Sie ist eine Rote. Eindeutig. Nicht nur wegen der Farbe, die sie am liebsten trägt. „Es ist entscheidend, sich die oberste Spitze des Einkommens anzuschauen. 0,1 Prozent der US-Amerikaner verfügen über acht Prozent des gesamten Vermögens.“ Die das sagt, heißt Chrystia Freeland. Sie ist die Autorin des Buchs Die Superreichen. Der Untertitel der englischen Version von Freelands Plutocrats verrät, wie die 48-Jährige denkt. „Der Aufstieg der neuen globalen Superreichen – und der Niedergang aller anderen.“ Das Ziel der Wirtschaftsjournalistin ist es, diesen Niedergang zu stoppen.
Sie ist eine Verliererin. Das ist sehr wahrscheinlich. Vergangene Woche sah man Freeland nicht als eloquente Autorin, sondern als eine enttäuschte, mit den Tränen ringende Frau. Freeland hatte da gerade als kanadische Handelsministerin den Regierungssitz der Wallonie verlassen, wo ihr mitgeteilt wurde, dass das Handelsabkommen CETA zwischen Kanada und der EU dort nicht akzeptiert wird. Wallonien ist bettelarm und winzig, es passt 600 Mal in das riesige Kanada. Dennoch kann der Teilstaat wegen einer belgischen Verfassungsbestimmung den Vertrag stoppen, der seit sieben Jahren verhandelt wird und 500 Millionen Europäer betrifft.
Für Chrystia Freeland endete in diesem Moment eine lange Reise, die sie von ihrem Buch für eine gerechtere Wirtschaft bis zum Posten der kanadischen Handelsministerin geführt hatte. Sie wollte CETA verbessern. „Ohne Chrystia Freeland wären wir niemals so weit gekommen“, kommentierte die Generalsekretärin der SPD, Katarina Barley. „Sie hat ermöglicht, dass wir Sozialdemokraten für ein anderes CETA kämpfen konnten.“
Freelands Reise beginnt in Deutschland. Genauer ist es die ihrer ukrainischen Mutter Halyna Chomiak, die in Bad Wörishofen in einem Flüchtlingslager geboren wird. Wie ihre Mutter, eine Anwältin und Feministin, hat Freeland ein Faible für soziale Veränderungen und Gerechtigkeit. In Kanada aufgewachsen, besucht sie das United World College der Adria in Duino (Italien), wo traditionell viele Schüler vom Balkan Abitur machen. Danach geht sie nach Harvard, wo sie russische Geschichte und Literatur studiert. Als Austauschstudentin beginnt sie in Kiew als freie Journalistin für die New York Times zu arbeiten, später wird sie Bürochefin der Financial Times in Moskau. Ihr Interesse für wirtschaftliche Entwicklungen jenseits des Tagesgeschäfts ist geweckt. Sie schreibt ein Buch über den „Ausverkauf des Jahrhunderts“ – die sozialen Verwerfungen des Übergangs der kommunistischen Sowjetunion in ein kapitalistisches Russland.
Sie wechselt nach New York. Dort beobachtet und analysiert sie 2012 die Plutokraten, die Superreichen. Ausgangspunkt ihrer Analyse sind die großen Einkommensunterschiede in den westlichen Staaten. In New York erlebt sie als Wirtschaftsjournalistin direkt, wie eine neue Klasse entsteht. Es sind Börsenmakler, Anwälte und Fondsmanager, die 20 oder 30 Millionen Dollar im Jahr einsacken. Sie sehen sich als eine neue meritokratische Elite, die ihre Geld nicht erbt, sondern durch Leistung verdient – und daher nicht einsieht, warum sie es via Steuern mit anderen teilen sollte.
Freelands Ansatz aber ist kein anekdotischer, sondern ein analytischer. Ihr fällt erstens auf, dass sich der Reichtum verändert. In den 1980er Jahren besaß ein Prozent an der Einkommensspitze der USA zehn Prozent des Volksvermögens, heute verfügt es bereits über 20 Prozent. „Die Einkommen der Mittelklasse fingen an zu stagnieren, während sich die Spitzeneinkommen von allen anderen abzukoppeln begannen.“ Waren Buffett und Bill Gates verfügten Mitte der 2000er Jahre über 95 Milliarden Dollar; genauso viel wie die unteren 40 Prozent der US-Amerikaner besitzt, und das sind 120 Millionen Menschen.
Zweitens lernt Freeland als Journalistin, dass es nicht opportun ist, die aufgehende Schere direkt anzusprechen. Es ist erlaubt, über Armut zu sprechen, auch über Reichtum. Aber es ist falsch, die Einkommensunterschiede als Ungleichheit zu thematisieren, als Riss durch die Gesellschaft. Für sie Anlass, genau das zu tun – in ihrem Buch. Sie zitiert Bill Clinton, der seinen Nachnachfolger Barack Obama dafür kritisierte, dass er zu deutlich gegen die Reichen gewettert habe: Die Börsenleute hätten ihn, Clinton, unterstützt, „denn ich habe sie nie wegen ihres Erfolges angegriffen“.
Als Justin Trudeau, der heutige Ministerpräsident Kanadas, 2013 eine Lesung von Chrystia Freeland hört, spricht er sie an. Wenn sie wolle, müsse sie die Einkommensunterschiede in der Welt nicht mehr nur beschreiben, sondern sie könne etwas dagegen tun, sagt Trudeau. Und bietet ihr an, in die Politik zu gehen. Die Journalistin, gerade Chefin der Agentur Thomson Reuters in New York, zögert, weil sie drei Kinder hat, das jüngste sechs Jahre alt. „Manchmal ist es komplizierter als jegliches Handelsabkommen zu organisieren, wer an einem bestimmten Tag auf meine Kinder aufpasst“, wird sie später einmal sagen. Ihr Mann ist ebenfalls Journalist. Aber dann geht sie den Weg, erobert sich 2013 bei Nachwahlen einen Parlamentssitz für die Liberale Partei Kanadas. 2015 ernennt Trudeau sie zur Handelsministerin. Alle substanziellen Veränderungen, die seitdem zu CETA in einer rechtsverbindlichen Zusatzerklärung vereinbart wurden, fanden unter Chrystia Freeland statt. Darunter die Einsetzung staatlicher Richter für die umstrittenen Schiedskommissionen.
Aber dem wallonischen Regierungschef reichte das nicht. Er erklärte die Ablehnung damit, dass die Bauern unter kanadischen Einfuhren leiden würden. Es dürfte der Moment gewesen sein, in dem Freeland die Gespräche abbrach. Sie kennt das Bauernleben. Sie verbrachte ihre halbe Jugend auf dem Traktor. Neben ihrem Vater sitzend, wenn er die Felder seiner Farm pflügte.
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