Ein Buch mit vielen starken Sätzen. „Wenn Lehrer den Unterricht nur noch begleiten, dabei aber selber keinen Sach- und Fachverstand mehr ausstrahlen, wie sollen sie die Achtung der Schüler gewinnen?“, lautet etwa eine Frage. Oder: Schüler wüssten heute so erschreckend wenig, „weil sie zwar alles googeln können, aber unfähig sind, sich in Sachverhalte zu vertiefen“.
Vieles von dem, was Christoph Türcke schreibt, kann man gut beobachtet oder sympathisch finden. Und dennoch bleibt immer ein Unbehagen ob des Vagen, das dem Sirenengesang des emeritierten Philosophen anhaftet. Der 67-Jährige versucht sich – das ist seit Julius Langbehns Rembrandt als Erzieher eine ur-deutsche Disziplin – an einer radikalen Kritik der Schule. Er steht dabei stets in der Gefahr, eine beinahe mystisch aufgeladene Re-Vision des Lernens zu propagieren. Denn Türcke will nicht nach vorne, sondern zurück. Das gute Lernen, die geordnete Schule, der respektheischende Lehrer – das war alles früher. Türcke rechnet nicht mit der zeitgenössischen Schule ab, sondern mit der von morgen: einer neoliberalen, computergesteuerten Schule, bei der die Lernenden darauf konditioniert werden, „sich auf Knopfdruck oder Befehl von jedem Lernstoff sofort zu lösen und sich auf einen anderen einzustellen“.
Betrachtet man eine der am meisten gehypten Erkenntnismethoden unserer Tage, das Design Thinking, so stimmt Christoph Türckes Analyse wahrscheinlich sogar. Design Thinking ist wie Hirnemelken. Aber wie soll eigentlich jenes genau aussehen, das Türcke dagegenstellt? Man weiß es nicht, und es ist zu befürchten, dass auch der Autor selbst es nicht sagen kann. Was er andeutet, ist geradezu reaktionär. Er hält die Zeit reif für eine „menschenwürdige Mehrgliedrigkeit des Schulsystems“. Mit anderen Worten: Türcke will zurück zur gegliederten Schule, einem deutschen Sonderweg, von dem das Land erst in den Nullerjahren abzurücken begann. Die „Feuerzangenbowle“ kann man sich gern auf DVD ansehen, in der Schulrealität ist Dr. Pfeiffer nicht zu reanimieren.
Türcke wird dennoch Anhänger für seine Suada finden. Seine Kritik etwa des „neoliberalen“ Kompetenzbegriffs, den die OECD in einem Husarenstreich eingeführt habe, wird in Reihen der Linken wie auch der AfD geteilt. Der Vielschreiber wird aber auch beim Bildungsbürgertum viele Pluspunkte machen: bei der festangestellten Lehrerschaft, weil auch ihr der „Kompetenzwahn“ auf die Nerven geht, und bei den Anhängern der Klassiker – die, wie Türcke, den „Inklusionswahn“ ablehnen. Inklusion bedeutet, Kindern mit Handicaps die Chance zu geben, Regelschulen zu besuchen. Das ist für viele Eltern eine Hoffnung. Der Autor aber nennt Inklusion nicht etwa eine Chance, sondern eine Methode, „die von ganz oben angeordnet wurde“, diesmal war es nicht die OECD, die uns unterwarf, sondern die Vereinten Nationen.
Die Schule wurde seit der Selbstzerknirschung, die die Schulstudien namens „Pisa“ seit 2001 auslösten, reformiert und verbessert. Aber der deutsche Diskurs über diese Reformen ist derart kakofonisch und katastrophisch, dass man nicht genau weiß, wie die Nation erst reagiert, wenn die nächste Generalreform die Schule erfassen wird – die Digitalisierung und die damit einhergehende Ökonomisierung. Der Autor liefert wichtige Stichworte für das Lernen mit, wie er sie nennt, mikroelektronischen Universalmaschinen. Aber die Unfähigkeit der Bildungskritikaster vom Schlage eines Christoph Türcke, den Bürgern eine radikale Kritik ihrer Schule mitsamt einer verstehbaren Vision zu liefern, ist zutiefst verstörend. Aus dem Off schwingt stets die dunkle Ahnung eines volkspädagogischen Armageddons mit. Das konnte man 1890 Langbehn nachsehen, aber keinem Autor des Jahres 2016.
Info
Lehrerdämmerung: Was die neue Lernkultur in Schulen anrichtet Christoph Türcke C.H. Beck 2016, 159 S., 14,9
Über das Überleben: Die BIlder des Spezials
Jedes Jahr im Sommer entstehen an ukrainischen Fernstraßen kleine private Märkte für Gemüse und Obst. Die Händler richten sich in Hütten ein oder leben mit ihren Familien in Wohnwagen und Zelten. Sie kommen auch aus Weißrussland und Moldawien, Georgien oder Armenien – alle wollen Geld verdienen für ein besseres Leben oder einfach dem Hunger entkommen. Die preisgekrönte Serie Bitter Honeydew des Fotografen Kirill Golovchenko dokumentiert den Überlebenskampf der Straßenhändler und das nächtliche Treiben in ihrer Welt. Das Buch zur Fotoserie ist in fünf verschiedenen europäischen Verlagen erschienen, mehr Informationen auf kirill-golovchenko.com.
