzial zu testen. „Wir merkten, dass wir mit den Tablets den Schülern mehr Freude am Lernen bereiten können“, sagt Tikka. „Das Lernen wird kooperativer. Mit Tablets teilen die Schüler ihr Wissen besser miteinander.“
Blick ins Dekolleté
Dann band die Rektorin alle Lehrer mit einem Trick ein. Sie fragte das Kollegium, wer bei der geplanten Anschaffung denn auf ein Tablet verzichten wolle. Keiner wollte leer ausgehen. Tikka kaufte 75 Stück für den Einsatz im Unterricht. Seitdem werden Tablets nicht dauernd, aber fast überall eingesetzt: Die Sportlehrerin nutzt eines als Filmkamera, um Schülerinnen ihre Übungen auf dem Schwebebalken vorzuspielen. In Erdkunde setzen die Schüler die Geräte bei der Exkursion in die Eiszeit als Kamera, Tonbandgerät und E-Book-Generator ein.
Deutsche Lehrer beklatschen das Beispiel – und beweinen es zugleich. Denn in Deutschland ist so etwas praktisch nicht möglich. Leiter finnischer Schulen verfügen über eigene Etats, ihre deutschen Kollegen müssen sich Ausgaben in der Regel von der Schulaufsicht genehmigen lassen. „Am liebsten würde ich einfach die Geräte im Unterricht nutzen können, die die Schüler auch in ihrem Alltag benutzen“, sagt Torsten Larbig, Lehrer an der Schillerschule in Frankfurt am Main. Auch er zählt zu den führenden Köpfen der deutschen Digital-pädagogenszene. Er verspricht sich davon „einen sicheren, vertrauten Umgang mit dem Gerät, und dass ich nicht jeden Klick erklären muss“.
Larbig ist ein Studienrat klassischer Prägung. Ihm mag man abnehmen, dass er seine Zöglinge durch spannenden Unterricht bei der Stange hält. Auch mit den neuen Medien. Freilich gibt es immer wieder Beispiele, die zeigen: Das Digitale strebt ins Zentrifugale. Das aufsehenerregendste Beispiel lieferte eine bayrische Schülerin vor kurzem im Streamingportal YouNow. Sie streamte sich während ihrer Schulstunde live ins Netz. Jeder ihrer tausend Follower konnte die Stunde miterleben, die Schülerin meldete sich sogar immer wieder. Zugleich präsentierte sie eine Art Schulmädchen-Burlesque, sie zupfte hier an ihrem Trägershirt, sie gewährte dort einen kurzen Blick ins Dekolleté. Das Netz verfolgte die softpornografische Lifecam – die Lehrerin merkte von alldem nichts.
Das Beispiel zeigt sehr anschaulich: Digitale Endgeräte tragen nicht nur neue Lerntechnologien in die Schule, sondern auch alle Risiken und Nebenwirkungen wie Cybergrooming und den digitalen Exhibitionismus der Generation Facebook.
Netzlehrer und Medienpädagogen winken bei solchen Beispielen meist ab – der Unterricht war halt nicht spannend genug, unken sie dann. „Wir haben früher unter der Schulbank auch Bravo gelesen und Zettel geschrieben“, sagt Saskia Esken. Richard Heinen geht einen Schritt weiter. Er will aus der Not eine Tugend machen. „Die Schule muss einen sicheren Umgang mit dem Internet lehren“, sagt er. „Wir bereiten Kinder ja auch mit Seepferdchen und Fahrradführerschein auf die Gefahren im Wasser und im Straßenverkehr vor.“
Im Netz gilt das Prokrastinieren via Twitter, Facebook und Co. als Running Gag. Aber im Klassenzimmer auf dem Schultablet soll es dann angeblich nicht mehr stattfinden. Oder ist Produkt didaktischer Ödnis – als gäbe es die nicht in jeder Schule. Neuere Studien zeigen, dass Jugendliche bis zu 300 Mal am Tag ihr Smartphone herausnehmen, um Nachrichten zu checken. Der Computerforscher Gerald Lembke fordert daher, den Einsatz von Rechnern erst ab der Sekundarstufe zu beginnen. Und auch dann nur wohldosiert. „Digitale Hilfsmittel in der Bildung erbringen bis zum 12. Lebensjahr keine nennenswerten positiven Effekte“, sagt er. Kinder hätten dann „eine hohe Wischkompetenz, mit Medienkompetenz hat das aber nichts zu tun“.
Die Bundesregierung ficht das freilich nicht an. Sie treibt, obwohl nicht zuständig, die Digitalisierung der Kindheit voran. Das von ihr fast vollständig finanzierte „Haus der kleinen Forscher“ hat ein digitales Angebot für die Drei- bis Fünfjährigen im Programm. Es soll eigentlich alle Kindergärten zum Forschen in der Natur animieren. Weil die bisherige Methode über Forscherkoffer aber offenbar zu langsam ist, hat es gerade einen Forschergarten eingerichtet – im Netz. Die Kinder fahren dort virtuell mit einem Rasenmäher über die Wiese.
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