Der Freitag: Herr Bahls, seit unzähligen Jahren werden Jungen beschnitten, ohne dass dies jemanden gerührt hätte. Plötzlich ist der Beschneidungsritus Gegenstand einer hitzigen Debatte. Was ist da los?
Christian Bahls: Europa ist eine humanistische Wertegemeinschaft, die das Recht auf körperliche Unversehrtheit hoch schätzt und gut schützt. Nun hat eine Gericht in diesem Sinne geurteilt, und die Beschneidung eines Jungen genannt, was sie ist: die absichtsvolle Körperverletzung eines Kindes in jüngstem Alter. Es ist gut, dass dieses Urteil endlich da ist. Es sagt: Eine solche Traumatisierung ist nicht hinnehmbar!
Die Bundesregierung sagt etwas ganz anderes: Wir müssen schnell Rechtsfrieden herstellen – und die Beschneidung von Jungen erlauben.
Der Skandal ist weder das Urteil noch die öffentliche Debatte darüber, sondern diese Reaktion. In jeder Hinsicht. Die Bundesregierung ist drauf und dran, eine massenhafte Körperverletzung zu legalisieren. Das ist ein Verstoß gegen die Verfassung, gegen das Recht des Kindes und gegen die Gleichbehandlung. Die Beschneidung von Mädchen wird unter Strafe gestellt und richtigerweise als Genitalverstümmelung gebrandmarkt. Die Beschneidung von Jungen hingegen soll ausdrücklich erlaubt werden. Ein Junge erleidet starke, traumatische Schmerzen, unter Umständen gefesselt auf einem Operationstisch. Politiker vergleichen diese Tortur mit dem Stechen eines Ohrlochs. Die Bundesrepublik gibt rechtsstaatlich ein jämmerliches Bild ab.
Und Sie relativieren die grausame Praxis, Mädchen große Teile der Klitoris abzutrennen. Mit der Folge, dass diese Mädchen als Frauen nicht mehr in der Lage sind, Lust zu verspüren.
Wer relativiert? Ich jedenfalls nicht. Ich finde es richtig, beides zu verbieten und unter Strafe zu stellen. Ich sage klar und laut: Beschneidung ist Beschneidung, das Recht auf körperliche Unversehrtheit gilt für Jungen wie für Mädchen gleichermaßen. Relativiert wird von anderen, darunter Verfassungsorgane und grüne Moralapostel. Der Bundestag will am Donnerstag sogar im Hauruck-Verfahren eine Resolution verabschieden. Da wird eine Verletzung mit der anderen abgewogen und behauptet, die eine ist grausamer als die andere. Menschenrechte sind unteilbar! Das ist einer der fundamentalen Sätze des Rechts. Wer anfängt, eine Körperverletzung zu dulden und zu legitimieren, der kann nicht mehr glaubwürdig begründen, wo die Grenze zu ziehen ist.
Was sehen Sie diese Grenze?
Wir stehen seit über zwei Jahren beinahe hilflos vor einer schrecklichen Menschenrechtsverletzung: Der Verletzung der körperlichen und seelischen Integrität von Mädchen und Jungen durch sexuelle Gewalt. Die Öffentlichkeit ist wie traumatisiert von den systematischen Grenzüberschreitungen, die Kinder erleiden, weil Täter in Institutionen und auch Eltern sie im großen Stil für ihre Triebbefriedigung missbrauchen. Beinahe täglich übermitteln uns die Medien neue Horrormeldungen von Übergriffen bis hin zur Vergewaltigung in Kinderzimmern, Internatswohnheimen und Sakristeien. Gesellschaft und Staat können damit nicht umgehen. Sie tun sich schwer, diese Kinder zu schützen. Jetzt aber, wo ein Gericht das Recht des Kindes endlich ernst nimmt, kommen die staatlichen Organe quasi über Nacht und überlegen laut, wie man eine Körperverletzung legitimieren kann. Ich finde das ungeheuerlich – für die Kinder genau wie für die Opfer solcher Traumatisierungen. Man hilft uns nicht, man stößt uns zurück.
http://img861.imageshack.us/img861/3401/bahls.jpgHerr Bahls, die Bundesregierung hat mehrere Minister an den Runden Tisch gegen sexuellen Kindesmissbrauch entsandt. Es herrscht der Wille, etwas gegen sexualisierte Gewalt zu unternehmen, genau wie für die Prävention und die Entschädigung.
Ich höre das wohl, aber ich glaube das nicht. Was haben wir Betroffenen denn wirklich erreicht? Die Justizministerin verhindert die Etablierung eines Klagerechts für Betroffene nach Ende der Verjährungsfrist, so dass der erste Betroffene vor Verzweiflung in den Hungerstreik getreten ist...
… Sie meinen Norbert Denef, den Gründer des Netzwerks-B für Betroffene...
… ja. Die Familienministerin als die zuständige für die wichtigsten Gesetze und Geldleistungen verschleppt das Thema Missbrauch. Und die Bundesländer weigern sich schlicht, ihren Anteil von 50 Millionen Euro in einen Entschädigungsfonds einzubringen. Ich sehe nicht, was der große Missbrauchsskandal tatsächlich verändert hat – außer, dass die Medien ein Aufregerthema mehr bekommen haben.
Pardon, Herr Bahls, was hat Missbrauch mit Beschneidung zu tun?