Bitter Honeydew Kirill Golovchenko Kehrer 2015, 76 S., 38 €
5 €
Kommentare 5
Bei der Schule liegt natürlich vieles im Argen, Vorbild war Kloster, Militär und Akt 1 der staatlichen Bedummung ist Autorität erkennen und Kopieren. Gewaltenteilung würde fast alles ändern: externe Prüfung.
Akt 2 der staatlichen Bedummung sind die Staatlichen Medien und sie könnten ohne Akt 1 nicht funktionieren
Hallo Christian Füller.
Hirnforscher Gerhard Roth (den ich alles in allem zwar kritisch sehe, der aber in „Der Talk“ bei NDR Info gut aufgelegt war) würde Türcke vermutlich zustimmen. Sein A und O des guten Lernens besteht aus der Beziehung zum Lehrer. Wenn der begeistert und begeisternd ist, so macht das laut Roth, 30 – 50% des Lerneffektes aus. Der Rest ist dann seiner Ansicht nach Wiederholung, Wiederholung, Wiederholung. Mädchen sollen hier i.d.R. besser = fleißiger sein als Jungs. Das Armdrücken der diversen Konzepte von frontal bis aktiv entdeckend ist, ebenfalls Roth folgend, eher nachrangig. Der kluge Lehrer würde das bedarfsgerecht mischen. Hier das Interview.
Sein A und O des guten Lernens besteht aus der Beziehung zum Lehrer. Wenn der begeistert und begeisternd ist, so macht das laut Roth, 30 – 50% des Lerneffektes aus.
Ja, Türcke würde tatsächlich zustimmen, weil einen großen Anteil seines Buches gerade diesem Thema widmet. Eine der zentralen Thesen Türckes ist, dass diese Lehrer-Schüler-Beziehung durch die Kompetenzpädagogik kaputt gemacht worden sei.
In dieser Buchkritik wird sehr stark mit der Holzhammermethode gearbeitet. Kann man machen. Muss aber nicht sein. Insbesondere wenn von hinten durch die Brust das angeblich Querfrontlerische aufs Tablett gestellt wird: "Seine Kritik etwa des „neoliberalen“ Kompetenzbegriffs, den die OECD in einem Husarenstreich eingeführt habe, wird in Reihen der Linken wie auch der AfD geteilt." Diese Behauptung müsste erst mal unterfüttert werden. Sich in Vermutungen zu ergehen, wer Türcke zustimmen wird, ist schon ein bisschen wenig. Wenn man den Autor noch als Vielschreiber anprangert, klingt das auf den ersten Blick nicht polemisch. Ist es aber, da Vielschreiber wird konnotiert, wenig Ahnung von Details zu haben und deshalb nur an der Oberfläche zu kratzen. Es wäre lohnenswerter gewesen, einige zentrale Aspekte herauszugreifen und zu diskutieren. Etwa den doch offensichtlichen Widerspruch des kapitalistischen Systems, das ständig dem Wettbewerb das Wort redet und damit die Ellenbogengesellschaft etabliert, während in den Erziehungseinrichtungen – weltweit – das Solidaritätsprinzip mit dem Namen Inklusion hochgehalten wird. (Eigentlich ist das doch eine schlechte Vorbereitung auf die Realgesellschaft.) Die Folgen ist schon länger zu beobachten, dass die Individualisierung der Leistung und deren Bewertung, dazu führt, dass das Bildungsvermögen sinkt, weil inzwischen den Lehrern jegliches Versagen der Schüler aufgeladen wird. Viele nehmen diese Last vom Berufsverständnis auf sich, sie werden auch entsprechend ausgebildet. Die Pädagogen leiden darunter und versuchen, durch die Anpassung der Leistungsbeurteilung diese Last zu kompensieren. Zu erkennen ist dies beispielsweise in Thüringen, wo 2013 fast 40 Prozent des Abiturjahrgangs eine Eins vor dem Komma hatte. Vor einiger Zeit, also vor PISA und Bologna, gab es bundesweit diese Inflation der sehr guten Noten bei ansteigender Zahl von Abiturienten noch nicht. Es ist nicht aus der Luft gegriffen, wenn Türcke schlussfolgert, dass ein Abitur für alle kein Abitur mehr sei, wie auch ein regulärer Unterricht für alle kein regulärer Unterricht mehr sein könne.
"Eine der zentralen Thesen Türckes ist, dass diese Lehrer-Schüler-Beziehung durch die Kompetenzpädagogik kaputt gemacht worden sei."
Passt ja dann. Ich kann Ihrer Kritik, verdeckter Widerspruch zwischen Leistung und Solidarität, am Beitrag zustimmen, inhaltlich bin auch ich der Meinung, dass die Persönlichkeit des Lehrers sehr viel ausmacht (leider, muss man dazu aber auch sagen) und dass ein Abitur für alle nichts wert ist, ist ja auch unter neoliberalen Aspekten längst erwiesen. Selektiert wird dann eben später, wenn der Chef achselzuckend vor den Kindern mit Bachelor steht, diezu nichts zu gebrauchen sind.