„Das ist eine Lawine, die auf uns zurollt“

Interview Ein Psychologe erklärt, wie das Netz abhängig macht – und warum Zeitlimits nicht helfen
Ausgabe 25/2016
„Süchtige verlieren die Kontrolle über ihren Konsum“
„Süchtige verlieren die Kontrolle über ihren Konsum“

Illustration: der Freitag; Material: Blackday/Fotolia

der Freitag: Herr Brand, Sie sind also einer der Suchtforscher, die uns das schöne Internet wegnehmen wollen.

Matthias Brand: Nein, das will ich nicht. Das Internet ist für fast alle von uns ein alltägliches Werkzeug. Das ist wunderbar, solange es funktional in den Alltag integriert ist.

Trotzdem warnen Sie ...

Ja, wenn Nutzer negative Konsequenzen in ihrem Alltag erleben und trotzdem nicht aufhören können, dann wird es gefährlich.

Inwiefern?

Es gibt eine Gruppe von Personen, denen der Gebrauch des Internets entgleist. Sie nutzen bestimmte Anwendungen derart intensiv, dass sie massive Einschränkungen der Lebensqualität erfahren.

Ist das nicht einfach heute die digitale Kultur?

Wir leben in einer digitalisierten Welt. Aber wir Psychologen und Mediziner sprechen nicht über Kultur, sondern von Krankheiten. Wir beziehen uns auf Patienten, die sich nicht mehr allein helfen können, sondern jahrelang leiden. Das ist also keine Ausprägung von digitaler Kultur, das ist ganz eindeutig eine Sucht.

Wie definieren Sie Onlinesucht?

Die Internetnutzung bei diesen Menschen ist pathologisch, sie haben die Kontrolle darüber verloren. Das ist der wesentliche Faktor. Sie sind permanent gedanklich okkupiert mit bestimmten Netzaktivitäten, auch wenn sie gar nicht im Internet sind. Sie brauchen Onlinespiele oder Pornos oder bestimmte Apps, sie kommen davon nicht mehr weg. Das ist eine Abhängigkeit wie bei einer stoffgebundenen Sucht.

Zur Person

Matthias Brand, 41, ist Professor für Psychologie an der Uni Duisburg-Essen. Er gehört zu den sieben Gutachtern, die dem Bundestag empfehlen, exzessive Internetnutzung als Sucht auszuweisen

Also wie bei einem Alkoholabhängigen?

Ja, diese Personen nutzen das Internet weiter, obwohl es für sie negative Konsequenzen hat. Sie kennen diese Konsequenzen oder sie bekommen sie von ihrem Umfeld, dem Chef oder dem Partner, angedroht – und machen trotzdem weiter.

Um wie viele Stunden täglich geht es dabei?

Zeit ist nicht der ausschlaggebende Faktor. Entscheidend ist die psychische Abhängigkeit. Es geht um ein Machtgefühl, etwa bei einem Onlinerollenspiel, oder um die sexuelle Befriedigung bei Onlinesexsucht, oder die Anerkennung durch Likes und Freunde in sozialen Netzwerken. Diese Menschen bekommen dort den Kick, von dem sie abhängig sind. Aber natürlich verbringen sie auch viele Stunden vor ihren Geräten, Onlinespielsüchtige zum Beispiel 16 bis 18 Stunden täglich oder sogar mehr.

Heute benutzen viele Menschen Smartphones und bestimmte Apps viele Stunden am Tag. Woran kann man erkennen, ob jemand schon süchtig ist?

Das lässt sich meines Erachtens im Vergleich zur stoffgebundenen Sucht ganz gut definieren. Am Anfang macht der Konsum des Internets Spaß, es ist ein Belohnungskonsum. Der Umschlag von Gewohnheit zum Krankhaften lässt sich etwa daran erkennen, dass der Betreffende mit dem Spiel oder etwa dem Onlinekaufen fehlende soziale Aktivitäten oder Hobbys kompen-siert. Belohnung und Befriedigung holt er sich dann nur noch aus dieser Quelle, dem Internet.

Hilft es, wenn Mitmenschen oder Kollegen darauf hinweisen?

