Schon wieder wird das deutsche Bildungsunglück beklagt. Bei der Friedrich-Ebert-Stiftung kommen am 2. Juni unter anderem der Vize-Bundesvorsitzende der SPD, Ralf Stegner, und der Autor Marco Maurer zusammen. Maurer wird wohl erneut die These zum Besten geben, dass „von der Bildungsoffensive der 1960er und 1970er Jahre, als Hunderttausende Nichtakademikerkinder Abitur machen und studieren konnten, nichts geblieben ist“. Das aber ist falsch. Und man muss sich fragen, warum eine seriöse Organisation wie die Friedrich-Ebert-Stiftung derartig verkürzten Behauptungen erneut ein Forum bietet.
Tatsächlich ist die Zahl der Studierenden so groß wie nie zuvor in Deutschland. 2,8 Millionen Menschen sind an den Universitäten eingeschrieben, die Zahl der Abiturienten strebt neuen Rekordwerten entgegen. Die Quote der Studienberechtigten eines Jahrgangs lag zuletzt (2012) bei 59,6 Prozent. Auch der aktuelle Schülerjahrgang wird wieder nahe an diese Marke herankommen. Das Schulsystem stattet inzwischen sechs von zehn Kindern mit Abitur oder Fachabitur aus. Das heißt, dass immer mehr Kinder aus Familien das Abitur ablegen, in denen das nie zuvor der Fall war. Der Aufstieg aus Migranten- und Arbeiterfamilien in die Hochschulen war noch nie so einfach wie heute. Wir sind Zeugen der zweiten Bildungsrevolution nach Willy Brandts Ausbau der Hochschulen in den 70er Jahren. Die Abiturraten haben sich seither verdreifacht. Kurz: Die Bildungsrepublik war nie gerechter als heute.
Radikale Konkurrenz
Das bedeutet freilich nicht, dass edukatorische Chancengleichheit damit wirklich durchgesetzt wäre. Und es lässt auch noch keine Aussage darüber zu, wohin eine solche Chancengleichheit führt oder führen würde. Ob es bei der Friedrich-Ebert-Stiftung jetzt eine Auseinandersetzung über solche trickreichen Fragen geben wird? Zu vermuten ist eher, dass dort einfach die alte sozialdemokratische Illusionsmaschine wieder einmal angeworfen werden soll.
Wer den großen Widerspruch zwischen dem lauten Wehklagen über die Chancenungleichheit und der Realität des neuen deutschen Bildungsbooms verstehen will, sollte bei Oliver Nachtwey nachschlagen. Der Ökonom und Soziologe, derzeit vertretender Professor am Lehrstuhl für Soziale Ungleicheit an der Frankfurter Goethe-Universität, klärt das Paradoxon jetzt auf, in seinem Buch Die Abstiegsgesellschaft. Über das Aufbegehren in der regressiven Moderne. Die Lektüre ist ein intellektuelles Vergnügen, erheiternd ist die Analyse der harten sozialen Wirklichkeit, des Auf- und Abstiegs-Paternosters, freilich nicht.
Nachtwey benennt das herrschende ökonomische Modell unmissverständlich als „Abstiegsgesellschaft“, und das hat (zunächst) nichts mit Bildung zu tun. Ihm entgeht nicht, dass sich der Zugang zu Bildung massiv ausgeweitet hat. „Bevölkerungsgruppen, für die zuvor der Hauptschulabschluss das Ende der Qualifikationsleiter bedeutet hätte, können nun studieren“, schreibt er. Aber der Blick des Professors reicht weiter. Er weiß, dass den Bildungstiteln ein verborgener Mechanismus eingeschrieben ist: Sie suggerieren Aufstieg – aber was die ökonomischen Prozesse und Postenzuweisungen daraus machen, ist eine andere Geschichte. Nachtwey sieht im herrschenden Arbeitsmarktmodell vor allem Verunsicherung und Abstieg.
Nachtweys Analyse legt offen, wie viel sozialer Sprengstoff in den vermeintlichen neuen Aufstiegsmöglichkeiten – und den Debatten darüber – steckt. Das gilt auch für die Hartz-Gesetze. Der Soziologe verweist auf die Wirkung ökonomischer Inklusion, „die statt einem Mehr an Gleichheit ein Mehr an Ungleichheit produziert“. Die Agenda 2010 schuf demnach ein Paradoxon: „Die Folge war, dass mehr Menschen schneller und unmittelbarer am Arbeitsmarkt partizipieren können, dort aber weniger Rechte, weniger soziale Sicherheit und geringere Einkommen haben.“ Auch die beste Abiturnote hilft nicht, wenn es keine gut bezahlten, verlässlichen Jobs gibt.
