Vor ein paar Tagen erregte der Hamburger Schulsenator Aufsehen. Ties Rabe (SPD) ließ an alle Gymnasien der Hansestadt eine Anfrage richten: Welche Erfahrungen man mit dem schnellen Weg zum Abitur nach 12 Jahren gemacht habe, wollte er wissen. Die Schulen hatten noch nicht geantwortet, da protestierten bereits wütende Eltern. Das sei eine „Verhöhnung der Gegner des Turbo-Abiturs“, erboste sich die Sprecherin einer Elterninitiative. Turbo-Abitur, so nennen sie es, wenn ihre Kinder mit der 12. Klasse das Gymnasium beenden sollen. Aber was ist so empörend daran, wenn der Schulminister eines Landes um Informationen bittet?
Mal wieder geht es auf der Oberfläche um Deutschlands gehetzte Kinder. Der Wahrheit halber aber muss man eine andere Geschichte erzählen: von den Irrungen und Wirrungen zwischen Schulpolitik und Eltern. Letztere haben es geschafft, der langsamsten Politiker-Spezies überhaupt, also den Kultusministern, Beine zu machen. Nun unterwerfen sich immer mehr von ihnen dem Diktat von Eltern, genauer von Gymnasialeltern. In Niedersachsen hat die Landesregierung bereits beschlossen, das achtjährige Gymnasium wieder abzuschaffen. Erst vor zwei Jahren haben die ersten Blitzabiturienten ihre Schulen zwischen Cuxhaven und Göttingen, zwischen Goslar und Nordhorn nach der 12. Klasse verlassen. Jetzt soll die Schulreform schon wieder zurückgedreht werden. Alle zurück auf Los. Aber das ist der Beginn des Endes vom Abitur in Klasse 12. Es ist auch das Ende der Bildungsrepublik und der Anfang der Wahnsinnsrepublik Deutschland.
Die Kultusminister haben Angst. Angst vor den Eltern. Erst haben sie lange deren anschwellende Wut ignoriert, jetzt kuschen sie vor jeder Bürgerinitiative. Und die schießen wie die Pilze aus dem Boden: In allen westlichen Bundesländern gibt es mittlerweile „G9jetzt!“-Gruppen. Sie sind gut organisiert und zwingen die Landesregierungen durch Volksentscheide zum Handeln. Ihr Hassobjekt, wie gesagt, das sogenannte Turbo-Abitur.
Vor gut zehn Jahren erst war der schnelle Weg zur Hochschulreife eingeführt worden. Zunächst hatten das Saarland und Hamburg mehr oder weniger unbemerkt Schnellgymnasien gestartet. Als aber Bayerns Ministerpräsident Edmund Stoiber (CSU) über Nacht das Gymnasium des Pisa-Dauersiegers Bayern ein Jahr kürzer gemacht hatte, waren die anderen Länder wie Dominosteine Richtung G8 gefallen. Für die Ost-Bundesländer war das Abi nach 12 Jahren ohnehin der Normalfall – Proteste, gestresste Schüler oder hysterische Eltern sind hier nicht bekannt geworden. Von den Westländern verweigerte sich allein Rheinland-Pfalz mit einer Art G8,5 dem Trend.
Im internationalen Vergleich
Die Schulabsolventen sollten jünger werden, hieß der Reformslogan damals. Sie seien im internationalen Vergleich zu alt. Das stimmte. Aber das war zu keinem Zeitpunkt ein bildungspolitisches Motiv und so gab es auch keine entsprechende pädagogische Begleitung. Die Kultusminister schnitten dem Abitur einfach ein Jahr ab, behielten aber trotzig die Menge des Lernstoffs bei. Das heißt, das Gymnasium wurde nicht reformiert, sondern gequetscht. Und Edmund Stoiber traf wahrscheinlich die größte Fehlentscheidung seines Lebens. Er chaotisierte die wichtigste Schulform der Deutschen: das Gymnasium.
Beschwerden über gestiegenen Druck, lange Schultage und chaotische Abiturreformen gab es die ganze Zeit. Allerdings mit einer zeitlichen Verzögerung, denn das Schnellabi machte sich im Schulalltag erst ab der achten Klasse bemerkbar. Vor allem der erste, der Doppeljahrgang verbreitete viel Nervosität. Die Eltern sahen ihre Kinder kaum noch, und wenn, dann aufgelöst. Massenhaft wurden außerunterrichtliche Aktivitäten abgesagt, Sport, Klavier, Feuerwehr fielen aus. Die Konkurrenz zum gleichzeitigen letzten G9-Jahrgang erzeugte viel Druck. Aber erst als im Jahr 2009 Reinhold Beckmann in seiner Talkshow über das Turbo- und Schmalspur-Abitur herzog, wachte die mediale Republik auf. Das Bürgertum klatschte Beifall, auch haben die „G9jetzt!“-Initiativen stets eine Spitze gegen die Einheitsschule parat. Gemeint ist damit die böse DDR. Etwa wenn die schleswig-holsteinischen G9-Fans schreiben, die dortigen Gemeinschaftsschulen ließen sich „durchaus mit den Einheitsschulen der DDR vergleichen“. Zur Illustration wird auf einen Text über Margot Honecker verlinkt.