Das ist ein wichtiger Anzeiger dafür, wo der Betroffene steht: Kritische Rückmeldungen aus dem Umfeld führen beim Abhängigen nicht etwa zu einem Überdenken, sondern lösen eine Art Trotzreaktion aus. Ein Student weiß, dass er die Klausur nicht schafft, wenn er weiter spielt. Aber ihm ist das nächste Level längst wichtiger als die Klausur.

Und wenn man den Zugang zum Netz blockiert ...

… dann fühlt sich der Süchtige schlecht. Wenn der Entzug des Internets nervös, unruhig oder gereizt macht, ist das ein eindeutiges Alarmsignal.

Was bedeutet das für unseren Umgang mit digitalen Medien – gerade für Kinder?

Ich bin dagegen, ausschließlich mit Zeitbegrenzungen und Verboten zu arbeiten. Also zu sagen, dass jemand nur noch für zwei Stunden ans Handy darf oder eine App aufrufen kann. Das ist bestenfalls Notwehr, sie ändert nichts am Kern des Problems.

Und der wäre?

Es geht darum herauszufinden, welche psychische Funktion die Internetnutzung hat. Anstatt dem Jugendlichen oder dem Partner ein Zeitlimit zu setzen, sollte man sich sehr gründlich damit befassen, wozu er das Internet oder die jeweilige App eigentlich benutzt. Was befriedigt die Person daran? Was kompensiert sie damit?

Das ist eine langwierige Debatte. Zeitlicher Entzug hingegen wirkt schnell.

Aber er führt ja nicht zu einem kontrollierten Verhalten. Es geht darum, mit dem Internet selbstbestimmt und bewusst umgehen zu können. Eine Schnapsflasche können Sie wegsperren, das Internet ist überall. Und eine vollständige Abstinenz vom Internet ist in unserer heutigen Gesellschaft weder vorstellbar noch wünschenswert.

Sollte man das Smartphone als Belohnung einsetzen – oder als Strafe?

Es ist völlig falsch, die Nutzung des Mediums als Erziehungsmethode anzuwenden, indem man etwa sagt: Wenn du das machst, dann darfst du eine Stunde an dein Tablet.

Warum ist das falsch?

Weil es den psychologischen Mechanismus der Belohnung nicht durchbricht, sondern verstärkt. Wem man das Tablet zur Strafe wegnimmt, der schwelgt darin, wenn er es wieder nutzen kann. Das ist Dressur, also Verstärkung der Abhängigkeit. Und wenn man gewünschtes Verhalten von Kindern etwa mit Extrazeit am Smartphone belohnt, wird der subjektive Wert der Medien erhöht. Das ist längerfristig nicht vorteilhaft.

Stehen wir eigentlich am Anfang oder am Ende einer Entwicklung, die durch die Technologie Internet ausgelöst wird?

Ich verlasse mich da auf Daten, und die sagen mir, dass wir das Schlimmste erst vor uns haben. Der Anteil der Menschen, die mit der natürlichen Nutzung des Internets von klein an aufwachsen, nimmt in der Bevölkerung ständig zu. Das lässt erwarten, dass das aktuelle gesellschaftliche Problem zunimmt und sich nicht in Wohlgefallen auflöst.

Das sind ja nicht per se Süchtige.

Aber die Zahl derer, bei denen die Nutzung von normal oder intensiv auf süchtig umschlagen kann, steigt ständig an. Das sind keine Einzelfälle, sondern ein bis drei Prozent der Bevölkerung – also Hunderttausende. Wir stehen vor einer Lawine, die da auf uns zurollt. Ich sehe dringenden Handlungsbedarf.

Was heißt das?

Wir müssen vorbeugen und Menschen helfen, die die Kontrolle über ihre Internetnutzung verlieren. Dazu brauchen wir grundsätzlich die Einsicht, dass das Netz oder bestimmte Apps süchtig machen können. Dann verstehen wir das Netz nicht mehr nur als Ort der Möglichkeiten, sondern als verschalteten Raum mit unzähligen Belohnungshäppchen, die auf Onlinesüchtige wirken wie Schnapspralinen auf Alkoholabhängige.

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