Dienst nach Vorschrift

Bildung Bei der Hilfe für Flüchtlinge und Asylbewerber werden die Schulen im Stich gelassen. Geld vom Bund gibt es nicht. In den Ländern formiert sich der Widerstand
Auch wenn Bildungsministerin Johanna Wanka in der Bundespressekonferenz etwas anderes suggerierte: Von den sechs Milliarden ist kein Cent für Schulen vorgesehen
Auch wenn Bildungsministerin Johanna Wanka in der Bundespressekonferenz etwas anderes suggerierte: Von den sechs Milliarden ist kein Cent für Schulen vorgesehen

Foto: Metodi Popow/imago

Bund und Länder arbeiten bei der Flüchtlingshilfe an Schulen nach der Methode „Dienst nach Vorschrift“. Das heißt, es fehlen an allen Ecken und Enden ausgebildete Lehrer im Fach „Deutsch als Fremdsprache“, und auch die so dringend benötigte Schulpsychologie pfeift aus dem letzten Loch. Das zeigen Recherchen des Freitag an Schulen mit Willkommensklassen und Nachfragen in den Ländern.

Nach eine Umfrage fehlen in den Bundesländern rund 11.000 ausgebildete Lehrer, die Deutsch als Zweitsprache unterrichten können. Die Länder sind nur bereit, 3.000 Pädagogen für die Tausenden neu eingerichteten Flüchtlingsklassen einzustellen. Allein in Bayern hat sich Zahl der Klassen verdoppelt, dort beginnen nächste Woche 471 statt bisher 260 so genannter Einsteigerklassen. Neue Lehrer werden dort aber nicht eingestellt, sagte ein Sprecher. In Sachsen sind es 300 Integrationsklassen, in Niedersachsen ebenfalls knapp 300. Die Präsidentin der Konferenz der Kultusminister, Brunhild Kurth, konnte in der Bundespressekonferenz auf die Frage eines französischen Journalisten nicht einmal die Zahl der so genannten Willkommensklassen zu Beginn des neuen Schuljahres beziffern. „Eine solche Statistik wird von der KMK nicht geführt“, gab ein Sprecher zu.

Die stellvertretende Ministerpräsidentin von Nordrhein-Westfalen, Sylvia Löhrmann (Grüne), sagte dem Freitag, die Flüchtlingshilfe in den Schulen sei eine nationale Aufgabe. „Deshalb reicht es nicht, wenn sich der Bund mit Einmalzahlungen an dieser gesamtstaatlichen Herausforderung beteiligt. Vielmehr muss der Bund jetzt endlich und grundsätzlich Länder und Kommunen strukturell entlasten“. Die Schulministerin fordert, dass der der Bund den Ländern eine angemessene Pauschale pro Flüchtling zahlen sollte. Die Rede ist von 12.500 Euro. Löhrmann ist eine Gegnerin des so genannten Kooperationsverbots, das es dem Bund verbietet, Schulen zu helfen.

Auch Brunhild Kurth, forderte den Bund zu mehr Hilfen auf. "Bund und Länder müssen sich als Verantwortungsgemeinschaft verstehen", sagte Kurth dem Freitag. Die CDU-Schulministerin sieht den Bund in der sozialen Integration in der Pflicht: "Die Länder müssen die zusätzlichen Lehrereinstellungen stemmen. Aber was Schule auch benötigt, sind Schulsozialarbeiter und psychologische Dienste für die traumatisierten Kinder."

Unterdessen beginnen bei der Flüchtlingshilfe die hässlichen Zuständigkeitsspielchen zwischen Bund und Ländern, die mit dem „Kooperationsverbot“ zusammen hängen. Die Bildungsministerin des Bundes, Johanna Wanka (CDU), erweckte in der Bundespressekonferenz den Eindruck, dass in der für das Jahr 2016 beschlossenen Hilfe von sechs Milliarden Euro auch Investitionen in Schulen enthalten seien. „Herr Schäuble spricht darüber gerade im Bundestag“, sagte Wanka, „das muss nur noch im Detail ausgehandelt werden.“ Unterdessen verneinten Ländervertreter, dass beim Koalitionsgipfel Geld für Schulen beschlossen worden sei. Tatsächlich ist von den sechs Milliarden kein Cent für Schulen vorgesehen.

Statt ein eigenes Programm für Flüchtlingen aufzulegen, will Frau Wanka die neu Ankommenden nun in Kurse bringen, die für deutsche Analphabeten vorgesehen sind. „Ich will ausdrücklich hervorheben“, sagte Wanka bei ihrer alljährlichen Pressekonferenz zur Alphabetisierung Deutscher, „dass diese Programme für Flüchtlinge offen stehen, um sie beim Deutschlernen zu unterstützen.“ Dazu muss man wissen: Alphabetisierung und „Deutsch als Fremdsprache“ sind zwei völlig unterschiedliche Kursformen.

In den Schulen werden unterdessen alle Anstrengungen unternommen, um die schulpflichtigen Kinder gut aufzunehmen und zu unterrichten. „Das wichtigste ist, dass die Kinder sich angenommen fühlen“, sagte die Leiterin der Gesamtschule Saarn in Mühlheim, Gerhild Brinkmann. An der Gesamtschule in NRW wird ein spezielles Konzept der Eingliederung praktiziert: Die jungen Asylbewerber werden sofort einer Regelklasse zugeteilt und dort auch sozial integriert. Sie lernen nebenher intensiv Deutsch in Einsteigergruppen und fädeln in die normalen Klassen ein, sobald sie genug Deutsch können.

Die Schulen organisieren sich selbst ehrenamtliche Helfer, etwa von deutschen Lesepaten für die Flüchtlinge oder von Muttersprachlern aus dem arabischen Raum. Die drei wichtigsten Probleme sind: Zu wenig ausgebildete Deutschlehrer, kaum Schulpsychologen, die die möglichen Traumata der Schüler bearbeiten – und die andauernde Drohung auf Abschiebung. „Wir bauen die sozialen Gruppen in der Schule mühsam auf – dann zerreißt die Abschiebung den Zusammenhang wieder“, sagte die Leiterin einer Willkommensklasse.

Lesen Sie mehr zu diesem Thema in der kommenden Ausgabe 37/15 des Freitag

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