Dieser Protest der Eltern ist zäh und robust. Durch Fakten lässt er sich so gut wie nicht erschüttern. Dabei ist den Untersuchungen über das achtjährige Gymnasium Erstaunliches zu entnehmen. Fragt man die Abiturienten, welcher Weg zum Abitur der bessere ist, so antworten sie mit großer Mehrheit: das G9. Will man aber konkret wissen, wie es sich mit Leistungen, Stress und Zeit im G8 verhält, dann gibt es dieses Ergebnis: Weder sind die Noten durch das G8 schlechter geworden als im G9, noch ist die gesundheitliche oder zeitliche Belastung im 12-Klassen-Abitur gestiegen.
Dem Freitag liegen zum Teil unveröffentlichte Studien von zwei renommierten Forschungsgruppen vor. Diese haben G8 und G9 nüchtern verglichen, ihre Erkenntnisse sind so valide wie stabil. „Es konnten keine erheblichen Unterschiede zwischen G8 und G9 festgestellt werden“, lautet die Zusammenfassung von Jochen Kramer. Er leitet die Studie der Tübinger Abteilung für „Empirische Bildungsforschung und Pädagogische Psychologie“, welche die baden-württembergischen G8- und G9-Abiturienten wissenschaftlich befragte.
Die G8-Abiturienten schnitten zum Beispiel im Abitur nur um 0,07 Notenstufen schlechter ab als jene, die ein Jahr mehr Zeit hatten. Sie berichteten von einem „Belastungserleben“, das um 0,18 Stufen stärker war. Sie gaben gesundheitliche Beschwerden an, die um 0,06 Punkte über den G9ern lagen. Es finden sich lauter minimale Unterschiede. Bis auf einen: Die G8-Absolventen sind ein Jahr jünger als die des G9. Das war der Plan. Insofern ist die Mission G8 erfüllt.
„Wir haben in der Tendenz etwas mehr gesundheitliche Beschwerden bei den G8-Schülern gefunden“, sagt Kramer. Er schränkt aber ein, dass „die Unterschiede so gering waren, dass man sich fragen kann, ob sie praktisch bedeutsam sind. Und wir wissen auch nicht, ob sie auf das G8 zurückzuführen sind, denn es gab parallel noch andere Veränderungen wie die Umstellung der Lehrpläne.“
Die Tübinger Arbeitsgruppe untersuchte aber noch etwas anderes: Wie viel Zeit steht den G8-Abiturienten neben dem Unterricht zur Verfügung. Das ist die Gretchenfrage, die Eltern von G8-Schülern stets herausheben, wenn sie über das kürzere Abi klagen: Die Kinder haben für nichts mehr Zeit! Die Wahrheit der Forscher, die über 2.500 Abiturienten befragt haben, sieht anders aus. Die G8-Schüler hatten nach ihren eigenen Angaben tatsächlich weniger Zeit für ihre Freunde – eine halbe Stunde pro Woche, genau: statt 11,5 Stunden nur 11 Stunden. Sie hatten auch 15 Minuten weniger Zeit für Jobs. Aber für Orchester, Sport, Computer und ihre Eltern nahmen sie sich sogar mehr Zeit als ihre G9-Konkurrenten.
Diese Ergebnisse sind spektakular unspektakulär. Sie zeigen, dass es quasi keine Unterschiede gibt. Und dass Eltern offenbar über die Wirklichkeit des Achtjahresgymnasiums überhaupt nicht Bescheid wissen. Mehr noch, sie sind eine schallende Ohrfeige für alle, die das G8 für alles Übel der heutigen Abiturienten verantwortlich machen: Denn die Eltern fordern trotz dieser statistisch nicht signifikanten Differenzen einen kompletten Politikwechsel bei einer der größten Schulreformen, die es in Deutschland je gab.
