Wer als Journalist bei Rupert Neudeck anrief, musste verdammt schnell sein. Im Kopf und beim Mitschreiben. Was dieser kleine, alte, unfassbar dynamische Mann in wenigen Momenten an Formeln, Forderungen und weitreichenden Ideen produzierte, überstieg das Fassungsvermögen beinahe jedes Textes. Ein Feuerwerk von Empathie, Intelligenz und Sprachwitz. Man ertappte sich schnell bei dem Gefühl von Bewunderung und auch Neid für die reichen Gaben, mit denen der Gründer der „Cap Anamur“ gesegnet war: ein Organisator, ein Barmherziger, ein glänzender Rhetor, ein guter und kluger Schreiber, ein Mutiger, ein Fundraiser (fast 60 Millionen Euro für Vertriebene vom Balkan) – und einer, der bei aller Hilfsbereitschaft, erstaunlich deutlich Forderungen formulieren konnte.
Nein, sagte er beispielsweise kürzlich, unbegleitete minderjährige Flüchtlinge brauchen nicht zwingend den Nachzug der Familie aus Kabul oder Kandahar. Ja, meinte er, man sollte Asylbewerbern einen Zettel in die Hand drücken, auf dem steht: „Dieses Geschenk, dass man erst mal ohne Bezahlung eine Unterkunft, einen Schlafplatz und eine Vollversorgung plus Taschengeld bekommt, muss durch eigene Anstrengungen im Asylheim beantwortet werden.“ Hilf Dir selbst – nur wenige können das so unverblümt fordern, wie Rupert Neudeck es tat.
Neudeck hat Flüchtende aus dem Wasser gezogen, ihnen ein Dach über den Kopf gegeben und messerscharf die politischen Ursachen für ihre verzweifelte Lage analysiert, lange bevor die meisten Deutschen vergangenes Jahr bemerkten, dass sich etwas verändert. Bereits 1979, gründete er – statt Redakteur des Deutschlandfunks zu werden – die Aktion „Ein Schiff für Vietnam“ um sich mit linken Aktivisten für die vietnamesische Zivilbevölkerung zu engagieren.
Die Aktion war öffentlichkeitswirksam, weil der französische Philosoph André Glucksmann und Heinrich Böll zusammen als Co-Autoren dieser wegweisenden Idee auftraten. Und es war humanitär, weil sie über 11.ooo Boatpeople vor dem Ertrinken aus dem Südchinesischen Meer retteten. Wir erinnern uns, dass die Bundesregierung wochen- und monatelang zusah, wie die Menschen im Mittelmeer starben, ehe ein Bewusstsein dafür einsetzte, dass sie in ihrer Untätigkeit mitverantwortlich für die Tode war.
Neudeck war ein wandelndes Paradoxon, bekannt wie ein bunter Hund, auch wegen seines flinken frechen Mundwerks – die SZ nannte ihn einen "humanen Quälgeist" – trotz seiner Bescheidenheit und Zurückhaltung. Er dachte immer groß und handelte lokal und konkret. Seine Grünhelme, gestartet zusammen mit dem Vorsitzenden des Zentralrats der Muslime in Deutschland Aiman Mazyek, förderten den Wiederaufbau im Kosovo mit Hilfen für die Menschen, damit sie sich ihre eigenen Häuschen bauen können – und das in multireligiösen Teams.
Auch für Syrien schlug er vor, dass eine wichtige Perspektive für das Land der unterstützte Wiederaufbau durch die Syrer selbst sein könnte. Dem Staat traute Neudeck nie recht. „Ich hänge an der alten Form der Trennung von staatlichen und nichtstaatlichen Helfern“, sagte er dem Freitag, als der Taifun Haijan über die Philipinen raste. „Das heißt: Die Nichtregierungsorganisationen müssen regierungsfrei bleiben.“
Rupert Neudeck war einerseits ein Dinosaurier der Nothilfe, andererseits war er modern. Er interpretierte Hilfe als Aktivierung, statt sich auf Gefühle des Mitleids zu beschränken. Bei seinen Grünhelmen verpflichteten sich junge Handwerker, in Krisengebieten beim Aufbau zu helfen. Das war seine Philosophie in den Zeiten der Big-Business-Barmherzigkeit: „Nothilfe ist ein riesiger Wirtschaftszweig geworden, der eine Fundraising-Industrie beschäftigt“, sagte er. „Das ist aus professioneller Sicht manchmal hilfreich, aber es darf den Zweck der Hilfsorganisationen, das schnelle und gezielte Helfen, nicht bestimmen."
Was genau die biografischen Motive für Neudecks zupackende Nächstenliebe waren, wusste wahrscheinlich nicht mal er. Vielleicht, weil er bei den Jesuiten, später bei Albert Camus und Jean-Paul Sartre (über die er seine Doktorarbeit schrieb) das Helfen erforschte? Möglicherweise auch, dass er einmal in seinem Leben das Glück hatte, zu langsam gewesen zu sein – als Fünfjähriger zusammen mit seiner Familie, als sie 1945 die „Wilhelm Gustloff“ nicht mehr erreichten bei ihrer Flucht aus Danzig. Das Schiff wurde von einem sowjetischen U-Boot versenkt. Neudeck blieben noch 71 Jahre, um Menschen zu retten und sie in Arbeit und Brot zu bringen. Am Dienstag starb Rupert Neudeck nach einer Herzoperation.
Was ist Ihre Meinung?
Kommentare einblendenDiskutieren Sie mit.