Es sind beides schwere Angriffe auf die sexuelle Selbstbestimmung von Kindern – und beide werden nicht konsequent geahndet. Das bedeutet, dass Gesellschaft und Staat ihre Schwächsten, die Kinder, zwar wortreich hochleben lassen. Aber wenn es darauf ankommt, hilft den Kindern fast niemand.
Immerhin ist körperliche Züchtigung von Kindern seit Jahren verboten.
Genau. Und deswegen ist nicht einzusehen, warum eine Ohrfeige nicht sein darf, aber am Penis eines Jungen herumgeschnibbelt wird, dass er schwere Schmerzen erleidet.
Das ist richtig. Dennoch ist Beschneidung ein uralter religiöser Brauch.
Eine Körperverletzung wird nicht dadurch besser, dass sie seit langem praktiziert wird. Es gibt nicht wenige Berichte von Männern, die zeigen, wie schmerzhaft Beschneidung ist. Immerhin wird dem Jungen der sensibelste Teil des Penis abgesäbelt, 30 bis 50 Prozent der Vorhaut werden entfernt. Das so genannte gefurchte Band, das dabei verloren geht, ist so tastempfindlich wie das Gewebe der Lippen.
Wieso lehnen sich Männer nicht dagegen auf?
Ich finde es geradezu obszön, den Männern vorzuwerfen, sie stünden nicht gegen ihre Beschneidung auf – immerhin hat man ihnen den Penis eines sensitiven Teils bereits als Kind beraubt. Sie können also gar nicht wissen, was sie an Lustempfinden eingebüßt haben.
Professionelle Beschneider wenden ein, dass ein Verbot dazu führt, dass auf Küchentischen und in Hobbykellern beschnitten wird – mit schweren Folgen für die Gesundheit der Jungen.
In den USA, wo die Beschneidung übliche Praxis ist, sterben mehr Jungen an der Zirkumzision als am plötzlichen Kindstod. Ganz zu schweigen von den 1.000 schwer verletzten Jungen, die jedes Jahr in den USA ihre ganze Eichel verlieren. Beschneidung ist richtig gefährlich – auch dann, wenn sie angeblich kunstgerecht durchgeführt wird.
Sie stellen das Recht des Kindes sehr hoch. Was machen Sie mit der Freiheit der Religionsausübung und dem Recht der Eltern auf Erziehung ihrer Kinder? Auch diese Rechte haben Verfassungsrang...
… mehr noch. Neuerdings zitieren sogar Grünen-Politiker Stellen des Alten Testaments, um Politik zu machen. Ich finde das entsetzlich. Volker Beck zum Beispiel, der als Homosexueller durch althergebrachte religiöse Einstellungen und Gesetze in seiner sexuellen Selbstbestimmung massiv verletzt wird, ausgerechnet dieser Mann zitiert Genesis. Dass er darin wenig Übung hat, sieht man daran, dass die Stelle nicht vollständig wieder gibt. Es heißt dort, „es soll der in deinem Haus geborene und der Sklave sich beschneiden lassen“. Die Sklaven lässt Beck natürlich weg – sonst müsste er womöglich als grüner Innenpolitiker wieder für die Leibeigenschaft sein. Also, wenn man intellektuell redlich sein will, dann bitte die ganze Bibelstelle.
Dass der bekennende Beck nicht bibelfest ist, ist das eine. Das andere ist aber, dass Sie etwas zum Recht der freien Religionsausübung sagen sollten. Der Zentralrat der Juden sagt, ohne Beschneidung wäre jüdisches Leben letztendlich nicht mehr möglich.
Wenn ich Recht sehe, sind nur ein Fünftel der jüdischen Männer beschnitten. Ist das eine Mehrheit? In Deutschland leben also Juden, die nicht beschnitten sind. Wieso überlässt man die Entscheidung nicht den jüdischen jungen Männern selbst? Ein Tattoo darf man sich alleine nur stechen lassen, wenn man 16 Jahre alt ist. Wieso sagt man nicht, die Männer sollen mit 18 entscheiden, was mit ihrem Penis geschieht?
Können Eltern das nicht tun?
Das Elternrecht als Grundrecht endet dort, wo es in höherrangige Rechte Anderer eingreift, zum Beispiel das Recht des Kindes auf körperliche Unversehrtheit. Da hilft dann auch kein Elternrecht. Es hat dem Wohl des Kindes zu dienen. Davon kann aber hier nicht die Rede sein.
Herr Bahls, darf ich Sie fragen, was Sie antreibt, in dieser Frage so energisch und kompromisslos zu argumentieren?
Ich bin ein von sexuellem Missbrauch Betroffener. Ich weiss, wie es sich anfühlt, wenn Körper und Sexualität eines Kindes nicht respektiert werden. Ich möchte daher, dass Kinder im Binnenverhältnis zu ihren Eltern und zu Erwachsenen gestärkt werden. Dazu ist der Staat da: Schwache zu schützen. Für die Kinder – und für den Rechtsstaat selbst – ist es eine Katastrophe, wenn seine Beschützer ihn im Stich lassen.
Christian Bahls ist Diplom-Mathematiker und promoviert als Ingenieur in der Elektrotechnik. Er gründete während der Debatte um Internetsperren den MOGiS e.V., der aktiv die Interessen und Belange von Betroffenen sexuellen Kindesmissbrauchs vertritt und nun mit "MOGiS und Freunde" eine Netz-Lobby für Kinderrechte etabliert. Er behauptet nicht, selbst beschnitten worden zu sein.
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