Damit das gesellschaftliche Fairness-Narrativ einigermaßen funktioniert, braucht es die Kombination von Chancengleichheit (in der Bildung) und einem vordergründig auf ausgeweitete Beschäftigung und Leistung getrimmten Arbeitsmarkt. Das klingt dann nach einer perfekten Meritokratie der „reinen sozialen Mobilität“. Nachtwey schreibt: „Chancengleichheit ist das Gerechtigkeitsprinzip einer individualisierten Gesellschaft.“ In der Realität setzt diese Kombination aber Mechanismen in Gang, die eben den Begriff Abstiegsgesellschaft rechtfertigen: Eigenverantwortung wird radikalisiert, Konkurrenz wird zum ubiquitären Prinzip, soziale und solidarische Bindungen gehen dabei verschüttet. „Je mehr eine Gesellschaft auf Chancengleichheit setzt, desto ungleicher wird sie und desto legitimer werden die Ungleichheiten“, lautet Nachtweys Kernsatz.
Das lässt sich an vielen Beispielen aus dem hochqualifizierten Proletariat zeigen. Der Zeitvertragslehrer, der in den Sommerferien entlassen wird. Der Pogrammierer, der üppige Gewinne für die IT- und Internet-Industrie ermöglicht, aber zu den Freigesetzten gehört, auch wenn er qua Selbstdefinition stolz darauf ist, „selbstständig“ zu sein. Der Journalist, der welterklärende Leitartikel als Freelancer verfasst. Schließlich der Autor Oliver Nachtwey selbst, der sich in Kettenverträgen der edelsten unter den Wissenschaftsorganisationen von Job zu Job hangelt und jetzt als Vertretungsprofessor über Ungleichheit spintisiert. Er hat ein stummes Heer von weiteren rund 90.000 Lehrbeauftragten und Privatdozenten hinter sich, deren Alternative heißt: Professur oder doch gleich Prekariat?
Der Begriff, den Nachtwey für die Folgen sozialer Reformen wie der Abiturausweitung oder Hartz IV verwendet, ist der der „regressiven Modernisierung“. Breite Schichten fahren demnach in den Bildungseinrichtungen eine Etage höher – werden aber auf einem Arbeitsmarkt abgeladen, der alle Falltüren der Projekt-, Teilzeit- und Befristungsgesellschaft enthält, in der sich zunehmend auch sogenannte High Potentials tummeln. Edukatorische und ökonomische Chancengleichheit führen erst zu dem, was wir als völlig unübersichtliches Rauf-und-Runter erleben. Wie sieht es da mit einem Aufbegehren aus, mit sozialen Protesten? Nachtwey wäre kein guter Intellektueller, wenn er nicht auch hier einige Luftblasen lustvoll zum Platzen brächte. Ja, er sieht neue linke Protestbewegungen wie Occupy, Podemos oder Syriza – doch fehlten ihnen (noch) ein dauerhafter Sammlungscharakter und die Durchschlagskraft.
Gefährliche Ängste
Parallel dazu baut sich eine Protestwelle anderer Provenienz auf, die womöglich mehr Kohäsionskraft entwickelt: die autoritären Strömungen und Parteien, von Frankreichs Front National über die AfD, Pegida und die FPÖ bis hin zu Ungarns und Polens Rechtspopulisten. All jene profitieren von den Abstiegsängsten. Aber sie liefern keine Antworten – sondern suggerieren eine falsche Übersichtlichkeit. Selbst die simplen und irrationalen Vorurteile von Pegida, schreibt Nachtwey, ergäben so etwas wie einen Sinn, weil sie eine vermeintliche Ordnung in das Chaos der Abstiegssorgen brächten: „Gerade Menschen in Ostdeutschland haben (...) offenbar häufig das Gefühl, zu kurz gekommen zu sein, weshalb sie ihre eigenen (imaginierten) Vorrechte und den eigenen Lebensstil nun umso erbitterter verteidigen.“
Doch auch auf Seiten der Linken findet sich ein Reaktionsmuster auf die regressive Modernisierung, das unterkomplex ist – zu schlicht gedacht und kommuniziert. Etwa indem alte Vokabeln von Arbeiterkampf oder Revolution wieder ausgegraben werden. „Der Klassenkampf des 19. und frühen 20. Jahrhunderts sowie das traditionelle Proletariat werden nicht wiederkommen“, schreibt Nachtwey. Eine Sozialdemokratie und eine Linke, die jetzt den begrifflichen Rückzug auf ihre (ur)-alten Werte anordnen, um die eigene Schrumpfung aufzuhalten, würden etwas zurückwollen, das es nicht mehr gibt.
Auch SPD-Vize Ralf Stegner folgt diesem Prinzip, wenn er nun eine Konferenz leitet, die trotzig weiter Chancengleichheit postuliert – ohne den Menschen, die jetzt im hiesigen Bildungssystem stecken, die regressiven Unterströmungen zu erklären, in die sie geraten. Dabei muss die wichtigste Lektion dieser Tage doch lauten: Mit Aufstiegsträumen spielt man nicht!
Info
Die Abstiegsgesellschaft. Über das Aufbegehren in der regressiven Moderne Oliver Nachtwey Suhrkamp 2016, 264 S., 18 €
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