Die deutsche Lieblingsschule
Die Frage lautet also: Warum empfinden Eltern das Abitur nach Klasse 12 als so viel belastender als ihre Kinder? Die Duisburg-Essener Forscherin Svenja Kühn hat Eltern befragt, deren Kinder in G8 und G9 lernten. Die sind mit überwältigender Mehrheit für das G9, und sie sind sehr sicher, dass dies die richtige Wahl ist. Aber sie geben auf eine Frage auch eine paradoxe Antwort. Wenn es das Gymnasium in der langen Form nicht gegeben hätte, wollten die Forscher wissen, wo würden Sie dann Ihr Kind hinschicken? Darauf antworten 75 Prozent der Eltern: Auf dasselbe Gymnasium, aber dann halt unter G8-Bedingungen. Kühn hat das überrascht. Sie schlussfolgert daraus: Die Tatsache, dass ihr Kind auf einem Gymnasium das Abitur macht, ist den Eltern viel wichtiger als die Frage, wie lange es dauert: „Vielleicht ist der Ruf vieler Eltern nach G9 eingebettet in eine gesamtgesellschaftliche Wahrnehmung von zunehmender Beschleunigung und Zeitdruck“, vermutet sie.
Aber solche Widersprüche spielen keine Rolle. „Die Leute wollen es nicht hören, dass ihre Schilderungen nichts mit dem G8 zu tun haben“, sagt ein Forscher. Bei den Befragungen sind erstaunliche Ergebnisse herausgekommen. Etwa, dass ehrgeizige Migranten das G8 wählen, weil sie darin gute Aufstiegschancen für ihre Kinder sehen. Interessiert die deutschen Eltern natürlich nicht. Oder dass parallele G8-G9-Züge für bildungsferne Schichten ein Ansporn sind, ihre Kinder das Abitur machen zu lassen. Wird von den deutschen Eltern ebenfalls abgetan. Sind die Wuteltern erst mal auf den Barrikaden, dann bleiben sie da. Der Protest hat sich von der Realität längst abgelöst. Es geht um das Gymnasium an sich.
In der Konrad-Adenauer-Stiftung untersucht man seit einigen Jahren mit sogenannten Milieustudien die Eltern genauer. Dabei wird die Blackbox Mittelschicht mithilfe von sogenannten Tiefeninterviews differenziert betrachtet. Dabei gibt es zwei Erkenntnisse: Bildung ist den Eltern der sozialen Mitte durchgehend wichtig. Das Bürgertum definiert sich durch Leistung, Eigentum und Bildung. Und: Die Präferenzen der sozialen Mitte unterscheiden sich in Bezug aufs Lernen stark.
Für die so „Etablierten“ ist die Frage nicht, ob sie ihre Kinder auf eine Privatschule schicken oder nicht. Die Frage ist: welche? Die „Postmateriellen“ wünschen sich einen ganzheitlichen Bildungsauftrag. „Expeditive“ sind bereit, ihre Kinder auf experimentelle Schulen zu schicken. Die „Hedonisten“ haben vor allem einen Wunsch: Bitte, Schule, erledige den Job für mich! „Performer“ basteln sich ihre Privatschule mit Zusatzkursen für die Kinder quasi selbst. Und die „bürgerliche Mitte“ hat wenig Lust, „gegen Strukturen zu intervenieren, die sich nicht ändern lassen“. Eigentlich. Das war nur bisher so. Jetzt hat es sich geändert. Und daran ist das G8 schuld. Die pädagogisch unbegründet gebliebene Verkürzung des Abiturs hat die Milieus der sozialen Mitte zusammengeschweißt.
Das Gymnasium ist nicht nur die Lieblingsschule der Mittelschicht. Sie gilt zugleich als Leistungsschule mit hohen Ansprüchen. Das betrachteten die Milieus bislang aus verschiedenen Perspektiven. Der Leistungsdruck auf die Kinder hatte aber keine kollektive politische Bedeutung, sondern führte allenfalls zu privaten Schulentscheidungen. Jetzt ist die Haltung eine gemeinsame: „Das „Turbo-Abi“ stellt eine Steigerung dieser Entwicklung dar“, klagen die „Expeditiven“. „Das G8 verstärkt die negativen Effekte des Schulsystem“, sagen die „Postmateriellen“. „Es bleibt noch weniger Zeit, um den notenrelevanten Stoff zu vermitteln“, schimpft die „bürgerliche Mitte“. Also selbst das unpolitische Milieu wendet sich gegen das G8.
Solange die Bildungskrise als Pisaschock, Ganztagsschule oder Tod der Hauptschule die Unterschichten betraf, war sie den bürgerlichen Eltern egal. In dem Moment aber, als die Politik die Axt ans Gymnasium legte, war auch für sie das Ende der Fahnenstange erreicht. Nun begehren sie auf, und das können sie besser als Hartz-IV-Empfänger oder Armutsmigranten.
Die Hamburger Initiative „Wir wollen lernen“ hat einst prototypisch gezeigt, wie gut die Mittelschichten die Klaviatur der politischen Beeinflussung beherrschen: Von der Gründung einer medial spektakulären und juristisch bissfesten Lobby über die Organisation eines Volksentscheids bis zum Unterlaufen der CDU haben die Eltern rund um den High-Society-Tribun Walter Scheuerl alles erfolgreich geschafft. Sieht man sich die politischen Motive der protestierenden Eltern genauer an, so sind sie das ideale Kampagnenthema für Freie Wähler und die Alternative für Deutschland. Die Freien Wähler in Bayern sind es auch, die gerade den CSU-Ministerpräsidenten mit einem Volksbegehren gegen das G8 jagen.
Kaum rationale Gründe
Diese Beweggründe zu verstehen, bedeutet aber nicht, sie rationaler erscheinen zu lassen. Im Gegenteil: So stark der Wunsch nach dem G9 auch sein mag, er wird nicht zu den erwarteten Ergebnissen führen. Verknöcherte und auf Rechtssicherheit starrende Kultusbürokratien sind das eine. Die andere notwendige Kehrseite dazu ist eine Elternschaft, die das Gymnasium als Erbhof betrachtet und bereit ist, gegebenenfalls jede Zeugnisnote vor dem Verwaltungsgericht zu überprüfen.
Jetzt zum Abitur in Klasse 13 zurückzukehren, wird auch von renommierten Schulforschern abgelehnt. Manfred Prenzel, Leiter der Pisastudien, spottete unlängst über das „Luxusproblem einer bestimmten sozialen Gruppe“ und warnte im Stern davor, dass „Eltern basisdemokratisch entscheiden, ob ihre Schule G8 oder G9 anbieten soll“.
Andere Forscher wie Svenja Kühn empfehlen, keinesfalls flächendeckend zum G9 zurück zu kehren. Beobachtungen in neu eingerichteten G9-Gymnasien zeigten ihr, „dass die Mehrheit der Lehrkräfte ihre Unterrichtspraxis durch die Einführung von G9-neu nicht verändert hat“. Auf deutsch: Die Reform zurück wäre wieder keine pädagogische Reform.
Die Rückkehr zum G9 wäre ein Akt bildungspolitischer Geisterfahrerei. Diese Rückkehr würde nämlich erneut rund zehn Jahre in Anspruch nehmen. Die ersten reinen G9-Abiturienten werden die Schulen erst 2022 verlassen. Vorher wird es ein Jahr lang so gut wie keine Abiturienten geben. Man freut sich schon auf die neuen Debatten in der Wahnsinnsrepublik: Etwa mit den Studienräten, die man gerade gezwungen hatte, das unpädagogische G8 einzuführen und jetzt um einen Salto rückwärts bittet. Oder mit den Unternehmern, die 2021 keine Azubis mit Abitur einstellen können.
Die Bildungsrepublik wird noch chaotischer, denn ihre Leitwährung, das Abiturzeugnis, wird keine Bindekraft mehr haben. Wir werden in einem Land leben, in dem sich Kleinstländer wie Berlin mit G7 finden. Aber auch innerhalb der Flächenländer wird der Umzug mit Schulkindern noch komplizierter. Es wird ein wenig wie in den 1870er Jahren in Deutschland sein, als Gymnasien, Realgymnasien und Oberrealschulen existierten – also Gymnasien erster, zweiter und dritter Klasse.
Tatsächlich gab es das, was wir heute erleben, schon einmal. 1890, die Zeiten waren ähnlich unentschlossen, ob sie Krise oder Aufbruch sein sollten, schrieb Julius Langbehn seinen Rembrandt als Erzieher. Sein Opus war keine Satire, sondern dröhnender Ernst. Der Mann suchte nach einer Bildung, die nicht schablonenhaft und oberflächlich war, sondern künstlerisch. Wie heute war der Mann getrieben von der Angst, dass die endemische Ausweitung des Abiturexamens auf alle möglichen Gruppen Hochschulreife wie Nation schwächen könnte. Daher die verzweifelte Rückkehr zu einem urdeutschen Erzieher, einem Helden der Kunst wie Rembrandt. Zwar war der gar kein Deutscher, aber er wurde in dieser vergeistigten Republik flugs zu einem. Langbehn forderte, wie die Eltern heute, mehr musisch-künstlerische Betätigung und wahre Persönlichkeitsbildung. Genau das alles findet im Jahr 2014 wieder statt, wenn Eltern zusammen mit linken bis ultrakonservativen Bildungsesoterikern vor dem Pisawahnsinn der US-amerikanisch und kapitalistisch gesteuerten OECD warnen.
Machen wir uns nichts vor. Die Abschaffung des G8 und Rückkehr zum reinen G9 wäre der Akt einer Wahnsinnsrepublik. Sie beruht auf falschen Tatsachen und resultiert aus der fatalen Liaison zwischen frustrierten Eltern und unfähigen Bildungspolitikern. Sie führt zu keinem Fortschritt, sondern macht 20 Jahre Abiturreform zu einem sinnlosen Hin und Her.
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